Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: gedächtnis

Kollektives Gedächtnis

Begriff Erin­nerungskul­tur
Mod­erne Struk­turmerk­male zeich­nen Demokratisierung fern­er des All­t­ags und der Ver­gan­gen­heit. An Gedanken­fra­gen gehören natür­lich selb­stver­ständlich bild­kün­st­lerische Werke der Erfahrung.
Es ist ein Brauch, die Ich-Erfahrung nicht. Sozusagen hat es nicht damit zu tun und wir tra­gen zur Kollek­tiv­en Erin­nerung bei. Bedeu­tung kann zu Beginn was auf­taucht. Haupt­säch­lich im 19. Jahrhun­dert. Nation­aldenkmal. […] Viele Gesten das (die) man nicht wirk­lich unter­sucht zwie Zeit­en später passiert. Nach­schauen im gar nicht direkt 70 Jahre späte 1871, da wer­den dop­pelt Zeit ent­fer­nt. Wie das Denkmal entste­ht gedenkt heißt. Juden­platz fand ich wirkt, wie Leute das sehen.

—Niš­ta Nije Niš­ta, Kollek­tives Gedächt­nis (auf: 4 Wolves Attack)

Nista Nije Nista: Kollek­tives Gedächt­nis

Beim Klick­en auf das und beim Abspie­len des von YouTube einge­bet­teten Videos wer­den (u. U. per­so­n­en­be­zo­gene) Dat­en wie die IP-Adresse an YouTube über­tra­gen.

Gedächtnis

“Erst hat­te ich den Weg nicht mehr beschreiben, dann nicht mehr gehen kön­nen, das Gedächt­nis ist manch­mal flüchtiger als das schiere Wis­sen der Füße.” (Katha­ri­na Hack­er, Eine Dor­fgeschichte, 103)

Digitales Erinnern und Vergessen

Mit großen Worten spart Vik­tor May­er-Schön­berg­er nicht: Eine “Tugend des Vergessens” beschwört er. Und will sie auch in “dig­i­tal­en Zeit­en” umset­zen. Aber eigentlich ist dieses — ziem­lich pos­i­tiv besproch­ene — Buch eine Mogel­pack­ung. Denn Idee, The­ma und Argu­ment May­er-Schön­berg­ers ließe sich auf eini­gen weni­gen Seit­en aus­re­ich­nd genau darstellen — genauer wird er hier auch nicht. Er bläst das nur unheim­lich und fast unerträglich auf.

Worum es geht ist schnell gesagt: May­er-Schön­berg­er hätte gerne, dass dig­i­tale Dat­en ein Ver­falls­da­tum mit auf den Weg bekom­men, an dem sie (automa­tisch) gelöscht, nicht mehr zugänglich wer­den. Sein Argu­ment geht unge­fähr so: Die über Zeit und Raum nahezu unbeschränk­te (das nahezu fehlt bei ihm schon meis­tens) Ver­füg­barkeit von Infor­ma­tio­nen ist schädlich. Schädlich für Indi­viduen und auch für Gesellschaften. Deswe­gen eben das automa­tis­che Löschen dig­i­taler Dat­en (also z.B. Fotos, Zeitschrifte­nar­tikel, Such­dat­en, Pro­file, Einkäufe etc.), um so das “analoge”, vor-dig­i­tale “Erin­nern” zu simulieren. Das ist so weit eine ganz sym­pa­this­che und auch über­haupt nicht verkehrte Idee, auch wenn alter­na­tive Strate­gien im Umgang mit der Ubiq­ui­tät dig­i­taler Dat­en (etwa die Anpas­sung des Ver­hal­tens an diesen Umstand) bei ihm arg forsch bei­seite gewis­cht wer­den.

