Herrscher der Bagatellen | SZ → Ein schönes feuilleton (eine “liebeserklärung” von reinhard brembeck über die kraft der klassischen musik, zufallsbegegnungen, bagatellen und aktives hören (und über widor auf der orgel)
Ein ähnlicher Fall ist die “Pause”, das vorletzte Stück aus dem “Carnaval” von Robert Schumann. […] Nur wer den Titel “Pause” kennt, vermag seine Ironie im Verein mit dieser atemlosen Musik zu empfinden, die das Pausen-Verständnis des heutigen durchdigitalisierten Globalmenschen besser beschreibt als jeder Leitartikel.
Heartfield Online | AdK → sehr schön: die akademie der künste hat dne grafischen nachlass von john heartfield online gestellt (und ganz nett aufbereitet) — eine wahre fundgrube
Hans Jürgen von der Wense: Über das Stehen. Hrsg. von Reiner Niehoff. Berlin: blauwerke 2014 (splitter 02). 76 Seiten. ISBN 978–3‑945002–01‑8. Hans Jürgen von der Wense: Die Schaukel. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Reiner Niehoff. Mit einer Lektüre von Valeska Bertoncini. Berlin: blauwerke 2016 (splitter 08). 52 Seiten. ISBN 9783945002087.
Das sind zwei (sehr) kleine Texte — Essays wohl am besten zu nennen — die sich auf den ersten Blick ganz unterschiedlichen Themen widmen: Über das Stehen widmet sich der Statik (des Menschen), Die Schaukel dagegen einem Ding, das wie kaum ein anderes Bewegung vergegenständlicht.
Natürlich stimmt der Gegensatz bei Hans Jürgen von der Wense so eigentlich gar nicht. Das merkt man schon, wenn man den ersten Satz in Über das Stehen liest:
Stehen ist eine bewegung; es ist schwanken und wanken, um sich im gleichgewichte zu halten, aufrecht.. Stehen ist eine lage. (13)
Dem folgt ein manchmal meines Erachtens etwas ausfasernder Essay über das Stehen, der mich vor allem in seinen weltetymologischen Abschnitten nicht immer gleichermaßen faszinieren konnte. Trotzdem ein schönes “Groschenheft des Weltgeistes” — so nennt der kleine, rührige blauwerke-Verlag seine splitter-Reihe, die im kleinen Notizheftformat kleine Texte mit viel zusätzlichem (Archiv-)Material vorbildlich ediert und zu wohlfeilen Preisen (nämlich jeweils 1 Euro) zugänglich macht. Auch diese beiden Wense-Essays haben jeweils ein einführendes Vorwort von Reiner Niehoff, das unter anderem über Entstehungszusammenhänge und Publikations- bzw. Überlieferungsgeschichte berichtet, und ein einordnendes, erklärendes “Nachwort” von Valeska Bertoncini, das als “Lektüre” fungiert.
Das gerade erst erschienen Heft Die Schaukel bietet einen recht kurzen Wense-Text von wenigen Seiten, der sich — quasi kulturgeschichtlich avant la lettre — mit dem Gegenstand, dem Ding “Schaukel” und vor allem seinen Bedeutungen und Implikationen für den Menschen (ob er nun schaukelt, anstößt oder zuschaut …) befasst. Auch eine sehr vergnügliche, kluge und bereichernde Lektüre. Denn an der Schaukel fasziniert Wense offenbar die Gleichzeitigkeit bzw. dingliche Identität von Bewegung und Ruhe, von der Möglichkeit, bei sich selbst zu sein und zugleich über sich hinaus zu gelangen:
Schaukeln ist Mut-Wille. Es ist Entfernen, Abweichen von der Mitte, dem Ruhe-Punkte, Ab-Fall. (23)
Das Meer ist ein alter Bekannter, der warten kann ist ein interessanter Gedichtband. Nicht nur des schönen Titels wegen. Und auch nicht nur der graphischen Ausstattung wegen. Sondern vor allem wegen der schöpferischen Kraft, die Starcke aus letztlich einem Theman, einem Gegenstand entwickelt: Dem Meer. Denn darum geht es in fast allen Gedichten. Und trotz der monothematischen Anlage des Bandes — neben dem Meer spielen Sand, Wolken und der hohe Baum vor dem Haus noch eine gewisse Rolle –, der erstaunlich engen Fixierung auf einen Ort und eine Position des Betrachters und Schreibenden ist das alles andere als langweilig. Eine Rolle spielt dabei sicherlich die vergehende Zeit, deren Lauf man beim Lesen des Bandes gewissermaßen nachvollziehend miterleben kann.
