Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: monika rinck

spinnennetz

Ins Netz gegangen (26.7.)

Ins Netz gegan­gen am 26.7.:

  • Bitte keine zum Sonett gestampften Garten­mö­bel! | NZZ → moni­ka rinck spricht über sprache, erken­nen, denken und vir­tu­osität in lyrik und essays
  • Wenn Abgase gefährlich­er als Atten­täter sind | Deutsch­land­funk → ste­fan kühl über die schiefe risikowahrnehmung, mit einem schö­nen schluss:

    Poli­tik­er, die die kosten­lose Bere­it­stel­lung von Grund­nahrungsmit­teln, Wohn­raum oder öffentlichem Nahverkehr als Ein­stieg in den Sozial­is­mus ver­dammen wür­den, fördern die kosten­lose Nutzung öffentlichen Raums für den indi­vid­u­al­isierten Auto­mo­bil­verkehr – so, als ob das Grun­drecht auf Mobil­ität das Recht bein­hal­tete, mit dem eige­nen Auto jed­erzeit über­all hin­fahren zu dür­fen, nur weil man die Schä­den, anders als bei Ter­ro­ran­schlä­gen, nicht sofort sieht.

  • Man muss Hölder­lin vor seinen Bewun­der­ern in Schutz nehmen | Welt → der titel ist natür­lich so ein all­ge­mein­platz-unsinn, aber ein paar gute sätze schreibt denis scheck zu hölder­lin doch:

    Es gibt Momente medi­alen Über­druss­es, da scheint mir Hölder­lins Sprache die einzig mögliche. Eingängig und kristallin klar, trans­portiert sie in jed­er Silbe dann mehr Sinn als eine Tageszeitung. An anderen Tagen erscheinen mir diesel­ben Verse dage­gen dunkel und unver­ständlich, ihre Bedeu­tung unfass­bar. Eines Tages, ich bin sich­er, bin ich Hölder­lin gewach­sen.

  • Ein­mal Außen­seit­er, immer Außen­seit­er | Zeit → sabine scholl über herkun­ft, soziale gren­zen und stig­ma­ta
  • Welz­er: Gewalt ist ein Mit­tel sozialer Prax­is” | Panora­ma → ganz aus­geze­ich­netes gespräch mit har­ald welz­er über den g20-gipfel, gewalt, gesellschaft etc — wun­der­bar, wie genau und tre­f­fend er vieles einord­net, his­torisch und sozi­ol­o­gisch — unbe­d­ingt anse­hen!

Lyrik und Freiheit

Lyrik han­delt von Struk­turen, die Charak­teren zugrun­deliegen. Sie muss sich nicht den Per­sön­lichkeit­en und ihren Entwick­lun­gen zuwen­den, denn sie inter­essiert sich vor allem für die Struk­turen von Welt und Denken, die die Sprache in unserem Bewusst­sein geschaf­fen hat.Moni­ka Rinck, Wir. Phänomene im Plur­al (2015), 26

Es gibt aber eine gewisse Frei­heit. Die bewahrt man sich, indem man nur gute Fra­gen beant­wortet, schlechte Fra­gen ablehnt oder schweigend quit­tiert und unge­wollte Vere­in­nah­mungen durch dis­rup­tive Hand­lun­gen erschw­ert. Im Zweifels­fall ist es hil­fre­ich, immer mal wieder zu sagen: »Ich nicht« — ganz gle­ich, ob der Kon­text das hergibt oder nicht. Und Gedichte zu lesen, um sich einzuüben in die Aus­lockerung der Pronomen — denn wir, das kön­nten jed­erzeit auch die anderen sein. Moni­ka Rinck, Wir. Phänomene im Plur­al (2015), 40

rinck, wir (cover)

Ins Netz gegangen (27.7.)

Ins Netz gegan­gen am 27.7.:

  • Wozu Gen­der Stud­ies? » Forschung & Lehre — ein kluger essay des mainz­er sozi­olo­gen ste­fan hirschauer über die lage und notwendigkeit der gen­der stud­ies, der gegen “sep­a­ratismus” und abschließung, aber unbe­d­ingt für die notwendigkeit der gen­der stud­ies argu­men­tiert
  • Zur Erin­nerung an Ulrich Zieger | Hundertvierzehn.de — »Der Lun­gen­fisch spricht aus der Tiefe« — der Fis­ch­er-Blog 114 erin­nert mit den späten Gedicht “Gesöff” an den ver­stor­be­nen Ulrich Zieger
  • Moni­ka Rinck: Sie wirbelt das Denken auf | ZEIT ONLINE — sehr schöne würdi­gung der großar­ti­gen moni­ka rinck von tobias lehmkuhl (anlässlich (wobei das aber ein biss­chen an den haaren her­beige­zo­gen wirkt) der im herb­st anste­hen­den ver­lei­hung des kleist-preis­es an rinck)

    Auch in Rincks Gedicht­en ste­hen immer wieder schein­bar dis­parat­este Dinge nebeneinan­der, die “Daten­lage” verkehrt sich da in eine “Gar­ten­trage”, und zum Sel­l­erie wird “Schnit­zler” serviert. Gesicherte Erken­nt­nisse haben in Rincks Werk keinen Platz. Im Gegen­teil, die Welt ver­meintlich­er Gewis­sheit­en wird hier skep­tisch beäugt

  • Bayreuther Defizite: Wahn um Wah­n­fried — NZZ Bühne — udo bermbach rech­net unbarmherzig mit dem bayreuther klein­mütigkeit­en rund um wag­n­ers erbe ab

Aus-Lese #39

Lud­wig Winder: Der Thron­fol­ger. Ein Franz-Fer­di­nand-Roman. Wien: Zsol­nay 2014. 576 Seit­en.

winder, thronfolger

Ein schön­er und guter Roman eines vergesse­nen Autors zu einem bekan­nten The­ma. Lud­wig Winder, in der Zwis­chenkriegszeit ein berühmter Autor und Jour­nal­ist, hat mit dem “Franz-Fer­di­nand-Roman” Der Thron­fol­ger ein richtig gutes Buch geschrieben, das lei­der lange Zeit ziem­lich vergessen war. Der Wiener Zsol­nay-Ver­lag hat es jet­zt (mit einem Nach­wort des Spezial­is­ten Ulrich Weinzierl) neu aufgelegt — und so kon­nte ich auch diesem Roman, der 1937 das erste mal erschienen ist, ken­nen ler­nen.