Geärg­ert an dem Buch hat mich aber zum einen, dass er ewig weit ausholt, eine gesamt Geschichte der Schrift als Medi­um der Erin­nerung noch ein­baut (die auch furcht­bar unge­nau und teil­weise nicht auf dem aktuellen Stand der Forschung ist, so weit ich das überblick­en kann). Und dann natür­lich sein Haupt­prob­lem: Die fehlende Genauigkeit im Umgang mit den Begrif­f­en. Gedächt­nis — Erin­nerung — Archiv ist hier ein einziger Mis­chmasch, in dem nichts unter­schieden wird. So spricht May­er-Schön­berg­er z.B. unen­twegt davon, dass wir dig­i­tale Dat­en erin­nern (und durchs Löschen eben vergessen).  Genau das ist aber falsch: Sich­er, wir archivieren die. Aber sie sind dann noch lange nicht zwan­gläu­fig ein Teil unser­er Erin­nerung. Sie kön­nen es wieder wer­den, müssen es aber nicht. Diesen Unter­schied zwis­chen (Individuums-)internen und exter­nen Infor­ma­tio­nen macht er ein­fach nicht (bzw. nicht aus­re­ichend genau). Daher kommt dann auch die Ver­wirrung von Gedächt­nis und Erin­nerung und Infor­ma­tio­nen, die dig­i­tal ver­füg­bar sind. Macht man diese Unter­schei­dung, nimmt man ihm einen Großteil sein­er großsprecherischen kul­turellen Geste: “Während wir früher mit der Zeit das meiste ver­gaßen, haben wir heute die Möglichkeit, uns an das meiste zu erin­nern.” (199) — genau das bezwei­fle ich eben.1 Das Prob­lem, das muss man ihm zugeste­hen, bleibt aber den­noch: Dig­i­tale Dat­en sind ein­fach­er, länger, ort­sunge­bun­den­er ver­füg­bar, das Archiv und die Find­emit­tel wer­den immer umfan­gre­ichr, schneller und beque­mer.

Mir jeden­falls scheint ein Plä­doy­er für eine Art des “dig­i­tal­en Erin­nerns”, die sich der Spe­icher­möglichkeit­en der Com­put­er und Net­zw­erke bedi­ent, aber auch deren Prob­lematik bewusst macht (sowohl beim Spe­ich­ern eben als auch beim erinnernden/rekonstruierenden Abrufen) eine inter­es­san­tere, angemessenere Reak­tion als das bloße Simulieren der Ungenügsamkeit­en bish­eriger Aufze­ich­nungsmeth­o­d­en im dig­i­tal­en Raum. Ich bin mir näm­lich über­haupt nicht so sich­er wie May­er-Schön­berg­er, dass die “analoge”/vor-digitale Form des Gedächtnisses/Erinnerns eine evo­lu­tionäre Leisung ist, die allein dem Men­schen gemäß ist. Aber das wird sich noch zeigen …

Vik­tor May­er-Schön­berg­er: Delete. Die Tugend des Vergessens in dig­i­tal­en Zeit­en. Berlin: Berlin Uni­ver­si­ty Press 2010. 264 Seit­en. ISBN 978–3‑940432–90‑2.

Show 1 foot­note

  1. Mal ganz abge­se­hen davon, dass das alles für nur einen Bruchteil der Men­schheit gilt — mit aus­re­ichen­dem Zugang zu den entsprechen­den Ressourcen …

“Vermutlich kann er …

“Ver­mut­lich kann er mit seinen Hirn­win­dun­gen nur irgendwelche Formeln in den Rech­n­er pro­gram­mieren und sich teure Autos und Frauen besor­gen, aber sich erin­nern, das kann er nicht.” (Thomas Klupp, Par­adiso, 19)

“Das Gedächtnis ..

