Politiker, die die kostenlose Bereitstellung von Grundnahrungsmitteln, Wohnraum oder öffentlichem Nahverkehr als Einstieg in den Sozialismus verdammen würden, fördern die kostenlose Nutzung öffentlichen Raums für den individualisierten Automobilverkehr – so, als ob das Grundrecht auf Mobilität das Recht beinhaltete, mit dem eigenen Auto jederzeit überall hinfahren zu dürfen, nur weil man die Schäden, anders als bei Terroranschlägen, nicht sofort sieht.
Es gibt Momente medialen Überdrusses, da scheint mir Hölderlins Sprache die einzig mögliche. Eingängig und kristallin klar, transportiert sie in jeder Silbe dann mehr Sinn als eine Tageszeitung. An anderen Tagen erscheinen mir dieselben Verse dagegen dunkel und unverständlich, ihre Bedeutung unfassbar. Eines Tages, ich bin sicher, bin ich Hölderlin gewachsen.
Welzer: Gewalt ist ein Mittel sozialer Praxis” | Panorama → ganz ausgezeichnetes gespräch mit harald welzer über den g20-gipfel, gewalt, gesellschaft etc — wunderbar, wie genau und treffend er vieles einordnet, historisch und soziologisch — unbedingt ansehen!
Lyrik handelt von Strukturen, die Charakteren zugrundeliegen. Sie muss sich nicht den Persönlichkeiten und ihren Entwicklungen zuwenden, denn sie interessiert sich vor allem für die Strukturen von Welt und Denken, die die Sprache in unserem Bewusstsein geschaffen hat.Monika Rinck, Wir. Phänomene im Plural (2015), 26
Es gibt aber eine gewisse Freiheit. Die bewahrt man sich, indem man nur gute Fragen beantwortet, schlechte Fragen ablehnt oder schweigend quittiert und ungewollte Vereinnahmungen durch disruptive Handlungen erschwert. Im Zweifelsfall ist es hilfreich, immer mal wieder zu sagen: »Ich nicht« — ganz gleich, ob der Kontext das hergibt oder nicht. Und Gedichte zu lesen, um sich einzuüben in die Auslockerung der Pronomen — denn wir, das könnten jederzeit auch die anderen sein. Monika Rinck, Wir. Phänomene im Plural (2015), 40
Wozu Gender Studies? » Forschung & Lehre — ein kluger essay des mainzer soziologen stefan hirschauer über die lage und notwendigkeit der gender studies, der gegen “separatismus” und abschließung, aber unbedingt für die notwendigkeit der gender studies argumentiert
Monika Rinck: Sie wirbelt das Denken auf | ZEIT ONLINE — sehr schöne würdigung der großartigen monika rinck von tobias lehmkuhl (anlässlich (wobei das aber ein bisschen an den haaren herbeigezogen wirkt) der im herbst anstehenden verleihung des kleist-preises an rinck)
Auch in Rincks Gedichten stehen immer wieder scheinbar disparateste Dinge nebeneinander, die “Datenlage” verkehrt sich da in eine “Gartentrage”, und zum Sellerie wird “Schnitzler” serviert. Gesicherte Erkenntnisse haben in Rincks Werk keinen Platz. Im Gegenteil, die Welt vermeintlicher Gewissheiten wird hier skeptisch beäugt
Ludwig Winder: Der Thronfolger. Ein Franz-Ferdinand-Roman. Wien: Zsolnay 2014. 576 Seiten.
Ein schöner und guter Roman eines vergessenen Autors zu einem bekannten Thema. Ludwig Winder, in der Zwischenkriegszeit ein berühmter Autor und Journalist, hat mit dem “Franz-Ferdinand-Roman” Der Thronfolger ein richtig gutes Buch geschrieben, das leider lange Zeit ziemlich vergessen war. Der Wiener Zsolnay-Verlag hat es jetzt (mit einem Nachwort des Spezialisten Ulrich Weinzierl) neu aufgelegt — und so konnte ich auch diesem Roman, der 1937 das erste mal erschienen ist, kennen lernen.
