Mit großen Worten spart Viktor Mayer-Schönberger nicht: Eine “Tugend des Vergessens” beschwört er. Und will sie auch in “digitalen Zeiten” umsetzen. Aber eigentlich ist dieses — ziemlich positiv besprochene — Buch eine Mogelpackung. Denn Idee, Thema und Argument Mayer-Schönbergers ließe sich auf einigen wenigen Seiten ausreichnd genau darstellen — genauer wird er hier auch nicht. Er bläst das nur unheimlich und fast unerträglich auf.
Worum es geht ist schnell gesagt: Mayer-Schönberger hätte gerne, dass digitale Daten ein Verfallsdatum mit auf den Weg bekommen, an dem sie (automatisch) gelöscht, nicht mehr zugänglich werden. Sein Argument geht ungefähr so: Die über Zeit und Raum nahezu unbeschränkte (das nahezu fehlt bei ihm schon meistens) Verfügbarkeit von Informationen ist schädlich. Schädlich für Individuen und auch für Gesellschaften. Deswegen eben das automatische Löschen digitaler Daten (also z.B. Fotos, Zeitschriftenartikel, Suchdaten, Profile, Einkäufe etc.), um so das “analoge”, vor-digitale “Erinnern” zu simulieren. Das ist so weit eine ganz sympathische und auch überhaupt nicht verkehrte Idee, auch wenn alternative Strategien im Umgang mit der Ubiquität digitaler Daten (etwa die Anpassung des Verhaltens an diesen Umstand) bei ihm arg forsch beiseite gewischt werden.
Geärgert an dem Buch hat mich aber zum einen, dass er ewig weit ausholt, eine gesamt Geschichte der Schrift als Medium der Erinnerung noch einbaut (die auch furchtbar ungenau und teilweise nicht auf dem aktuellen Stand der Forschung ist, so weit ich das überblicken kann). Und dann natürlich sein Hauptproblem: Die fehlende Genauigkeit im Umgang mit den Begriffen. Gedächtnis — Erinnerung — Archiv ist hier ein einziger Mischmasch, in dem nichts unterschieden wird. So spricht Mayer-Schönberger z.B. unentwegt davon, dass wir digitale Daten erinnern (und durchs Löschen eben vergessen). Genau das ist aber falsch: Sicher, wir archivieren die. Aber sie sind dann noch lange nicht zwangläufig ein Teil unserer Erinnerung. Sie können es wieder werden, müssen es aber nicht. Diesen Unterschied zwischen (Individuums-)internen und externen Informationen macht er einfach nicht (bzw. nicht ausreichend genau). Daher kommt dann auch die Verwirrung von Gedächtnis und Erinnerung und Informationen, die digital verfügbar sind. Macht man diese Unterscheidung, nimmt man ihm einen Großteil seiner großsprecherischen kulturellen Geste: “Während wir früher mit der Zeit das meiste vergaßen, haben wir heute die Möglichkeit, uns an das meiste zu erinnern.” (199) — genau das bezweifle ich eben.1 Das Problem, das muss man ihm zugestehen, bleibt aber dennoch: Digitale Daten sind einfacher, länger, ortsungebundener verfügbar, das Archiv und die Findemittel werden immer umfangreichr, schneller und bequemer.
Mir jedenfalls scheint ein Plädoyer für eine Art des “digitalen Erinnerns”, die sich der Speichermöglichkeiten der Computer und Netzwerke bedient, aber auch deren Problematik bewusst macht (sowohl beim Speichern eben als auch beim erinnernden/rekonstruierenden Abrufen) eine interessantere, angemessenere Reaktion als das bloße Simulieren der Ungenügsamkeiten bisheriger Aufzeichnungsmethoden im digitalen Raum. Ich bin mir nämlich überhaupt nicht so sicher wie Mayer-Schönberger, dass die “analoge”/vor-digitale Form des Gedächtnisses/Erinnerns eine evolutionäre Leisung ist, die allein dem Menschen gemäß ist. Aber das wird sich noch zeigen …
Viktor Mayer-Schönberger: Delete. Die Tugend des Vergessens in digitalen Zeiten. Berlin: Berlin University Press 2010. 264 Seiten. ISBN 978–3‑940432–90‑2.
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