Man ist dabei, sozusagen, alleine mit dem Meer. Menschen kommen nämlich recht selten (wenn überhaupt vor). Das Meer selbst ist in diesen Gedichten vor allem als instabile Stabilität, als dauerhafter Wandel, als vergehende/bewegte/bewegende/fortschreitende Zeit präsent. Auch wenn oft ein recht prosaischer Duktus vorherrscht, kaum Sprachspiele oder ausgefallene, gesuchte Bilder zu entdecken und entschlüsseln sind, ist das dennoch gerade in den Details oft sehr spannend, in den kleinen Abweichungen, den minimalen Störungen und poetischen Signalen (etwa bei der Wortstellung, der Kommasetzung, der (unterbrochenen) Reihung). Fast jedes Gedicht hat einen Moment, einen (Teil-)Satz, der besonders berührt, der besonders die Intensität (des Erlebens vor allem) ausstrahlt. Als „wegzehrung der erinnerung“ (56) sind die Gedichte aber immer auch ein Versuch, die Vergänglichkeit festzuhalten.
Viele dieser Meer-Gedichte funktionieren dabei wie ein „inneres fernglas“ (56): der Blick auf die Landschaft der Küste (ich glaube, das Wort “Küste” kommt dabei gar nicht vor, nur Meer, Sand, Wolken und Himmel als Elemente des Übergangsraums) ermöglicht und fördert den Blick nach innen, mit dem gleichen Instrumentarium, das zugleich das große, weite Panorama erfasst und das kleine, maßgebliche Detail. Und obwohl es oft um Vergänglichkeit und Abschied geht, um Ort- und Heimatlosigkeit, bleibt den Gedichten eine auffällige Leichtigkeit eigen: Die Sprache bleibt locker, die Bilder beweglich, das Syntaxgefüge flexibel, die Begriffe immer konkret: „sie [d.i. die geschichten vom meer] lieben das offene / im verborgenen.“ (47) heißt es einmal — und damit ist Methode Starckes in Das Meer ist ein alter Bekannter, der warten kann als Motto ziemlich genau beschrieben.
vielleicht, dass sich unterm meer ein weiteres meer versteckt wie erinnerungen im sand der gedanken, die, für geheimnisse offen, momente von stille verkörpern. an seinen geräuschen, schlussverse (72)
Juli Zeh: Unterleuten. München: Luchterhand 2016. 508 Seiten.
Juli Zehs Unterleuten hält sich zwar hartnächkig auf der Bestseller-Liste, ist aber eigentlich ein eher langweiliges, unbemerkenswertes Buch. Das ist routiniert erzählt und kann entsprechend mit unbeteiligter Neugier ohne nachhaltigen Eindrcuk gelesen werden. Vieles in dem Plot — den ich jetzt nicht nacherzähle — ist einfach zu absehbar. Dazu kommt noch ein erzählerisches Problem: Der Text wird mir permanent erhobenem Zeigefinger erzählt, bei jeder Figur ist immer (und meist sofort) klar, was von ihr zu denken ist — das wird erzählerich überdeutlich gemacht. Dazu eignet sich der wechselnde erzählerischere Fokus der auktorialen Erzählerin natürlich besonders gut. Das Schlusskapitel, in dem sie (bzw. eine ihrer Instanzen) als Journalistin, die Unterleuten recherchiert hat, auftritt und die Fäden sehr unelegant zum Ende führt, zeigt sehr schön die fehlende künstlerische/poetische Imagination der Autorin: Das ist so ziemlich die billigste Lösung, einen Schluss zu finden — und zugleich auch so überaus unnötig … Andererseits hat mich die erzählerische Anlage schnell genervt, weil das so deutlich als die einfachste Möglichkeit erkennbar wir, alle Seiten, Positionen und Beteiligten des Konflikts in der Pseudo-Tiefe darzustellen.