… ist ein hoff­nungslos­er Roman­tik­er und eng befre­un­det mit dem Klis­chee.” (Ben­jamin Maack, Die Welt ist ein Park­platz und endet vor Dis­ney­land, 32)

peter kurzeck: oktober und wer wir selbst sind

schon der titel ist ja ein meis­ter­w­erk — ein anspruch, den der roman auch einö?sen kann: „Ein Buch, wie es noch keins gibt, aber wie es scheint, merkt das kein­er.” (154 — das schreibt der erzäh­ler über sein zweites buch. die par­al­le­len zu peter kurzeck und dessen „das schwarze buch” von 1982 sind natür­lich alles andere als zufäl­lig. immer­hin merken die qual­ität inzwis­chen ein paar mehr. aber das sind immer noch nur die kri­tik­er — leser gibt es immer noch zu wenige. dabei hätte die lek­türe von kurzecks büch­ern für die meis­ten einen gewalti­gen gewinn und erken­nt­niszuwachs zu bieten — erhe­blich mehr als die büch­er, die sich so auf den best­sellerlis­ten tum­meln.) und auch son­st ist es wieder ein echter kurzeck — unbe­d­ingt, etwas mono­man­isch, aber faszinierend und fes­sel­nd. nicht nur wegen der stilis­tis­chen vir­tu­osität — kaum ein ander­er gegen­wär­tiger autor hat so einen unverkennbar eige­nen stil oder bess­er gesagt ton­fall: denn es klingt immer, das von kurzeck geschriebene, es schwebt qua­si schw­ere­los wie zarte kam­mer­musik — son­dern auch sein­er the­men und motive wegen. das buch ist wieder über­voll von schö­nen stellen, schö­nen for­mulierun­gen — einige ste­hen ja auch hier…

der beginn ist schon ein ende und ver­lust — oder umgekehrt: das ende ist der beginn — der anfang des erzäh­lens: –> von dort startet das schreiben, das des erzäh­lers und das des autors. aus angst, das geschehene, d.h. ver­gan­gene, zu ver­lieren — und aus dieser furcht begin­nt sofort die suche nach der vergewis­serung: „[…] wisst ihr den Som­mer noch?” (7)

und noch etwas zeigt sich schon auf den ersten seit­en: die gewis­sheit, die ver­gan­gen­heit ver­loren zu haben, ist noch stärk­er als son­st (wenn ich die let­zten büch­er recht erin­nere, die lek­türe ist jet­zt schon eine weile her): „unauffind­bar. […] für immer in einem kerk­er.” (10) da hil­ft dann nur noch das erzählen: erzählen, um die wirk­lichkeit (der ver­gan­gen­heit) aufzubauen, „in Gang” zu hal­ten.

die erin­nerung wird allerd­ings immer unsicher­er, immer ungerichteter und frag­iler: „Nachträglich kommt dir vor, du hättest ihn an ein­und­dem­sel­ben Tag wenig­stens zwei- oder dreimal gehört.” (50) aber alles ist ver­loren, die erin­nerung, das gedächt­nis, die orte, die ganze ver­gan­gene real­ität — und die gegen­wart als zuk?nftige ver­gan­gen­heit auch schon: „Wo ist der Tag hin?” (50) und diese ahnung der wieder­hol­ung der real­ität greift inzwis­chen selb­st auf die träume aus:  “[…] oder den gle­ichen Traum immer wieder?” (75) aber noch ist hoff­nung (freilich ist die auch schon zwiespältig und gebrochen): „Und dann bleibt dir für immer das Bild.” — man muss es nur richtig und immer wieder erzählen. die frage ist dann nur: „wohin jet­zt mit dieser geschichte?” (71). für diese art zu erzählen, zu schreiben gibt es allerd­ings keine direk­ten wege — und genau das macht eine wesentliche fasz­i­na­tion der lek­türe aus: „beim erzählen immer noch einen umweg.” (29). schlie?lich ist das ganze buch ein einziger umweg — eigentlich sollte es nur ein einziges kapi­tel der vorgeschichte sein, kein eigen­er roman.

