schon der titel ist ja ein meisterwerk — ein anspruch, den der roman auch einö?sen kann: „Ein Buch, wie es noch keins gibt, aber wie es scheint, merkt das keiner.” (154 — das schreibt der erzähler über sein zweites buch. die parallelen zu peter kurzeck und dessen „das schwarze buch” von 1982 sind natürlich alles andere als zufällig. immerhin merken die qualität inzwischen ein paar mehr. aber das sind immer noch nur die kritiker — leser gibt es immer noch zu wenige. dabei hätte die lektüre von kurzecks büchern für die meisten einen gewaltigen gewinn und erkenntniszuwachs zu bieten — erheblich mehr als die bücher, die sich so auf den bestsellerlisten tummeln.) und auch sonst ist es wieder ein echter kurzeck — unbedingt, etwas monomanisch, aber faszinierend und fesselnd. nicht nur wegen der stilistischen virtuosität — kaum ein anderer gegenwärtiger autor hat so einen unverkennbar eigenen stil oder besser gesagt tonfall: denn es klingt immer, das von kurzeck geschriebene, es schwebt quasi schwerelos wie zarte kammermusik — sondern auch seiner themen und motive wegen. das buch ist wieder übervoll von schönen stellen, schönen formulierungen — einige stehen ja auch hier…
der beginn ist schon ein ende und verlust — oder umgekehrt: das ende ist der beginn — der anfang des erzählens: –> von dort startet das schreiben, das des erzählers und das des autors. aus angst, das geschehene, d.h. vergangene, zu verlieren — und aus dieser furcht beginnt sofort die suche nach der vergewisserung: „[…] wisst ihr den Sommer noch?” (7)
und noch etwas zeigt sich schon auf den ersten seiten: die gewissheit, die vergangenheit verloren zu haben, ist noch stärker als sonst (wenn ich die letzten bücher recht erinnere, die lektüre ist jetzt schon eine weile her): „unauffindbar. […] für immer in einem kerker.” (10) da hilft dann nur noch das erzählen: erzählen, um die wirklichkeit (der vergangenheit) aufzubauen, „in Gang” zu halten.
die erinnerung wird allerdings immer unsicherer, immer ungerichteter und fragiler: „Nachträglich kommt dir vor, du hättest ihn an einunddemselben Tag wenigstens zwei- oder dreimal gehört.” (50) aber alles ist verloren, die erinnerung, das gedächtnis, die orte, die ganze vergangene realität — und die gegenwart als zuk?nftige vergangenheit auch schon: „Wo ist der Tag hin?” (50) und diese ahnung der wiederholung der realität greift inzwischen selbst auf die träume aus: “[…] oder den gleichen Traum immer wieder?” (75) aber noch ist hoffnung (freilich ist die auch schon zwiespältig und gebrochen): „Und dann bleibt dir für immer das Bild.” — man muss es nur richtig und immer wieder erzählen. die frage ist dann nur: „wohin jetzt mit dieser geschichte?” (71). für diese art zu erzählen, zu schreiben gibt es allerdings keine direkten wege — und genau das macht eine wesentliche faszination der lektüre aus: „beim erzählen immer noch einen umweg.” (29). schlie?lich ist das ganze buch ein einziger umweg — eigentlich sollte es nur ein einziges kapitel der vorgeschichte sein, kein eigener roman.
auch das schreiben an sich spielt natürlich (wieder) eine große rolle — von anfang an. und wieder ist der erzähler seinem text ziemlich gnadenlos ausgeliefert: „Noch bei keinem Buch hat die Sprache mich so sehr gepackt, wie bei diesem — oder denkst du das jedesmal wieder?” (19) insbesondere die enden der kapitel führen immer wieder zum prozess des schreibens hin, zum erzählen an sich, zu den projekten des erzählers. und die sind schon lange mehr oder weniger zwanghaft geworden: „Ausnahmsweise vielleicht heut nicht mehr? Ausruhen? Eine Pause? Aber das fehlt mir dann morgen früh und was fehlt, fehlt für immer.” (111) sp?ter hei?t es dann noch einmal: „Doch inzwischen will die Zeit, die kein Einssehen hat, mir keine Ruhe mehr lassen.” (162)
und natürlich auch die zeit an sich wieder thema — das themas überhaupt, das kurzeck in seinen büchern umtreibt (vor allem natürlich in der chronik der frankfurter achtziger): hier ist sie aber noch offener thematisiert als in den letzten werken: „Die Zeit. Als ob man sich selbst sucht. Wo bin ich, wenn ich nicht bei mir bin? Wo geht die Zeit mit uns hin?” (23) oder später: „Daß die Zeit auch so schnell vergeht! Man weiß es und kann es doch nicht begreifen” (101)
die probleme der zeit: einerseits fliegt sie, rast davon — andererseits verlangsamt sie bis zum stillstand: „Ist für uns die Zeit stehengeblieben? Ist es jeden Herbst wieder der gleiche Tag?” (45) und dann taucht aber auch noch immer wieder die frage auf: „Wie soll man die Zeit erzählen?” (77) die kernfrage, die kurzeck (und seinen erzähler) schon länger beschäftigt und begleitet, wird nun immer expliziter gestellt: „[…] und in Ruhe die Zeit, immer weiter die Zeit aufschreiben. Den Fluß und die Zeit und das ganze Land.” (121)
viel stärker spielen daneben allerdings auch die fragen der realität eine rolle: gibt es zeit überhaupt? gibt es die dinge, vor allem aber gibt es orte? — oder ist alles nur ausgedacht, imaginiert? die zeit wird dabei auch noch stärker verdinglicht, zum objekt gemacht: „Wie die zeit selbst. als ob es die zeit ist, die immerfort über sie hinstreicht, unablässig, die heilige zeit.” (94) mehr noch als früher tritt dem leser peter kurzeck hier nicht nur als phänomenologe, sondern auch als erkenntniskritiker gegenüber. genau deshalb beherrscht ihn auch der zwang zur wiederholung (und zur wiederholung gehürt auch das erzählen als wiederholen — auf anderer stufe — der erlebten wirklichkeit): „Man muß sie glauben, weil man sie sieht, aber kann sie sich nicht erklären.” (47) — und dann sind ja da noch „überall Zeichen. […] Aber wie soll man die Zeichen deuten?” (49) — Zeichen haben sich ubiquitär ausgebreitet, alles wird zum Zeichen, der Erzähler weiß nicht mehr, was jetzt Zeichen ist und was nicht — von der Frage ihrer Bedeutung natürlich einmal ganz abgesehen.
ein anderes motiv, dass neu ist, durchzieht den text auch noch: der vater des erzählers taucht immer mehr und deutlicher auf — bisher war es vor allem die mutter der erzählers „peter”, die in den texten vorkam — hier wird immer wieder auch auf den vater bezug genommen.
und das alles gibt wieder so einen herrlichen text, das man nur ins schwärmen kommen kann. wie anders kann man auch auf solche zeilen reagieren: „Man kommt an und Ort und Zeit warten schon” (173)?
peter kurzeck: oktober und wer wir selbst sind. frankfurt am main: stromefeld 2007.