Winder erzählt das Leben des Erzher­zogs Franz Fer­di­nand trotz der aus­führlichen Darstel­lung in strenger Chronolo­gie des Lebens. Und weil er stilis­tisch dabei erstaunlich lock­er bleibt, lässt sich das trotz der etwas lan­gat­mi­gen Anlage und Struk­tur sehr gut lesen. Denn im Kern ist es eben ein starkes, lebendi­ges Porträt des Erzher­zo­ges — der war ja, wenn man Winder glauben mag (und es gibt keinen Grund, das nicht zu tun), alles andere als ein leibenswürdi­ger Charak­ter: Spröde, harsch, krankhaft ehrgeizig und mis­strauisch — ein Mis­an­throp rein­sten Geblüts sozusagen. Die radikale per­son­ale Per­spek­tive macht das zu einem dicht­en Porträt ein­er his­torischen Fig­ur, ohne sie vorzuführen oder zu verurteilen. Inter­es­sant wird das auch dadurch, dass im Hin­ter­grund des Textes immer die Frage mitschwingt: hätte die Geschichte nicht auch ganz anders aus­ge­hen kön­nen? Das “fak­tis­che” Ende ist ja bekan­nt — hier wird aber immer wieder mit der Möglichkeit gespielt, dass die Geschichte des 20. Jahrhun­derts in der Fig­ur Franz Fer­di­nands auch andere Poten­zen und Poten­ziale gehabt hätte — die aber ungenutzt bleiben (und vielle­icht auch ein­fach bleiben müssen).

Unter­dessen wur­den in den Kon­feren­zsälen der Gen­er­al­stäbe, Min­is­te­rien und Botschaften, in den Salons der Muni­tions­fab­rikan­ten, in den Schlössern und auf den Vergnü­gungsy­acht­en der Staat­sober­häupter, in den Klubz­im­mern der Abge­ord­neten, in den Spielz­im­mern der Offizier­skasi­nos, in den armen Mansar­denkam­mern jugendlich­er Ver­schwör­er die Pläne aus­ge­heckt, die zum Kriege führen soll­ten. Leicht­fer­tige Diplo­mat­en, ehrgeizige Gen­eräle, ver­brecherische Geschäftemach­er und halb­wüch­sige Patri­oten, deren nation­al­is­tis­ch­er Rausch sich unverse­hens in Blu­trauseh wan­delte, arbeit­eten einan­der in die Hände, ohne es zu wis­sen. Sie jagten einan­der Angst ein, um die Ver­nun­ft zu töten. Sie woll­ten die Welt mit Angst erfüllen, um die Ver­brechen, die sie planten, zu entschuldigen. Sie sagten den Völk­ern, der Feind gönne ihnen das Leben nicht und wolle ihnen den Leben­sraum verkürzen. Sie forderten den Feind her­aus, den ersten Schuss abzugeben, das Sig­nal zum großen Massen­mord. Sie hat­ten Angst vor dem ersten Schuss, den sie inbrün­stig ersehn­ten. (454)

Dominik Dom­brows­ki: Fremdbestäubung. Köln: par­a­siten­presse 2014. 44 Seit­en.

dombrowski, fremdbestäubungGute Gedichte scheinen mir das zu sein, der “Güte” schw­er zu fassen sind: Da sind starke, anziehende Bilder, die ganz wun­der­bar selb­stver­ständlich wirken. Da ist die Bewe­gung der Sprache, die sich unge­hin­dert und wie von selb­st enfal­tet. Und das Fortschre­it­en im Text und der Welt, auch in der Zeit: immer weit­er, nicht ras­ten, nicht ruhen … Da ist die szenis­che Nar­ra­tion, die immer wieder auf­taucht. Die Rei­hung von kurzen Sequen­zen, die geschnit­ten (Cut!) Bilder, die Real­ität und Sprache miteinan­der kom­mu­nizieren lassen (oder auch nicht), zumin­d­est in Beziehung set­zen, sie aufeinan­der tre­f­fen lassen. Schade nur, dass der Band von Dom­brows­ki so kurz ist …

Archivare
Schiffe zu fal­ten den Eis­bären
dort unten
wo ihnen die Schollen
weg­brechen
haben
wir jet­zt nicht
das Papi­er

So fil­men wir
weit­er ihr
polares Treiben
vom Hub­schrauber aus (30)

Hans Pleschin­s­ki: Der Holzvulkan. Ein deutsch­er Fes­t­brief. Mit einem Nach­wort von Gus­tav Seibt. München: Beck 2014 (tex­tu­ra). 96 Seit­en.

pleschinski, holzvulkanEine kuriose Erzäh­lung eines kuriosen Geschehens der an Kuriositäten nicht ger­ade armen deutschen Geschichte: Der Erzäh­ler triff auf die Geschichte, die sich in Form eines Art Führers und Erzäh­lers sowie der traumhaften Verge­gen­ständlichung der his­torischen Baut­en und Ansicht­en darstellt und zeigt. Es geht um einen etwas aus­ge­flippten deutschen Her­zog des 17. Jahrhun­dert, den Anton Ulrich von Braun­schweig-Wolfen­büt­tel, der nicht nur (extrem ausufer­nde) Romane schrieb, son­dern auch als Feste-Arrangeur und Mäzen sein kleines HZer­zogtüm­chen zu einem europäis­chen Zen­trum der Kün­ste und der repräsen­ta­tiv­en Darstel­lung machen wollte — und damit so grandios und krachend scheit­ert, dass es Pleschin­s­ki wun­der­baren Stoff zum Erzählen gibt. Und auf den weni­gen Seit­en macht er das aus­ge­sprochen lebendig und sym­pa­thisch, mit raf­finierten erzäh­lerischen Volten, die dem Gegen­stand des Illu­sion­sthe­aters wun­der­bar angemessen sind — und zugle­ich ein Beispiel, wie man kun­stvoll Geschichte (nach-)erzählen kann. Also: eine schöne, unter­hal­tende und auch belehrende Lek­türe für zwis­chen­durch (zumal das Büch­lein bei Beck auch nett gemacht und um einige Kupfer­stichen ergänzt wurde).