„[E]ine weitreichende Weltbetrachtung, einen Gesellschaftsroman mit einer bestechenden Vielfalt literarischer Tonlagen, voller Esprit und Tragik, Ironie und Drastik“, die Klaus Zeyringer im „Standard“ beobachtet hat, kann ich da beim besten Willen nicht erkennen. (Jörg Magenau hat die „Qualitäten“ des Romans in der “Süddeutschen Zeitung” besser und deutlicher gesehen.) Letztlich bleibt Unterleuten ein eher unspannender Dorfkrimi, der sich flott wegliest, (mich) aber weder inhaltlich noch künstlerisch besonders bereichern konnte. Schade eigentlich.
Auch :nachkommen nacktkommen ist wieder so ein Zufallsfund, bei dem ich dem Verlag — hochroth — vertraut habe … Sophie Reyers Gedichte sind knapp konzentrierte Kurzzeiler, die oft abgründig leicht sind, aber immer sehr auf den Punkt gedacht und formuliert sind — beziehungsweise auf den Doppelpunkt als Grenze und Übergang, der den Beginn aller Gedichte zeichenhaft markiert. Immer wieder fallen mir die kühnen, wilden, ja geradezu überbordenden und überschießenden Bilder auf, die jeglicher sprachlicher Ökonomie Hohne sprechen und die, so scheint es mir, manchmal auch einfach nur um ihrer selbst willen da sind. Außerdem scheint Reyer eine große Freude am Spiel mit Assonanzen und Alliterationen zu haben. Überhaupt ist vielleicht das Spiel, der spielerische Umgang mit Sprache und Einfällen trotz der Themen, die einen gewissen Hang zum Dunkeln aufweisen, besonders bezeichnend für ihre Lyrik.
Manches wirkt in :nachkommen nacktkommen auch eher wie das spontane Notat einer Idee, wie eine Einfallsskizze im Notizbuch der Autorin und noch nicht wie ein fertiges Gedicht. Zweizeiler wie der auf S. 27 zum Beispiel:
die kursivschrift des kornfelds sonnen strahlen stenographie
Interessant fand ich bei der Lektüre auch, dass Takt und Rhythmus der Lyrik wiederholt (im Text selbst) anzitiert werden, durch die Texte aber nur sehr bedingt (wenn überhaupt) umgesetzt werden. Vielleicht kommt daher auch der Eindruck der Spontanität, des augenblicklichen Einfalls …
:nachkommen nacktkommen ist dabei ein typisches kleines hochroth-Bändchen — ich mag das ja, ich brauche nicht immer gleich 80–100 Seiten Lyrik von einer Autorin, es reichen oft auch 20, 30 (kleinere) Texte. Und die Kaufhürde ist auch nicht so hoch, wenn das nur 8 Euro statt 25 sind … Zudem sind die hochroth-Publikationen eigentlich immer schön gemacht, liebevoll und umsichtig gestaltet. Die hier ist die erste, bei der mir typographische Fehler aufgefallen sind — ein nach unten „fallendes“ l, das ich auf sechs Seiten ziemlich wahllos verstreut gefunden habe (aber wer weiß, vielleicht ist das ja auch ein geheimes feature der Texte, das sie auch ganz geschickt mit dem Paratext verbindet?).
Wolf von Kalckreuth: schlummerschwarze Nächte. Gedichte. Leipzig: hochroth 2015. 26 Seiten. ISBN 978–3‑902871–67‑1. Wolf Graf von Kalckreuth: Gedichte und Übertragungen. Herausgegeben von Hellmut Kruse. Heidelberg: Lambert Schneider 1962. 190 Seiten.