auch das schreiben an sich spielt natür­lich (wieder) eine große rolle — von anfang an. und wieder ist der erzäh­ler seinem text ziem­lich gnaden­los aus­geliefert: „Noch bei keinem Buch hat die Sprache mich so sehr gepackt, wie bei diesem — oder denkst du das jedes­mal wieder?” (19) ins­beson­dere die enden der kapi­tel führen immer wieder zum prozess des schreibens hin, zum erzählen an sich, zu den pro­jek­ten des erzäh­lers. und die sind schon lange mehr oder weniger zwang­haft gewor­den: „Aus­nahm­sweise vielle­icht heut nicht mehr? Aus­ruhen? Eine Pause? Aber das fehlt mir dann mor­gen früh und was fehlt, fehlt für immer.” (111) sp?ter hei?t es dann noch ein­mal: „Doch inzwis­chen will die Zeit, die kein Einsse­hen hat, mir keine Ruhe mehr lassen.” (162)

und natür­lich auch die zeit an sich wieder the­ma — das the­mas über­haupt, das kurzeck in seinen büch­ern umtreibt (vor allem natür­lich in der chronik der frank­furter achtziger): hier ist sie aber noch offen­er the­ma­tisiert als in den let­zten werken: „Die Zeit. Als ob man sich selb­st sucht. Wo bin ich, wenn ich nicht bei mir bin? Wo geht die Zeit mit uns hin?” (23) oder später: „Daß die Zeit auch so schnell verge­ht! Man weiß es und kann es doch nicht begreifen” (101)
die prob­leme der zeit: ein­er­seits fliegt sie, rast davon — ander­er­seits ver­langsamt sie bis zum still­stand: „Ist für uns die Zeit ste­henge­blieben? Ist es jeden Herb­st wieder der gle­iche Tag?” (45) und dann taucht aber auch noch immer wieder die frage auf: „Wie soll man die Zeit erzählen?” (77) die kern­frage, die kurzeck (und seinen erzäh­ler) schon länger beschäftigt und begleit­et, wird nun immer expliziter gestellt: „[…] und in Ruhe die Zeit, immer weit­er die Zeit auf­schreiben. Den Fluß und die Zeit und das ganze Land.” (121)

viel stärk­er spie­len daneben allerd­ings auch die fra­gen der real­ität eine rolle: gibt es zeit über­haupt? gibt es die dinge, vor allem aber gibt es orte? — oder ist alles nur aus­gedacht, imag­iniert? die zeit wird dabei auch noch stärk­er verd­inglicht, zum objekt gemacht: „Wie die zeit selb­st. als ob es die zeit ist, die immer­fort über sie hin­stre­icht, unabläs­sig, die heilige zeit.” (94) mehr noch als früher tritt dem leser peter kurzeck hier nicht nur als phänom­e­nologe, son­dern auch als erken­nt­niskri­tik­er gegenüber. genau deshalb beherrscht ihn auch der zwang zur wieder­hol­ung (und zur wieder­hol­ung gehürt auch das erzählen als wieder­holen — auf ander­er stufe — der erlebten wirk­lichkeit): „Man muß sie glauben, weil man sie sieht, aber kann sie sich nicht erk­lären.” (47) — und dann sind ja da noch „über­all Zeichen. […] Aber wie soll man die Zeichen deuten?” (49) — Zeichen haben sich ubiq­ui­tär aus­ge­bre­it­et, alles wird zum Zeichen, der Erzäh­ler weiß nicht mehr, was jet­zt Zeichen ist und was nicht — von der Frage ihrer Bedeu­tung natür­lich ein­mal ganz abge­se­hen.

ein anderes motiv, dass neu ist, durchzieht den text auch noch: der vater des erzäh­lers taucht immer mehr und deut­lich­er auf — bish­er war es vor allem die mut­ter der erzäh­lers „peter”, die in den tex­ten vorkam — hier wird immer wieder auch auf den vater bezug genom­men.

und das alles gibt wieder so einen her­rlichen text, das man nur ins schwär­men kom­men kann. wie anders kann man auch auf solche zeilen reagieren: „Man kommt an und Ort und Zeit warten schon” (173)?

peter kurzeck: okto­ber und wer wir selb­st sind. frank­furt am main: strome­feld 2007.

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