Deutsches Barock ist den Deutschen am fremdesten, weil’s dort nicht mal um Gemütlichkeit ging (75)

Patrick Maisano: Mez­zo­giorno. Salzburg u.a.: müry salz­mann 2014. 152 Seit­en.

maisano, mezzogiornoEin schönes und gelun­ge­nes erzäh­lerisches Exper­i­ment, dieses Debüt von Maisano: Zwei Erzäh­ler — auch noch bei­de Architek­ten — stre­it­en sich um die Wahrheit des Erzäh­lens, der Erin­nerung und der Deu­tung der Gegen­wart. Zugle­ich ist das auch ein Stre­it zweier Lebensen­twürfe: Der geniale, faule und organ­isierte Architekt gegen den ord­nungs­fix­ierten, unternehmerischen, aber ideen­losen Bauin­ge­nieur und Plan­er.
Die Men­schen bleiben allein, die Fam­i­lien tauchen als Idee und Erzäh­lung öfter und wirk­lich­er auf als in der “wahren” Real­ität: Patricks trock­enes Bericht­en und Toms unbeschw­ertes Fab­u­lieren konkur­ri­eren um den Leser — glaub­haft sind natür­lich bei­de nicht, wie sich zuse­hends her­ausstellt. Dass bei­den Pro­tag­o­nis­ten und Erzäh­lern am Ende dann ganz sym­bol­isch und reell der Boden und das Fun­da­ment unter den Füßen wegrutscht — das Chalet, in dem sie sich befind­en, fällt einem Bergrutsch zum Opfer — ist dann fast schon zu offen­sichtlich. Aber bis dahin hat man beim Lesen an diesem ras­an­ten Text eine Menge Vergnü­gen gehabt.

Lutz Seil­er: im felder­latein. Berlin: Suhrkamp 2010. 102 Seit­en.

seiler, felderlatein“daheim an den gedicht­en” ist Lutz Seil­er: Auch wenn er jet­zt für seinen Roman “Kru­so” so sehr gelobt ist: Er ist vor alle­dem ein vortr­e­f­flich­er und aus­ge­sprochen kluger Lyrik­er. Schon pech & blende hat das gezeigt, im felder­latein gelingt es erneut: Hier ist eine eigene Stimme und ein eigen­er Denke. Seil­ers Gedichte machen immer wieder die Zeit selb­st zum The­ma:

[…] immer

in der schwebe, die
schätze dieser zeit

- eine Zeit, die sich in der Erin­nerung zeigt oder als Gegen­wart der Ver­gan­gen­heit im Augen­blick der Empfind­ung und Wahrnehmung. Vor allem aber geht es ihm immer wieder um die Ver­bidun­gen und Verknüp­fun­gen von Natur, Men­sch und eben Zeit. Ein Gedicht wie “im felder­latein” macht das beson­ders deut­lich. Schon der Titel verknüpft alle drei Bere­iche: Den Men­schen mit sein­er Sprache — aber ein­er Sprache, die “aus­gestor­ben” ist, die Sprache der Ver­gan­gen­heit ist, aber in unser­er Gegen­wart immer noch lebt; und diese Sprache der Men­schen eben schon im Kom­posi­tum verknüpft mit der Natur der “Felder” — die, sobald sie Felder sind, ja auch schon mit dem kul­tivieren­den und abgren­zen­den Men­schen in Verbindung ste­hen. Dort, also “im felder­latein”, heißt es:

im ner­ven­bün­del dreier birken:
umrisse der exis­tenz & alte for­men
von geäst wie
schwarz­er mann & stum­mer
stromab­nehmer. all

die falschen schei­t­el, sauber
nachge­zo­gen im archiv
der glat­ten über­liefer­ung. gern

sagst du, es ist die kälte, welche
dinge hart im auge hält, wenn
große flächen schlaf wie
winkelschleifer schleifen in
den zweigen. so

sagt man auch: es ist ein baum
& wo ein baum so frei ste­ht
muß er sprechen

Und das zeigt sich auch in Vers­grup­pen, die deut­lich machen, dass dem Men­schen (noch) längst nicht Zugriff auf alles eigen ist:

du weißt noch immer
nicht, daß es dich gibt, doch
was geschieht
ist begrif­f­en, ins brüchige dunkel
entleert sich das haus (48)

In seinem flanieren­den Streifen durch Land­schaften, Ver­gan­gen­heit­en und Typen (Rück­kehr ist der entschei­dende Begriff heir, nicht die Ankun­ft!) gelin­gen Seil­er jeden­falls immer wieder großar­tige Gedichte, die als konzen­tri­erte, starke Schöp­fun­gen der Sprache und des Denkens so etwas wie Bestand­sauf­nah­men sind (nicht ohne Grund ist “inven­tur” eines der besten gedichte in diesem band):

[…] & unter der erde

liegen die toten
& hal­ten die enden wurzeln im mund (49)

Moni­ka Rinck: I am the zoo. Ostheim: Peter Engstler 2014. 52 Seit­en.

rinck, zooWie schon bei Helle Ver­wirrung und Hasen­hass belässt es Rinck auch hier nicht bei der Schrift, beim Text allein, son­dern arbeit­et mit Zeich­nun­gen zuam­men. Genauer gesagt: Sie arbeit­ete mti der Zeich­ner­in Nele Brön­ner zusam­men. Die legte täglich eine von 24 Zeich­nun­gen vor, zu der Rinck tex­tete, was wiederum Brön­ner zur näch­sten Zeich­nung ver­an­lasste etc: Die gegen­seit­i­gen Rück­kop­plun­gen entwick­eln sich hier Seite für Seite zu ein­er Fabel — ein­er fabel­haften, phan­tastisch-spielerischen Geschichte. “Irri­tierte Ver­heißung” heißt es ein­mal im Text — und das passt recht gut: Gegen­seit­ige Irri­ta­tion beflügelt die Phan­tasie, die immer neues, anderes, unge­plantes ver­heißt. Und das dann nicht unbe­d­ingt ein­löst: Dieses Buch (ich scheue mich, nur vom Text zu sprechen, die Zeich­nun­gen sind schließliche ele­mentar­er Teil des Werkes) ist nie lang­weilig, weil die Entwick­lung zwar zu beobacht­en ist, aber nie vorherse­hbar wird. Und weil dazu noch die Sprache Moni­ka Rincks zwis­chen Prosa und Lyrik schwankt, wenn man das so sagen darf, ihre poet­is­che Qualtiät des Klangs und der Nicht-Alltäglichkeit beson­ders betont, ist das ein Werk ganz nach meinem Vergnü­gen: Ein Buch, das mit dem Unter­ti­tel Geschicht­en vom inneren Biest gar nicht so schlecht umschrieben ist.

Sibylle Berg: Der Tag, als meine Frau einen Mann fand. München: Hanser 2015. 256 Seit­en.

berg, tagIn gewiss­er Weise ist das wieder ein typ­is­ch­er Sibylle-Berg-Roman — und das ist ja schon ein­mal ein guter Start. Der Klap­pen­text des übri­gens sehr schön gemacht­en und in feinem Leinen gebun­de­nen Buch ver­heißt:

Chloe und Ras­mus sind seit fast zwanzig Jahren ver­heiratet, und ja, alles bestens, man hat sich entwick­elt, man ist sich ver­traut. Aber dass dieses Leben nun ein­fach so weit­erge­hen soll, ist auch nicht auszuhal­ten. […] Sibylle Berg stellt die Frage, die alle Paare irgend­wann ein­mal beschäftigt: Ist Sex leben­snotwendig? Oder doch eher die Liebe?