Über die schmale Auswahl beim feinen hochroth-Verlag bin ich eher zufällig auf die Lyrik Wolf von Kalckreuths gestoßen. Kalckreuth ist gewissermaßen eine tragische Figur: 1887 in eine Militär- und Künstlerfamilie geboren, setzt er seinem Leben bereits 1906 ein Ende. Bis dahin war er in der Schule, hat sein Abitur gemacht, ist etwas gereist und dann — trotz eigentlicher Nicht-Eignung — im Oktober 1906 auf eigenen Wunsch ins Militär eingetreten, wo er es keine zehn Tage bis zu seinem Freitod aushielt. In dieser kurzen Lebenszeit entstanden aber nicht nur eigene Gedichte, sondern auch diverse (wichtige) Übersetzungen der Lyrik Verlaines und Baudelaires.
Erstaunlich ist in seinen Gedichten immer wieder die ausgesprochen sichere (handwerkliche) Sprach- und Formbeherrschung trotz des jungen Alters. Nicht immer und nicht alles ist wahnsinnig originell, vieles ist sehr deutlich einer späten Spätromantik verhaftet, die aber durch die mal mehr, mal weniger zaghaften Einflüsse des Expressionismus interessant wird. Viele seiner Gedichte pendeln sich gewissermaßen in der Dialektik von Verfall und Sehnsucht ein. Und aus ihnen spricht auch immer wieder das Bewusstsein um die eigene (Ver-)Spätung, um Endzeit, Untergang, vor allem aber Sterbenswunsch und Todessehnsucht etc. — nicht ohne Grund spielen die Dämmerung (und natürlich die Nacht), der Abend und der Herbst eine große Rolle in diesen Gedichten.
Aber was mich wirklich am meisten fasziniert hat, war doch die sorgsame Fügung der Gedichte, gerade der Sonette, die nahe an perfekte Gedichte heranreichen. Die hochroth-typisch sehr kleine Auswahl — 26 Seiten inkl. Nachwort! — hat mich dann immerhin neugierig gemacht und mich zu der deutlich umfangreicheren Auswahl von 1962 greifen lassen. Da finden sich natürlich auch wieder viele faszinierende Sonette, aber auch interessante und anregende Gedichte, eigentlich ja Elogen, auf Napoleon, den Kalckreuth wohl sehr bewunderte. Und schließlich enthält der Band auch noch eine umfangreiche Abteilung mit Übersetzungen der Lyrik Verlaines und Baudelaires, beide auch wesentliche Vorbilder und Einflüsse Kalckreuths.
Das Leben eilt zum Ziele wie eines Weltstroms Flut Die uns ins Meer entführt mit dunklen Wogenmassen, In schwindelhafter Hast, die nie entschlummernd ruht, Bis wir das eigne Herz erkennen und erfassen. (72)
Annette Pehnt: Hier kommt Michelle. Ein Campusroman. München: Piper 2012. 140 Seiten. ISBN 9783492300827.
Eine nette kleine Satire — das heißt, ein scharfer und bissiger Text, der das deutsche Universitätssystem und ‑leben, insbesondere aber die zeitgenössische Studierendengeneration gekonnt aufspießt. Nur notdürftig fiktionalisiert, bekommen so ziemlich alle ihr Fett weg: Die Studierenden, die Lehrenden vom akademischen “Unterbau” über den Mittelbau bis zu den vertrottelten Emeriti, von der Verwaltung bis zur Presse und Politik. Selbst die Hauptfigur, Michelle, ist so überhaupt nicht liebenswert, sondern — natürlich als Zerrbild — eher ein abschreckendes Beispiel der Ziel- und Vernunftlosigkeit als ein Identifikationsangebot für den Lesen. Sehr schön fand ich den erzählerischen Kunstgriff, dass sich die Erzählerin selbst mit ihrer eigenen Stimme wiederholt einmischt und sich und ihren (?) Text im Text selbst gleich mitkommentiert (auf die eher unwitzige Herausgeberfiktion hätte ich dafür gerne verzichten können).
