Ins Netz gegangen am 5.9.:
- „Die Gesellschaft profitiert von unserer Autonomie“ | FAZ → ein schönes, interessantes, kluges interview mit der historikerin barbara stollberg-rilinger
Die ganze Gesellschaft profitiert von der Autonomie der Wissenschaft. Die eigentliche Arbeit der Historiker ist meiner Ansicht nach von solchem bürgerrechtlichen Engagement zu unterscheiden. Indem man Geschichte nach historisch-kritischen Standards schreibt, leistet man ja schon Aufklärungsarbeit.
- Vorbild Frankfurt: Restaurative Schizophrenie| Merkur → ein sehr kluger und, trotz seiner klaren positionierung, unaufgeregter kommentar von philipp oswalt zur rekonstruktionsarchitektur wie der frankfurter “neuen altstadt” (schon der name ist in seiner ästhetischen grausamkeit ja bezeichnend)
Es ist eine Medienarchitektur, die aus technischen Bildern generiert nun vor allem der Erzeugung neuer medialer Bilder dient. Auch sonst ist die Architektur keineswegs so traditionell, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Der Rohbau besteht – von den wenigen Fachwerkhäusern abgesehen – aus Stahlbeton und Industrieziegeln, die Ausstattung umfasst Fußbodenheizung mit Fernwärme, Dreifachverglasung, mechanische Lüftung, modern geschnittene, offene Wohnküchen, umfangreiche Sanitärräume und meist einen direkten Zugang zu den privaten Stellplätzen in der zugehörigen Tiefgarage.
Nicht nur für die Bewohner, auch für die zeitknappen Ferntouristen aus Asien und Übersee ist die neue Altstadt die moderne Alternative, und so wird sie auch beworben.
[…]Ob iconic building oder Rekonstruktion historischer Bauten – beides sind symbolische Gesten zur Identitätskonstruktion, wie sie seit den 1990er Jahren in Mode gekommen sind.
[…] Der Staat hat sich aus der Fläche zurückgezogen, und die vorherige Kohäsionspolitik wurde durch einen Inselurbanismus abgelöst, bei dem große Bereiche der Stadt dereguliert und privatisiert werden, während an ausgewählten zentralen Orten kleine Inseln mit großer Kontrolltiefe beplant werden. […]Mit dem Zerfall einer im Alltag praktizierten Kohäsion ist die Aufwertung eines symbolisch-medialen Ersatzes umso wichtiger.
[…]Doch die Altstadt Frankfurt ist keine überzeugende Antwort auf die drängenden Fragen des heutigen Städtebaus, sie ist Teil des Problems.
- Im Rucksack: die Freiheit | Oliver B. Weber → ein interessanter essay über die spezifische form des reisens der gegenwärtigen backpacker und die daraus entstehende/erwachsende “globality”
Der Backpacker versteht sich als Zeitreisender. Er sucht die selige Vergangenheit in geographischer Ferne. Die Menschen, die darin leben müssen, begutachtet er mit einer ambivalenten Mischung aus Staunen und Herabsetzung. Immer seltener hingehen ist ein tatsächlich eintretender habitueller Positionswechsel des Beobachters. Woher kommt die häufige Blindheit gegenüber der tatsächlichen Welt, zu deren Entdeckung das Backpacking ja angetreten war?
- Sehnsucht nach Retrotopia | Zeit → ein kluger essay von nils markwardt über “Politisierung der Nostalgie” und die “Fetischisierung von Geschichte unter Ausblendung von Geschichtlichkeit”:
Im Angesicht der aktuellen Retromania besteht die Aufgabe darin, Geschichte als gleichermaßen bewussten wie progressiven Wiederholungsprozess, nicht als bloßes Abstauben der Vergangenheit zu verstehen.
- Da läuft etwas ganz schief | Forschung & Lehre → der erziehungswissenschaftler volker ladenthin hat genug von den mangelnden fähigkeiten und kenntnissen der aktuellen studierenden (ich bin mir nicht sicher, ob das in die kategorie “früher war alles besser” fällt oder ob es wirklich die realität trifft)
Die Studierenden sind überaus freundlich und kommunikativ, im Zwiegespräch sehr geschickt. Ebenso sind sie fleißig, gutwillig und konstruktiv: Aber es lässt sich ein entwicklungspsychologisches Problem feststellen. Auf Grund der kognitiven Entwicklung scheinen die Studierenden in den Anfangssemestern mehrheitlich nicht in der Lage, komplexe, antinomische und multikausale Prozesse, wie sie heute in allen Wissenschaften üblicherweise beschrieben werden, angemessen aufzunehmen und Vorgänge streng aspektgebunden oder multiperspektivisch zu betrachten.
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