Und das passt schon ganz gut: Berg erzählt (wieder ein­mal) aus der Hölle der Selb­stfind­ung eines ziem­lich frus­tri­erten Paares. Es geht in wech­sel­nder Per­spek­tive aus der Sicht der bei­den Pro­tag­o­nis­ten Ras­mus und Chloe um das Abnutzen der Gefüh­le, um das Lei­den am Leben, um die unendliche ernüchternde und nüchterne Auswe­glosigkeit des All­t­ags. In kurzen Kapi­tel und klar­er, knap­per und präzis­er Prosa beschreibt Berg die aufdäm­mernde Katas­tro­phe der Paar­beziehung, das Umschla­gen, die völ­lige Zer­störung und Neuschaf­fung. Das ist Lit­er­atur, die kurzfristig unter­hält und nach­haltig ver­stören kann, wie Richard Käm­mer­lings ganz richtig beobachtet hat. Und genau diese Kom­bi­na­tion aus Unter­hal­tung und Ver­störungspoten­zial, aus Humor und tiefem, dun­klem Ernst ist es, was mir an Bergs Büch­ern immer wieder zusagt.

Die Aufre­gung. Hat sich abgenutzt, wie alle Gefüh­le, ich hat­te jedes schon ein­mal. Es wird kein neues dazukom­men. Das ist das Grauen der mit­tleren Jahre. Die Langeweile und die noch allzu nahe Erin­nerung an Zeit­en, in denen alles zum ersten Mal passierte. (50)

außer­dem gele­sen:

  • Helene Hege­mann: Axolotl Road­kill. Berlin: Ull­stein 2010. 204 Seit­en.
  • Ursu­la Krechel: Shang­hai fern von wo. 2. Auflage. München: btb 2010. 508 Seit­en.
  • Ursu­la Krechel: Landgericht. 5. Auflage. Salzburg, Wien: Jung und Jung 2012. 495 Seit­en.
  • Rüdi­ger Bit­tner & Susanne Kaul: Moralis­che Erzäh­lun­gen. Göt­tin­gen: Wall­stein 2014 (Kleine Schriften zur lit­er­arischen Ästhetik und Hermeneu­tik, Band 5). 74 Seit­en.
  • Frank R. Ankersmit: Die his­torische Erfahrung. Berlin: Matthes & Seitz 2012. 112 Seit­en.
  • Mark Row­lands: Der Läufer und der Wolf (siehe nebe­nan im Lauf­blog)

Aus-Lese #32

Jan Keupp, Jörg Schwarz: Kon­stanz 1414–1418. Eine Stadt und ihr Konzil. Darm­stadt: Wis­senschaftliche Buchge­sellschaft 2013. 213 Seit­en.

keupp-schwarz_konstanzEine — vor allem im ersten Teil von Jörg Schwarz — sehr gut zu lesende Darstel­lung für Nicht-Experten des späten Mit­te­lal­ters. Die erste Hälfte befasst sich mit dem eigentlichen Konzil, der Auflö­sung des großen abendländis­chen Schis­mas, bei dem aus drei Päp­sten wieder ein­er wurde und neben­bei unter anderem noch Jan Hus ver­bran­nt wurde. Das ist solide gemacht, geht aber naturgemäß nicht allzu sehr in die Tiefe. Im zweit­en Teil geht es dann in der Darstel­lung von Jan Keupp um Kon­stanz selb­st: Die Stadt, ihre Bürg­er, ihre Poli­tik, ihre Wirtschaft. Das franst dann ein biss­chen aus, der The­men­strauß wird arg bunt und es wirkt etwas ober­fläch­lich und zufäl­lig, die stärkere Kohärenz des ersten Teils wird nicht mehr erre­icht. Das ist weniger ein Prob­lem von Keupp, auch wenn er nicht ganz so ein guter Erzäh­ler ist wie Schwarz (der manch­mal freilich arg sug­ges­tiv schreibt), son­dern eines der Sache — die ist ein­fach so vielfältig, dass sie nur durch den Ort der Über­liefer­ung — Kon­stanz eben — zusam­menge­hal­ten wird. Durch reich­haltige Quel­len­z­i­tate (meist über­set­zt), vor allem aus den Rats- und Gericht­sak­ten, wird das recht lebendig. Lei­der ist aber über­haupt kein Zitat nachgewiesen — das finde ich dann doch immer schade, weil es die Benutzbarkeit natür­lich enorm ein­schränkt.

Pierre Bertaux: Hölder­lin und die Franzö­sis­che Rev­o­lu­tion. Frank­furt am Main: Suhrkamp 1969. 188 Seit­en.

bertaux, hölderlinEin Klas­sik­er der Hölder­lin-Forschung, der zu sein­er Zeit, bei seinem ersten Erscheinen, ziem­lich für Aufruhr sorgte. Denn Bertaux geht es darum, zu zeigen, dass Hölder­lin Jakobin­er — also Anhänger der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion war — und, das ist das wichtige an seinem Buch, dass sich das auch in der Dich­tung Hölder­lins nieder­schlägt. Den ersten Punkt kann ich gut nachvol­lziehen, beim zweit­en wird es schwierig, da scheint mir Bertaux’ Lek­türe von Hölder­lins Lyrik als ver­schlüs­sel­ter Code, der seine poli­tis­che Botschaft ver­steckt, zu ein­seit­ig und etwas übers Ziel hin­aus zu schießen. Let­ztlich ste­ht aber auch recht wenig zu konkreten Werken Hölder­lins drin — dafür entwick­elt Bertaux mit viel Mühe ein bre­ites Panora­ma der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion und vor allem ihrer Rezep­tion in Deutsch­land und beson­ders in Tübin­gen und Schwaben, das weit, sehr, sehr weit über Hölder­lin hin­aus geht, aber ander­er­seits zum konkreten Gegen­stand der Unter­suchung eben auch nur bed­ingt etwas beiträgt.

Worauf es ankam, war, an einem Beispiel zu zeigen, daß die »poli­tis­che« Inter­pre­ta­tion der Dich­tung Hölder­lins auch — und nicht zulet­zt — einen gülti­gen Beitrag zu einem besseren Ver­ständ­nis leis­ten kann und diese Dich­tung wieder aufleben läßt in ihrer Aktu­al­ität, als laufend­en Kom­men­tar zum Prob­lem der Rev­o­lu­tion und des Mannes im Zeital­ter der Rev­o­lu­tio­nen. (138)/

Oswald Egger: Tag und Nacht sind zwei Jahre. Kalen­dergedichte. Warm­bronn: Ulrich Keich­er 2006. 31 Seit­en.