Hier ist die Erzählerin. Sie reibt sich die Hände, weil sie dieses harmlose Mädchen mit groben Strichen entworfen hat und sich jetzt schon, wo die Erfindung doch gerade erst zu leben begonnen hat, darauf freut, ihr Knüppel zwischen die Beine zu werfen. (13)
Trotz einiger handwerklicher Mängel wie etwa einem schlecht gearbeiteten Zeitsprung oder einer etwas ungefügen Makrostruktur ist Hier kommt Michelle einfach nett zu lesen, aber halt auch — der Umfang verrät es ja schon — recht dünn. Der Witz ist eben schnell verbraucht, die Unterhaltung trägt auch nicht viel länger. Zum Glück hat Annette Pehnt das nicht übermäßig ausgewalzt, denn viel mehr als diesen kleinen Text gibt die Grundidee alleine wohl nicht her.
Das war auch eine wichtige Lektion: Nicht alles geht sie etwas an, es ist gut, allzu fremden oder schwierigen Zusammenhängen nicht auf den Grund zu gehen, man muss sich zurückhalten und sich auf das beschränken, was man kennt und kann, und das gilt auf jeden Fall auch für das Studium in Sommerstadt, das Michelle nun mit neuem Elan, aber auch einer Reife angeht, die sie schon am zweiten Tag befähigt, zum Junganglisten zu gehen und zu fragen, ob er sie brauchen kann. (120)
außerdem gelesen:
Philipp Tingler: Juwelen des Schicksals. Kurze Prosa. Zürich: Kein und Aber 2005.
Georges Bataille: Der große Zeh. Hrsg. & übers. von Valeska Bertoncini. Berlin: blauwerke 2015 (splitter 01). 80 Seiten.
Ihr kommt hier nicht rein! Was passiert, wenn die Philosophen Kant, Adorno und Derrida über Asylpolitik reden? Mit Seehofer und Heidegger? Es wird ein Drama.
Vielleicht ist das Konzept ewiger Qualen im Jenseits synonym mit einer millionenfachen Leserschaft, die ein Einzelwerk und das darin noch immer wie ein windgeschütztes Flämmchen weiterlebende Bewusstsein eintauchen lässt in die geballte Deutungswucht der Menschheit.
Wenn ein Mozart schlecht aufgeführt wird, gibt man dem Dirigenten die Schuld – denn alle kennen das Stück und wissen, wie es eigentlich klingen müsste. Wenn aber ein Nono schlecht aufgeführt wird, halten die meisten den Komponisten für schlecht.
Nett auch der Seitenhieb auf Thomas Mann (wegen der Kontroverse um den “Doktor Faustus”):
Aber ich glaube, hätte er sich nicht so über Thomas Mann ärgern müssen, hätte er länger gelebt.
Überhaupt liegt der Protest quer zu allen Lagern und Nationalitäten. Die Konfliktlinie ist trotzdem völlig klar: Bürger gegen Institutionen. Und nicht nur Bürger gegen Staat, es geht auch um Konzerne. Es geht um den Konflikt zwischen dem Einzelnen und der absoluten Macht unter den neuen Bedingungen des Informationszeitalters.
#4 Emckes Expeditionen: Ich wähle | ZEIT ONLINE — Caroline Emcke hat wieder einen tollen Text in ihrer Expeditionen-Reihe geschrieben. Heute geht es darum, ob Nichtwählen eine valide Position sein kann — sie ist da ganz klar, und ganz auf meiner Linie: “Das ist Bullshit.” Und sie zeigt auch sehr plastisch und drastisch, warum das so ist:
Die These von der Austauschbarkeit und Verwechselbarkeit der Parteien und ihrer Programme ist so hanebüchener Unfug, dass der Verdacht aufkommen kann, die Wahlkampfmanager der CDU hätten sie in Umlauf gebracht. Wer den Status quo erhalten will, braucht nur zu behaupten, diese Wahlen machten keinen Unterschied oder, schlimmer noch: Wählen oder Nichtwählen mache keinen Unterschied. Das ist nicht nur sachlich falsch, sondern auch politisch obszön.
