Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Juli Zeh, Corpus Delicti

… habe ich gele­sen auf der Reise von Venedig zurück nach Mainz.

Ein The­sen­ro­man. Rein­sten Wassers. Und dur­chaus ober­ster Güteklasse. Aber eben mit all den typ­is­chen Prob­le­men — Man merkt die Absicht und ist ver­stimmt (oder so ähn­lich). Nun hielt sich die Ver­stim­mung bei mir extrem in Gren­zen, weil ich dem Ziel Zehs, dem freien statt dem sicheren Men­schen voll zus­timme und stark sym­pa­thisiere. Das ändert aber wenig daran, dass der Roman — der sich im Unter­ti­tel als “Ein Prozess” aus­gibt (Gerichtsver­hand­lung und Entwick­lung — natür­lich ist bei­des gemeint … [und diese abso­lut durch­schaubare Dop­peldeutigkeit ist typ­isch für das Buch {lei­der, meines Eracht­ens, den seman­tis­che Leer­stellen sind inter­pre­ta­tiv meis­tens deut­lich ergiebiger}, das kün­st­lerisch eher mit­telmäßig ist.]) Ok, die Infor­ma­tionsver­gabe ist ganz gut gelun­gen, sie entwick­elt sich halb­wegs ungezwun­gen (am Anfang freilich mit hohem Tem­po — und bewusst auf Klarheit der mes­sage aus­gerichtet).

Worum geht’s? Um einen Staat der Zukun­ft, in dem Nor­mal­ität als Gesund­heit definiert wird (bzw ander­srum) und Krankheit demzu­folge abgeschafft ist — gesellschaftlich und pri­vat. Das bedarf natür­lich einiger Vorkehrun­gen … Jeden­falls gerät die Haupt­fig­ur, eine Biolo­gin, mit diesen staatlichen Vorkehrun­gen, genan­nt die “Meth­ode”, in Kon­flikt. Und entwick­elt sich zur Wider­ständ­lerin auf sehr eige­nen Weise, zu ein­er Art Rev­o­lu­tionärin ohne Rev­o­lu­tion. Jeden­falls zu einem Prob­lem für die “Meth­ode”, dass mit allen Mit­teln gelöst und schließlich beseit­igt wer­den muss — nicht ohne einige Ver­wick­lun­gen natür­lich. Durch die Mon­tage ver­schieden­er Ebe­nen, u.a. auch die eines Putzfrauen-Trios, wird das ganz har­monisch in sein­er Viel­stim­migkeit und Per­spek­tiv­ität. Aber nichts­destotrotz bleibt die Botschaft klar: Ohne Frei­heit ist der Men­sch kein Men­sch mehr, ist das Leben keine Leben mehr, son­dern nur noch Exis­tenz. Die mag zwar sorgen‑, schmerz- & krankheits­frei sein, aber eben ohne Leben. Die Par­al­le­len zu aktuellen Diskus­sio­nen sind wohl mehr als zufäl­lig ;-). Und auch mehr als deut­lich … Das, es klang oben ja schon an, min­dert meine Begeis­terung für dieses Buch etwas: Dass die Phan­tasie zu wenig aus­gereizt wird, die Vorstel­lungkraft zu blass scheint — auch um den Preis der etwa unvol­lkomme­nen Ver­mit­tlung der zen­tralen Textbotschaft wäre das doch etwas span­nen­der gewe­sen. Für mich zumin­d­est. Aber man kann ja nicht immer alles haben.

Juli Zeh: Cor­pus Delic­it. Ein Prozess. Frank­furt am Main: Schöf­fling 2009.

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Deutscher Alltag, 9. Januar 2010

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venedig: erste eindrücke

  1. U

    Juli Zeh kann nicht gut sein. Ich habe sie bei ein­er sehr gut besuchen Lesung an der Mainz­er Uni vor eini­gen Jahren erlebt. Ich will seit­dem gar kein Buch von ihr lesen, denn ich fürchte, damit meine Zeit zu ver­schwen­den. Ich ver­ste­he nicht, warum sie in der Pres­se­land­schaft so hofiert wird. Ver­glichen mit dem Kri­tik­erver­sagens-Super-Gau Helene Hege­mann ist sie aber ver­mut­lich genial.

    Nun zur Rezen­sion der Rezen­sion: Du schreib­st am Anfang, das Buch sei “kün­st­lerisch eher mit­telmäßig”. Du erkennst also eine Ten­denz zum Mit­tel­maß. Dann schreib­st Du am Schluß davon, daß Deine “Begeis­terung” durch irgen­det­was gemindert werde. Soll das also heißen, du kannst Dich für das lit­er­arische Mit­tel­maß begeis­tern? Oder ver­wen­d­est Begeis­terung im Sinne von “eine gewisse Smyptahie für das an sich mit­telmäßige Buch”? U, der gnaden­lose, inves­tiga­tive Rezensen­ten­rezensent

    • @U: genau das kün­st­lerische mit­tel­maß min­dert die begeis­terung. ist eigentlich ein schönes beispiel dafür, dass ein buch mehr ist als sein “inhalt”. hier halt nicht so sehr: also eigentlich, um mich als kunst­werk zu begeis­tern, mehr sein sollte als “inhalt”. der inhalt, die über­legun­gen, die zeh in und mit dem roman anstellt und ver­bre­it­en will, finde ich gut. die umset­zung als roman auch eine schöne möglichkeit, das etwas mehr zu ver­bre­it­en. den roman als kunst­werk kann ich nicht gut find­en, das wider­strebt meinen hohen ästhetis­chen maßstäben und meinen uner­schüt­ter­lichen grund­sätzen ;-)

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