Egger, Tag und NachtKalen­dergedichte? Wirk­lich? Das würde mich bei einem Autor wie Oswald Egger allerd­ings über­raschen. Und natür­lich ist das wed­er Kalen­der noch Gedicht — zumin­d­est nach herkömm­lichem Ver­ständ­nis. Aber das zählte für Egger ja (noch) nie. Ein ander­er, ein neuer Gang durch’s (Natur-)Jahr hat er hier aufgeschrieben — Men­schen kom­men nicht vor (nur das „ich“, das aber dur­chaus häu­fig), höch­stens ihre Arte­fak­te wie die „Fahrstraße“ (14), die Wege etc, die in der Natur liegen – ein Jahres­reigen, wirk­lich ein Reigen. Hier kann man sehen, was passiert, wenn sich ein Sprach­meis­ter und ‑magi­er wie Egger der Natur annimmt: Ihren Erschei­n­un­gen und ihrem Erklin­gen. Das ist — wie immer — phan­tastisch: Kaum jemand kann Sprache so magisch und kraftvoll ver­for­men wie Egger — und damit Bilder und Töne evozieren, die nor­male Sätze oder Wörter nicht aufrufen kön­nen: Die sind zu schwach, zu aus­ge­laugt, zu abgenutzt, sie tre­f­fen das einzi­gar­tige, beson­dere des jew­eili­gen Moments nicht — und deshalb gibt’s halt Neues. Das hat immer etwas von einem Aben­teuer: Man weiß wed­er, wo der Satz einen hin­führt, noch, was der näch­ste Satz, die näch­ste Seite/Doppelseite (ein „Gedicht“) bringt.

[…] wie far­big flam­mendere Träume / schreck­ten diese hier, kalbend­sten sel­ban­der, als Vögel / im Fieber­schlaf erstar­rt, und floureszieren etwas (wie nichts) /| auf Gran­it, die wie Por­phyrpflaster­plat­ten der Zufluß-Gneise / schiefer­n­der Wege, alles Fir­ma­ment verbleite licht­grau und / betrübt sich richtig — (richtig)? (2f.)
Moni­ka Rinck: Helle Ver­wirrung. Gedichte — Rincks Ding- und Tier­leben. Texte & Zeich­nun­gen. Idstein: kook­books 2009. 139 Seit­en.

rinck, helle verwirrungGle­ich zwei Büch­er auf ein­mal hier. Aber zwei ganz ver­schiedene Seit­en von Moni­ka Rinck. In Helle Ver­wirrung die “nor­male” Lyrik­erin, in Rincks Ding- und Tier­leben die Zeich­ner­in von kuriosen Din­gen. Aber Rinck hat ja sowieso Auge und Ohr für das Ungewöhn­liche, das Kuriose — etwas im “Begriff­sstu­dio”. Das schlägt sich vor allem in den küh­nen Bildern der Hellen Ver­wirrung nieder — und in den starken Titel der Gedichte, die — sel­ten genug — wirk­liche Titel sind: „erschöpfte konzepte: die liebe“, „immer nie“ …
Und allein der Quit­ten-Zyk­lus ist mit seinen phan­tastis­chen, vielfälti­gen und vol­lkom­men über­raschen­den Bildern den Band schon wert.

Weniger kon­nte ich dage­gen mit dem Ding- und Tier­leben anfan­gen: Das ist sehr spielerisch und humoris­tisch, mit Lust an Kon­tradik­tio­nen und Null-Sinn und dem sprach­lichen extem­po­ri­eren. Aber einen recht­en Zugang habe ich dazu nicht gefun­den.

Mein Lieblingsz­i­tat:

in jedem buch gibt es zeilen, die man gar nicht lesen darf. (14)

Schöne Stellen gibt es aber unendlich viele. Zitierenswert erschien mir auch noch das hier — vielle­icht gibt das ja einen Ein­druck, warum ich das so gern gele­sen habe:

das fand für dich auf der gren­ze statt, die meis­ten dein­er gäste / haben sich entsch­ieden für: nor­mal­ität. ein­sam waren sie trotz­dem. (16)/

Oswald Egger: Deutsch­er sein. Warm­bronn: Ulrich Keich­er 2013 (Rei­he Lit­er­aturhaus Stuttgart 4). 28 Seit­en.

Egger, Deutscher-seinEin klein­er, bei Keich­er sorgsam gedruck­ter Essay über die deutsche Sprache, ihre Struk­tur und ihren Laut, ihre Möglichkeit­en und Schwierigkeit­en. Zugle­ich geht es, der Titel ver­rät es ja, auch um die Möglichkeit­en und Beschw­ernisse, Deutsch­er zu sein. Dieses Sein scheint sich aber — für Egger ja nicht beson­ders ver­wun­der­lich — vor allem oder haupt­säch­lich in der Sprache abzus­pie­len und zu entwick­eln. Deswe­gen geht es also auch um solche Erleb­nisse wie den “Schmuggel” von Sinn und Bedeu­tung in Wörter, Sätze und Texte. Oder um Klang und Musik, Lieder und Melos des Deutschen — vor allem natür­lich des “Deutsch­land­sliedes”, der Nation­al­hymne. The­men sind außer­dem: Der Umgang “der Deutschen” — und ihrer Dichter — mit ihrer Sprache und den ihr innewohnen­den Möglichkeit­en. In An- und Halb­sätzen zeigen sich dabei auch einige Bausteine der Poet­ik Eggers — näm­lich eben in seinem Ver­ständ­nis der Sprache, die wohl etwas sehr offenes und flu­ides ist.

da gabelt sich die Gabe der Sprache in irrwis­che Wün­schel, durch und durch die Gegend ohne Gegen­stand als ein eingepeitschter Schlingerkreisel im ergat­terten Mis­chmasch (5)

Oswald Egger: Nichts, das ist. Frank­furt am Main: Suhrkamp 2001. 160 Seit­en.

egger, nichts das istAußer­dem noch diesen drit­ten Egger gele­sen. Aber da sehe ich mich außer­stande, etwas halb­wegs kluges dazu zu sagen …