Ich passte nie ganz zu meiner Umgebung — taz.de — Ina Hartwig hat für die taz den besten Nachruf auf Marcel Reich-Ranicki geschrieben, den ich (bisher) gelesen habe: kritisch, ohne gemein zu sein; bewundernd, ohne zu vergöttern; detail- und faktenreich, ohne zu belehren. Und sie trifft, wie mir scheint, ziemlich genau den Kern von Reich-Ranickis Kritikertätigkeit (also genau das, was ihn mir immer etwas unsympathisch bzw. unwichtig machte):
Auch theorielastiger Literatur gegenüber, etwa Robert Musils “Mann ohne Eigenschaften”, zeigte er sich nicht sehr aufgeschlossen. Alles, was sich Avantgarde nannte oder vermeintlich unsinnlich auf ihn wirkte, prallte an Reich-Ranicki geradezu lüstern ab. In Zuspitzung und Abwehr war er ein Meister, immer bereit, sich um der Pointe willen dümmer zu stellen, als er war.
Gegen Schluss weist sie noch auf etwas anderes Treffendes hin:
Seit Alfred Kerr hat es in Deutschland keinen derart populären Kritiker gegeben wie ihn, Marcel Reich-Ranicki. Nicht ausschließlich subtiler Geschmack, nicht unbedingt ästhetischer Wagemut haben Marcel Reich-Ranickis unglaublicher Karriere den Weg gewiesen, sondern sein schier ungeheurer Fleiß, seine Brillanz und der unbedingte Wille, Einfluss zu nehmen auf das literarische Geschehen in Deutschland, vor allem aber seine polarisierende, geschickt vereinfachende Rhetorik. Sein einzigartiges Temperament wusste alle Medien seiner Epoche zu bedienen, Radio, Zeitung, Buch und Fernsehen.
— diese Medienvirtuosität ist sicherlich ein wichtiger Bestandteil Reich-Ranickis gewesen.
Ich glaube nicht, dass die Leute das wirklich denken. Das sagen sie, damit man sie mit dem Problem in Ruhe lässt. Wenn man jemanden sagt: Gib mir mal deine Festplatte und lass mich kurz deine E‑Mails durchlesen, dann bekommt doch jeder ein mulmiges Gefühl. Die meisten möchten doch nicht einmal, dass die Partnerin oder der Partner die eigenen Mails liest, weil wir nämlich wohl etwas zu verbergen haben. Nicht ein Verbrechen, sondern einfach nur das, was man Privatsphäre nennt. Ein intimer Raum, der uns immer latent peinlich ist und den wir schützen. Ich denke, wer nichts zu verbergen hat, der hat bereits alles verloren.
Und später:
Ohne Geheimnisse gibt es kein Ich. Man verliert dann im Grunde sich selbst.
Polit-Talkshows von ARD und ZDF: Objektiv und unparteilich war gestern | Magitek — ein Blog. — Sven hat sich die parteipolitische Zugehörigkeit der Gäste in den Talkshows von ARD & ZDF angeschaut — mit eher unangenehmen Folgen (früher hieß es immer — und wurde z.B. von Kepplinger auch empirisch mehr oder weniger bestätigt, die öffentlich-rechtlichen Medien hätten eine linksliberale Tendenz. Hier ist das sehr offensichtlich sehr anders.): Polit-Talkshows von ARD und ZDF: Objektiv und unparteilich war gestern
Jakob van Hoddis: Gedichte. Berlin: hochroth 2009. 22 Seiten.
Einige von den bekannten — und von mir bewunderten und geliebten — Texten des Expressionisten Jakob van Hoddis, sehr schön und geschmackvoll als kleine Broschüre gedruckt und mit einer ansprechenden Graphik von Uwe Meier-Weitmar versehen. Mehr muss ich dazu nicht sagen …
Juli Zeh: Treideln. Frankfurter Poetikvorlseungen. Frankfurt: Schöffling 2013. 197 Seiten.
