Wenn einen mal wie­der die Ver­zweif­lung packt ob der vie­len Into­le­ran­zen und Unge­rech­tig­kei­ten unse­rer Gesell­schaft heu­te, hilft es manch­mal ein biss­chen in die Ver­gan­gen­heit zu schau­en. Nicht um zu resi­gnie­ren und das Ziel der Gleich­heit und Gerech­tig­keit aus den Augen zu ver­lie­ren (nach dem Mot­to: Frü­her war es ja noch viel schlim­mer), aber um zwi­schen­durch mal wie­der zu rea­li­sie­ren, wie sehr sich die bun­des­re­pu­bli­ka­ni­sche Gesell­schaft in ihrem Bestehen doch gewan­delt hat und immer wie­der und wei­ter wan­delt. Mir ist das gera­de wie­der auf­ge­fal­len, als ich eini­ge frü­he Jahr­gän­ge der Zeit­schrift „Die Neue Poli­zei“ durch­blät­ter­te – ein bay­ri­sches (spä­ter süd­west­deut­sches) Maga­zin für die Ange­hö­ri­gen der Poli­zei­kräf­te. Neben aller­lei tech­ni­schen Kurio­si­tä­ten fällt da näm­lich immer wie­der auf, wie unge­hemmt in den 1950ern noch aus­ge­grenzt wur­de. Viel­leicht – man­ches deu­tet dar­auf hin – sind die Bay­ern dabei beson­ders stark, und sicher­lich spie­gelt eine Poli­zis­ten-Zeit­schrift auch nicht unbe­dingt immer die Mehr­heit der Gesell­schaft wie­der. Aber vie­les ist ein­fach erschre­ckend. Zum Bei­spiel, wie stark sich der Dis­kurs über „Zigeu­ner“ und „Fah­ren­des Volk“ noch aus den Argu­men­ten der 1920er und 1930er – aus der Zeit stamm­ten auch die ent­spre­chen­den Geset­ze – her­lei­tet. Und wie die Autoren über­haupt nicht sehen, dass die­se „Son­der­be­hand­lung“ gan­zer Grup­pen viel­leicht nicht so ganz im Ein­klang mit dem Grund­ge­setz ste­hen könn­te … Wie die „Abwei­chung“ von der „Norm“ auch kei­ne Pri­vat­sa­che bleibt, son­dern kri­mi­na­li­siert wird. Und sei es nur auf Umwegen.

die Zunahme der weiblichen Homosexualität (Die Neue Polizei, 1/1950)

Die Zunah­me der weib­li­chen Homo­se­xua­li­tät (Die Neue Poli­zei, 1/​1950)

Das soll­te eben eigent­lich nur eine kur­ze Ein­lei­tung für die­sen Arti­kel sein, der mich selbst in die­sem eben geschil­der­ten Umfeld etwas ver­wun­dert hat. Auf der ande­ren Sei­te ist das natür­lich wenig ver­wun­der­lich: Wie­so sol­len Argu­men­te und Dis­kur­se von heu­te auf mor­gen sich ändern, nur weil ein Krieg ver­lo­ren wur­de, ein Staat unter­ging, Besat­zer neue Regeln for­cie­ren und gera­de ein neu­er Staat ent­stan­den ist? Denn alle Argu­men­te, die hier auf­tau­chen, sind natür­lich über­haupt nicht neu und in keins­ter Wei­se ori­gi­nell. Sol­che Phä­no­me­ne zu beob­ach­ten, zu erken­nen und zu ver­fol­gen, ist ein Pri­vi­leg, dass His­to­ri­ker haben. Und das wich­ti­ge dar­an: Es macht mir immer wie­der klar, dass genau das­sel­be auch für das „heu­te“ unse­rer Gegen­wart gilt, dass zukünf­ti­ge His­to­ri­ker sich ziem­lich sicher über Bor­niert­hei­ten und unver­ständ­li­che, fast ata­vis­tisch erschei­nen­de Relik­te unse­rer Zeit genau­so wun­dern wer­den wie ich es in die­sem Fall über die 1950er getan habe. Und wenn man das mal ver­in­ner­licht hat, ist einem ziem­lich sicher klar gewor­den, wie wenig abso­lu­te und dau­er­haf­te Wahr­heit es (noch) gibt (wenn es über­haupt wel­che gibt). Und natür­lich auch, wie frag­wür­dig die Idee eines/​des „Fort­schritts“ ist und sein muss.