In den Gedicht­en oder 200 Strophen/4‑Zeiler mit angehängter/überlagerter Poet­ik & Sprachkri­tik & Sprach­suche im poet­is­chen Modus steckt — so viel merke ich schon beim ersten Lesen — unheim­lich viel drin. Hyper­kom­plex gibt sich das, vielle­icht ist das aber auch nur gefakt? Beim (ersten) Lesen bleiben eigentlich nur Sin­n­fet­zen, Assozi­a­tio­nen, Klänge, Klang­wortrei­hen und ‑entwick­lun­gen — aber davon so viel, dass es die Lek­türe lohnt. Die 3–5fache Par­al­lelität des Textes (der Texte? — was ist hier über­haupt “der” Text? und was machen die Zeichnungen/Grafiken da drin?), hor­i­zon­tal und ver­tikal auf den Seit­en, vom Kolum­nen­ti­tel oben bis zum unteren Rand, über­haupt das per­ma­nente Überkreuzen und Queren — von Sinn, von Einheit(en), von Text und Sprache machen schon eine “nor­male” Lek­türe unmöglich — ein “Ver­ste­hen” erst recht. Immer neue Ansätze scheinen sich hier aufzu­tun, Iter­a­tio­nen vielle­icht auch, oder Bohrun­gen in der Art von Ver­suchen mit offen­em Aus­gang: kein fes­ter BOden, kein festes/dauerndes Ergeb­nis ist das einzig Ergeb­nishafte, was die Lek­türe ergibt.

Zwei Beispiel­seit­en — beina­he zufäl­lig aus­gewählt ;-) — mögen das illus­tri­eren:
egger, nichts das ist, 18

egger, nichts das ist, 48

Scott Jurek with Steve Fried­man: Eat & Run. My unlike­ly Jour­ney to Ultra­ma­rathon Great­ness. Lon­don u.a.: Blooms­bury 2012. 260 Seit­en.

Ist das ein Lauf­buch? Der Autor­name lässt es ver­muten: Scott Jurek ist ein­er der großen Ultra­läufer. Aber Eat & Run — der Titel ver­rät es ja schon — dreht sich nicht nur ums Laufen. Im Gegen­teil: Über weite Streck­en geht es vor allem ums Essen. Nicht ohne Grund ste­ht das im Titel vorne. Und zwar um das richtige Essen — näm­lich die veg­ane Ernährung. Jurek schildert aus­führlich seinen Weg von der “nor­malen” amerikanis­chen Kost des mit­tleren West­ens zur veg­an­is­chen Ernährung. Das geschieht bei ihm vor allem aus (schein­bar) gesund­heitlichen Grün­den und weil er meint zu beobacht­en, dass er sich damit bess­er fühlt. Zugle­ich pla­gen ihn aber auch lange und immer wieder die Zweifel, ob er mit veg­a­nen Lebens­mit­teln aus­ge­wogen, gesund und in allen Bere­ichen aus­re­ichend genährt ist, um Ultras zu laufen.

So recht warm gewor­den bin ich mit Eat & Run aber nicht. Obwohl ich die Leis­tun­gen Jureks sehr schätze, blieb mir seine Hal­tung zum Laufen, wie sie sich hier zeigt, ein­fach fremd. Mehr dazu ste­ht in meinem Lauf­blog: klick.

span style=“font-variant: small-caps”>Werner Laub­sch­er: Win­ter­reise. Win­ter­sprache. Annweil­er: Thomas Plöger 1989. 58 Seit­en.

laubscher, winterreiseDarauf bin ich nur zufäl­lig durch einen Beitrag in der Poet #15 gekom­men. Zunächst mal ist das ein schönes Buch, auch die Her­stel­lung ist ein Teil des Kunst­werks: Tra­di­tioneller Bleisatz, feines Papi­er (unaufgeschnit­ten und deswe­gen dop­pelt — so wird aus 58 Seit­en ein Buch), lebendi­ger Druck, schön­er Ein­band, dazu die far­bigen Bilder Laub­sch­ers — so macht man Büch­er.

Wil­helm Müllers Win­ter­reise — oder wohl doch eher Schu­berts Liedzyk­lus — dient Laub­sch­er als Anre­gung und Aus­gangspunkt für seine kleinen Gedichte. Die haben etwas von Preziosen: Fein und feinsin­nig beobachtet, sehr klug und sehr sprachge­wandt, auch sehr geschlif­f­en und fest, über­haupt nicht spielerisch. Teil­weise funk­tion­ieren sie als Über­schrei­bung: Einzelne Worte und Sätze aus dem “Orig­i­nal” sind als Zitate und Ankläge eingear­beit­et — sehr dicht, fast naht­los fügen sie sich in Laub­sch­ers wesentlich mod­erneren (wenn auch nicht avant­gardis­tis­chen) Ton ein, der es trotz sein­er Moder­nität schafft, ver­gle­ich­sweise zeit­los zu bleiben. Ziem­lich düster, grau und trau­rig ist diese Win­ter­welt hier. Aber, und das macht es lesenswert, es sind ganz viele Graus. Vielle­icht kön­nte man sagen, dass Laub­sch­er hier die Müller­sche Win­ter­reise über­bi­etet: Mit mehr Real­is­mus und zugle­ich mehr poet­is­ch­er Entrück­ung geht das weit­er als die roman­tis­chen Urgedichte. Und bleibt dabei ander­er­seits auch doch sehr zurück­hal­tend — arg bre­it ist das the­ma­tis­che Feld nicht. Das macht aber nicht, weil es handw­erk­lich sehr geschickt — etwa in der Ver­ket­tung der einzel­nen Gedichte — und dur­chaus fein gemacht ist: (Be)rührend sind hier viele der Gedichte, emo­tion­al durch oder in ihrer Kun­st­fer­tigkeit.

Eines mein­er Lieblings­gedichte aus dem titel­geben­den Zyk­lus ist das auf Seite 19:
laubscher_19

Ins Netz gegangen (15.5.)

Ins Netz gegan­gen am 15.5.:

Aus-Lese #22

Nils Minkmar: Der Zirkus. Ein Jahr im Inner­sten der Poli­tik. Zwis­chen­bericht. Frank­furt am Main: Fis­ch­er 2013. 220 Seit­en.

Das vorzügliche Buch von Nils Minkmar ist — da darf man sich vom Unter­ti­tel nicht irreführen lassen — keine Reportage im eigentlich Sinne, und schon gar keine, die uns über Poli­tik und Macht wirk­lich aufk­lärt. Minkmar ist näm­lich zuallererst ein Meis­ter der Wahrnehmung, Beschrei­bung und Deu­tung von (poli­tis­chem) Han­deln als sym­bol­is­chen Han­deln: Er kann Zeichen lesen — da ist er guter Kul­tur­wis­senschaftler. Und er kann es präzise (be-)schreiben. Dabei beschränkt er sich im Zirkus aber nicht auf den Zeichen­charak­ter des von ihm beobachteten Wahlkampf von Peer Stein­brück und seinen Hand­lun­gen, son­dern verbindet das mit poli­tis­ch­er Erdung. So tauchen immer wieder die Fra­gen nach der tat­säch­lichen und medi­alen Macht der ver­schiede­nen Akteure auf. Sehr gut gefall­en hat mir, wie er seinen konkreten Gegen­stand — Peer Stein­brück und seinen Wahlkampf — in größere Kom­plexe ein­bet­tet, etwa in Über­legun­gen zum Ver­trauen in die/der Poli­tik, zur psy­chol­o­gis­chen Sit­u­a­tion der deutschen Bevölkerung 2013, zu Post­demokratie und den Medi­en.