Juli Zeh wird zur Poetikvorlesung gebeten, verweigert sich und schreibt dann doch so etwas ähnliches wie eine Poetik — in Form von verschiedenen Mails an ihr Umfeld — ihren Mann, ihren Verleger und befreundete Autoren mit ein paar dazwischengestreuten E‑Mails an die Abfallberatung (sie braucht unbedingt eine zweite blaue Tonne, um der Mengen in ihrem Haushalt produzierten Altpapiers Herr zu werden …) und das Finanzamt. Darin entwickelt sie dann zwar keine regelgerechte Poetik, zeigt aber eben gerade in ihrer Ablehnung (der Möglichkeit) einer Poetik und dem allmählichen, tastenden Entwickeln eines Romanprojekts, wie ihre Poetik aussieht und/oder zu verstehen ist. Und nebenbei räumt sie gleich noch mit ein bisschen Unsinn auf — zum Beispiel der absurden Frage “Was will uns der Autor damit sagen?” oder den blöden Interviewfragen der Medien oder dem Gespenst der politischen Autorin. Sehr amüsant und lehrreich zugleich.
Poetikvorlesung? Kommt nicht in Frage. Ich bin doch nicht mein eigener Deutsch-Leistungskurs. Ohne mich.
Etwas trocken in der Sprache und konstruiert im Plot für meinen Geschmack, hat Tiertage aber immerhin einen erheblichen Unterhaltungswert: Die Verbindung von “Fabel” (oder so ähnlich, mit den sprechenden und handelnden Tieren) und realistischem Roman hat durchaus einen gewissen Reiz.
Urs Allemann: schoen! schoen!. Basel, Weil am Rhein: Urs Engeler Ditor 2003. 72 Seiten.
“Silbenschutt” — nun gut, nicht ganz. Aber der einführende Zyklus “Noch lange nicht tot. Elegien, Oden, Gesänge” ist schon ein Abbruchunternehmen in der Sprache — aufgesprengte Sätze, einzelne Teile, die kein Ganzes mehr geben — das hinterlässt mich erst einmal etwas ratlos. Manchmal gibt es “schöne” Momente, in denen die Fugen der Bruchstücke anfangen zu tanzen
Vom Auge tropfe was es zu sehen schien
— aber das sind wenige, vieles berührt mich kaum oder gar nicht … Endgültiges Urteil bis zur Re-Lektüre vertagt.
Hans Joachim Schädlich: Kokoschkins Reise. Reinbek: Rowohlt 2010. 191 Seiten.
Trocken-lakonischer Bericht eigentlich einer Nostalgiker-Reise: Ein russischer Emigrant, der St. Petersburg 1918 nach der Revolution als Junge mit seiner Mutter verließ, kehrt zurück an die Stätten und Erfahrungen seiner Kindheit und Jugend, in Russland und Deutschland — und erzählt bzw. berichtet das seiner Reisebegleitung, eingebettet in die Schiffsreise über den Atlantik zurück in die USA, wo er lebte. Das gibt dem Autor viel Möglichkeit, die Grausamkeiten, Inkonsequenzen und Unsinnigkeiten der Novemberrevolution in Erinnerung zu rufen — in dem etwas larmoyant-nostalgisch-erinnerungsseligen Ton der snobistischen Altherrenprosa, die sich in die gute alte Zeit zurückwünscht — das zaristische Russland des 19. Jahrhunderts.
Treideln — Wie man eine Poetikvorlesung ablehnt und trotzdem schreibt — die Frankfurter Poetikvorlesungen werden zunehmend performativ (und spannend …)
Poetikvorlesung? Kommt nicht in Frage. Ich bin doch nicht mein eigener Deutsch-Leistungskurs. Ohne mich.