Aber immer wieder ist auch Verzwei­flung zu spüren: Verzwei­flung, dass der Kan­di­dat, der so richtig und gut ist, an so vie­len eigentlich banalen und neben­säch­lichen Din­gen scheit­ert, dass so vieles ein­fach nicht funk­tion­iert (bei ihm selb­st, im Appa­rat, in der SPD, in den Medi­en …). Das wird manch­mal für meinen Geschmack etwas sug­ges­tiv. Deshalb fall­en vor allem die gantz konkreten Analy­sen beson­ders pos­i­tiv auf: Wie Minkmar das Wahl­pro­gramm und vor allem den Slo­gan der SPD (“Das Wir entschei­det”) auseinan­dern­immt und deutet, das hat große Klasse.

Immer wieder treibt ihn bei sein­er Beobach­tung des Wahlkampfs vor allem das Ver­hält­nis von Kan­di­dat und Partei um: Stein­brück schildert er als klu­gen, sach­lich und nuanciert denk­enden und argu­men­tieren­den Überzeu­gungstäter, die Partei vor allem als unfähig, chao­tisch und unwillig. Unwilligkeit kommt beim Kan­di­dat­en in Minkmars Beschrei­bung vor allem in einem Punkt auf: In der Weigerung, die Medi­en­mas­chine bzw. ihr Sys­tem wirk­lich zu bedi­enen und zu benutzen — was im Vere­in mit der unfähi­gen PR der Partei zu den entsprechen­den Katas­tro­phen führt.

Aber dann ist das Buch für sich auch ein biss­chen hil­f­los: Das ganze ist, wenn man es so beschreibt, halt ein Zirkus, da kann man nichts machen. Und wenn man, wie Stein­brück, nach eige­nen Regeln zu spie­len ver­sucht oder auf seinen bewährten Stan­dards behar­rt, scheit­ert man eben und ver­liert …

Wolf­gang Schlenker: Dok­tor Zeit. Solothurn: rough­books 2012 (rough­book 020) 54 Seit­en.

Ein kleines Erin­nerungs­buch an den 2011 ver­stor­be­nen Schlenker mit zwei Zyklen sein­er Gedichte. Auf­fäl­lig ist bei diesen schnell ihre sug­ges­tive Sprach-/Versmelodie mit den kurzen Versen. Die Sprache wird hier präg­nant durch Glasklarheit und efährt dadurch auch eine gewisse Härte. Immer wieder greift Schlenker auf kurze Paar­verse zurück: Knap­pheit und Dichte, starke Konzen­tra­tion auf Zustände und Ergeb­nisse sind vielle­icht wesentliche Merk­male sein­er Lyrik. Nicht so sehr inter­essieren ihn dage­gen Prozesse und Abläufe: Ver­ben sind deshalb gar nicht so bedeut­sam in diesen Texte:

genauigkeit
als gäbe es
keine gren­zen (sankt nun, 49)

Schlenkers Lyrik, die hier immer wieder um das Prob­lem der Frei­heit kreist (“gut wäre auch freier wille” (15)), entwick­elt dabei so etwas wie eine Topogra­phie des Denkens mit Orten der Reflek­tion und der Selb­stvergewis­serung. Wege, Pfade etc. spie­len hier eine beson­dere Rolle. Vor allem aber schafft sie es, durch ihre pointierten Erken­nt­nisse dabei sehr “schlau” zu wirken:

die zeit ist nun lin­ear
wie ein fadenkreuz

ich weiß du bist da
bevor ich glaube wer ich bin. (4)

Deut­lich wird das auch in dem wun­der­baren “Lich­tung” (8), für mich wohl das beste dieser Gedichte:

als ich einige glaubenssätze
zum ersten mal
laut nach­sprechen kon­nte
hörte ich den don­ner
in der leitung
legte auf
und wählte neu

Moni­ka Rinck: Hasen­hass. Eine Fibel in 47 Bildern. Ostheim/Rhön: Peter Engstler 2013. 40 Seit­en.
Hasenhass - der Umschlag

Hasen­hass — der Umschlag

Ein befremdlich­es und erheit­ern­des Buch: Moni­ka Rinck treibt sich schreibend und zeich­nend in ein­er Phan­tasiewelt herum, in der Hasen­hass ein geweisse Rolle spielt, in der Haydn zwis­chen Disko-Kugel und Scheiben­qualle disku­tiert wird und ähn­lich Unge­heuer­lichkeit­en geheuer sind. Das sind kurze Ver­suche in & mit Sprach- und Denkbe­we­gun­gen, dazu noch skurile Zeich­nun­gen in und um die Witze herum — vielle­icht kann man das auch als dozierende Sprach­spiele lesen, die assozia­tiv ver­ket­tet und mäan­dernd über das Nichts, die Leere und andere Abwe­sen­heit­en nach­denken (“unschöne Über­legun­gen zur Prax­is des Nicht­ens” (9)) und als eine “Reform der See­len­gram­matik” (14) erheit­ern. “Die Dinge ver­wan­deln sich, die Beziehun­gen bleiben beste­hen.” (37) heißt es im kurzen “Nach­trag”. Und so ver­wan­deln sich auch Text und Zeich­nung, Wort und Bild in dieser Fibel:

Der Wind der Apoka­lypse weht durch das kaputte Gedächt­nis. Und wieder tre­f­fen wir auf ein Ver­hält­nis von taumel­nder Äquiv­alenz. (7)

Der geme­in­ste Witz ver­steckt sich übri­gens auf der let­zten Seite, im Impres­sum — und ich bin mir immer noch nicht sich­er, ob das ein Witz sein soll oder nur ein banaler Fehler ist — nach der Lek­türe solch­er Texte sucht (und find­et) man eben über­all Sinn ;-):

Hinrichtung

Hin­rich­tung

Begriffe

Ganz ohne Anlass, nur aus Freude über die neueste E‑Mail-Liefer­ung vor eini­gen Tagen, sei hier noch ein­mal das “Begriff­sstu­dio” von Moni­ka Rinck emp­fohlen. Das ist eine span­nende Sache: Die Lyrik­erin sam­melt hier auf ein­er Web­seite (und per regelmäßiger E‑Mail-Liefer­ung eben) Begriffe im weitesten Sinn: Wörter, For­mulierun­gen, Phrasen, Halb­sätze, Ideen und vieles mehr. Die akutelle Aus­gabe (#3385–3436) enthält Trou­vaillen wie:

fear­Phone
dor­mi­to­rien schnar­chen­der home­re
grup­pen­biki­ni
junggeziefer
ein­verseelung des man­gels

Das ist eine der anre­gend­sten Lis­ten, die ich bish­er gese­hen habe — für alle Fre­unde der kreativ­en Sprachver­wen­dung sei sie deshalb drin­gend emp­fohlen.

Ins Netz gegangen (1.6.)

Ins Netz gegan­gen (29.5.–1.6.):

  • Mauert Luther nicht ein! — DIE WELT — Der His­torik Heinz Schilling ist mit den bish­eri­gen Vor­bere­itun­gen des Refor­ma­tions-Jubiläums 2017 nicht so ganz zufrieden …

    Die Kluft zwis­chen gegen­wart­sori­en­tiertem Verkündi­gungs­begehren und Ver­lan­gen nach his­torisch­er wie biografis­ch­er Tiefen­bohrung ist zu über­brück­en, will das Refor­ma­tion­sju­biläum nicht unter das hohe Niveau der auf das 20. Jahrhun­dert bezo­ge­nen Gedenkkul­tur unseres Lan­des zurück­fall­en. Es geht um die eben­so sim­ple wie fol­gen­re­iche Frage, wie viel Wis­senschaft das Refor­ma­tion­sju­biläum braucht und wie viel Wis­senschaft es verträgt. Denn nur auf ein­er soli­den his­torischen Basis ist eine nach­haltige Auseinan­der­set­zung mit dem “protes­tantis­chen Erbe” in der europäis­chen Neuzeit und glob­alen Mod­erne möglich.

  • “Es muss ja nicht alles von mir sein” — DIE WELT — Lit­er­atur — Frank Kas­par besucht Moni­ka Rinck und lässt sich von ihr erk­lären und zeigen, wie man heute Gedichte schreibt, ohne pein­lich und ner­vend zu sein (was ihn anscheinend ziem­lich über­rascht, dass das geht …):

    Wer in Moni­ka Rincks Texte ein­taucht, dem schwirrt bald der Kopf vor lauter Stim­men und Sprachen, die dort frei zusam­men­schießen. Deutsch, Englisch, Franzö­sisch, Ital­ienisch und Pfälzisch, innere tre­f­fen auf äußere Stim­men, rhyth­misch Aus­ge­feiltes auf bewusst geset­zte Brüche, Sprünge, Aus­rufe: Ha! Ach so! Hoho­ho! Die “Gis­cht der wirk­lichen gesproch­enen Sprache”, die Wal­ter Ben­jamin an Alfred Döblins Mon­tage-Roman “Berlin Alexan­der­platz” so begeis­tert hat, gurgelt zwis­chen den Zeilen und macht das Gewebe lebendig und beweglich.

  • Emmerich Joseph von Brei­d­bach zu Bür­resheim: Vorkämpfer der katholis­chen Aufk­lärung — FAZ -

    Emmerich Joseph von Brei­d­bach zu Bür­resheim, auch bekan­nt unter dem Spitz­na­men „Bre­it­fass von Schüttesheim“ — ange­blich trank er zu jed­er Mahlzeit sechs Maß Rhein­wein. Emmerich galt als offen­herzig und volk­snah, obwohl seine Ansicht­en so gar nicht in Ein­klang mit dem wun­der­gläu­bi­gen Barock-Katholizis­mus der kon­ser­v­a­tiv­en Land­bevölkerung standen. Er las Voltaire und Diderot, wurde schließlich zum bedeu­tend­sten Herrsch­er der katholis­chen Aufk­lärung. Beson­ders seine Schul­re­form wirk­te nach­haltig. Let­ztlich schuf die Ratio­nal­isierung des Kur­mainz­er Aus­bil­dungssys­tems die Grund­lage für die Rev­o­lu­tion in der Dom­stadt.

    Dass die Mainz­er den Wein lieben, ist also nichts Neues …

  • Lebens­mit­tel­speku­la­tion in der Frühen Neuzeit – Wie Wet­ter, Grund­herrschaft und Getrei­de­preise zusam­men­hin­gen | Die Welt der Hab­s­burg­er — Nahrungsmit­tel­speku­la­tion ist keine Erfind­ung und auch nicht nur ein Prob­lem des 21. Jahrhun­derts — wer hätte es gedacht .…:

    Die Preis­steigerun­gen waren jedoch nicht nur auf Wet­terkapri­olen zurück­zuführen, auch das Ver­hal­ten der weltlichen und kirch­lichen Grund­her­ren trug maßge­blich zum Anstieg der Getrei­de­preise bei.

  • »Wie ein Rausch« | Jüdis­che All­ge­meine — Ein Inter­view mit dem Klavier­duo Tal & Groethuy­sen über Wag­n­er, Alfred Pring­sheim und Israel:

    Darin liegt auch die Leis­tung des Bear­beit­ers. Er ste­ht ja ständig vor großen Fra­gen: Wie teile ich das auf? Wie kann ich möglichst viel vom Orig­i­nal unter­brin­gen, sodass es plas­tisch ist, aber nicht über­laden? Aber auch pianis­tisch real­isier­bar? Und es hat sich her­aus­gestellt, dass Alfred Pring­sheim, der eigentlich Auto­di­dakt war, mit die inter­es­san­testen und auch pianis­tis­chsten Lösun­gen gefun­den hat.

    Schön auch der Schlusssatz: “Und was Wag­n­er ange­ht, sind wir jet­zt wieder für eine Weile bedi­ent.” — ich glaube, das gilt nach diesem Jahr für alle …

  • Adress­comp­toir: Auf der Suche nach Grill­parz­er — Hein­rich Laube irrt durch Wien:

    Grill­parz­er, wo bin ich über­all hingera­then, um Dich zu find­en! — erster Hof, zweite Stiege, drit­ter Stock, vierte Thür! Es wirbeln mir noch die Beschrei­bun­gen im Kopfe. Nach ein­er vor­mit­täglichen Such­jagd stand ich endlich in ein­er schmalen, öden Gasse vor einem großen schweigsamen Hause

    Grill­parz­ers über­raschend beschei­dene Woh­nung kann man übri­gens im städtis­chen Wien-Muse­um besichti­gen.

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