Aufstieg der Zeitzeugen | Medien im Geschichtsunterricht — Daniel Bernsen weist darauf hin, dass der Begriff “Zeitzeuge(n)” ein recht neuer ist — und zeigt, dass er im Deutschen, anders als im Französischen und v.a. im Englischen, eine Neuschöpfung der 1970er/1980er Jahre ist
Claudio Abbado: Der Fluss des Ganzen | ZEIT ONLINE — Julia Spinola spricht — aus Anlass seines 80. Geburtstags — mit dem wunderbaren Claudio Abbado. Und der erklärt (wieder) mal ganz gelassen, was so großartig und wichtig an der Musik ist:
Die Magie eines lebendigen musikalischen Augenblicks lässt sich nicht durch dirigentische Kommandos erzwingen. Sie ereignet sich, oder sie ereignet sich eben nicht. Das ist etwas ganz Zartes, Fragiles. Dafür muss der Dirigent mit dem Orchester zunächst einmal eine Atmosphäre der Offenheit schaffen, ein wechselseitiges Vertrauen. Darin besteht seine Führungsarbeit. Und man muss lernen, einander zuzuhören. Das Zuhören ist so wichtig. Im Leben wie in der Musik. Eine Fähigkeit, die immer mehr verschwindet. […]
Die Musik zeigt uns, dass Hören grundsätzlich wichtiger ist als Sagen. Das gilt für das Publikum genauso wie für die ausführenden Musiker. Man muss sehr genau in die Musik hineinlauschen, um zu verstehen, wie sie zu spielen ist.
… habe ich gelesen auf der Reise von Venedig zurück nach Mainz.
Ein Thesenroman. Reinsten Wassers. Und durchaus oberster Güteklasse. Aber eben mit all den typischen Problemen — Man merkt die Absicht und ist verstimmt (oder so ähnlich). Nun hielt sich die Verstimmung bei mir extrem in Grenzen, weil ich dem Ziel Zehs, dem freien statt dem sicheren Menschen voll zustimme und stark sympathisiere. Das ändert aber wenig daran, dass der Roman — der sich im Untertitel als “Ein Prozess” ausgibt (Gerichtsverhandlung und Entwicklung — natürlich ist beides gemeint … [und diese absolut durchschaubare Doppeldeutigkeit ist typisch für das Buch {leider, meines Erachtens, den semantische Leerstellen sind interpretativ meistens deutlich ergiebiger}, das künstlerisch eher mittelmäßig ist.]) Ok, die Informationsvergabe ist ganz gut gelungen, sie entwickelt sich halbwegs ungezwungen (am Anfang freilich mit hohem Tempo — und bewusst auf Klarheit der message ausgerichtet).
Worum geht’s? Um einen Staat der Zukunft, in dem Normalität als Gesundheit definiert wird (bzw andersrum) und Krankheit demzufolge abgeschafft ist — gesellschaftlich und privat. Das bedarf natürlich einiger Vorkehrungen … Jedenfalls gerät die Hauptfigur, eine Biologin, mit diesen staatlichen Vorkehrungen, genannt die “Methode”, in Konflikt. Und entwickelt sich zur Widerständlerin auf sehr eigenen Weise, zu einer Art Revolutionärin ohne Revolution. Jedenfalls zu einem Problem für die “Methode”, dass mit allen Mitteln gelöst und schließlich beseitigt werden muss — nicht ohne einige Verwicklungen natürlich. Durch die Montage verschiedener Ebenen, u.a. auch die eines Putzfrauen-Trios, wird das ganz harmonisch in seiner Vielstimmigkeit und Perspektivität. Aber nichtsdestotrotz bleibt die Botschaft klar: Ohne Freiheit ist der Mensch kein Mensch mehr, ist das Leben keine Leben mehr, sondern nur noch Existenz. Die mag zwar sorgen‑, schmerz- & krankheitsfrei sein, aber eben ohne Leben. Die Parallelen zu aktuellen Diskussionen sind wohl mehr als zufällig ;-). Und auch mehr als deutlich … Das, es klang oben ja schon an, mindert meine Begeisterung für dieses Buch etwas: Dass die Phantasie zu wenig ausgereizt wird, die Vorstellungkraft zu blass scheint — auch um den Preis der etwa unvollkommenen Vermittlung der zentralen Textbotschaft wäre das doch etwas spannender gewesen. Für mich zumindest. Aber man kann ja nicht immer alles haben.
Juli Zeh: Corpus Delicit. Ein Prozess. Frankfurt am Main: Schöffling 2009.