Winder erzählt das Leben des Erzherzogs Franz Ferdinand trotz der ausführlichen Darstellung in strenger Chronologie des Lebens. Und weil er stilistisch dabei erstaunlich locker bleibt, lässt sich das trotz der etwas langatmigen Anlage und Struktur sehr gut lesen. Denn im Kern ist es eben ein starkes, lebendiges Porträt des Erzherzoges — der war ja, wenn man Winder glauben mag (und es gibt keinen Grund, das nicht zu tun), alles andere als ein leibenswürdiger Charakter: Spröde, harsch, krankhaft ehrgeizig und misstrauisch — ein Misanthrop reinsten Geblüts sozusagen. Die radikale personale Perspektive macht das zu einem dichten Porträt einer historischen Figur, ohne sie vorzuführen oder zu verurteilen. Interessant wird das auch dadurch, dass im Hintergrund des Textes immer die Frage mitschwingt: hätte die Geschichte nicht auch ganz anders ausgehen können? Das “faktische” Ende ist ja bekannt — hier wird aber immer wieder mit der Möglichkeit gespielt, dass die Geschichte des 20. Jahrhunderts in der Figur Franz Ferdinands auch andere Potenzen und Potenziale gehabt hätte — die aber ungenutzt bleiben (und vielleicht auch einfach bleiben müssen).
Unterdessen wurden in den Konferenzsälen der Generalstäbe, Ministerien und Botschaften, in den Salons der Munitionsfabrikanten, in den Schlössern und auf den Vergnügungsyachten der Staatsoberhäupter, in den Klubzimmern der Abgeordneten, in den Spielzimmern der Offizierskasinos, in den armen Mansardenkammern jugendlicher Verschwörer die Pläne ausgeheckt, die zum Kriege führen sollten. Leichtfertige Diplomaten, ehrgeizige Generäle, verbrecherische Geschäftemacher und halbwüchsige Patrioten, deren nationalistischer Rausch sich unversehens in Blutrauseh wandelte, arbeiteten einander in die Hände, ohne es zu wissen. Sie jagten einander Angst ein, um die Vernunft zu töten. Sie wollten die Welt mit Angst erfüllen, um die Verbrechen, die sie planten, zu entschuldigen. Sie sagten den Völkern, der Feind gönne ihnen das Leben nicht und wolle ihnen den Lebensraum verkürzen. Sie forderten den Feind heraus, den ersten Schuss abzugeben, das Signal zum großen Massenmord. Sie hatten Angst vor dem ersten Schuss, den sie inbrünstig ersehnten. (454)
Gute Gedichte scheinen mir das zu sein, der “Güte” schwer zu fassen sind: Da sind starke, anziehende Bilder, die ganz wunderbar selbstverständlich wirken. Da ist die Bewegung der Sprache, die sich ungehindert und wie von selbst enfaltet. Und das Fortschreiten im Text und der Welt, auch in der Zeit: immer weiter, nicht rasten, nicht ruhen … Da ist die szenische Narration, die immer wieder auftaucht. Die Reihung von kurzen Sequenzen, die geschnitten (Cut!) Bilder, die Realität und Sprache miteinander kommunizieren lassen (oder auch nicht), zumindest in Beziehung setzen, sie aufeinander treffen lassen. Schade nur, dass der Band von Dombrowski so kurz ist …
Archivare Schiffe zu falten den Eisbären dort unten wo ihnen die Schollen wegbrechen haben wir jetzt nicht das Papier
So filmen wir weiter ihr polares Treiben vom Hubschrauber aus (30)
Hans Pleschinski: Der Holzvulkan. Ein deutscher Festbrief. Mit einem Nachwort von Gustav Seibt. München: Beck 2014 (textura). 96 Seiten.
Eine kuriose Erzählung eines kuriosen Geschehens der an Kuriositäten nicht gerade armen deutschen Geschichte: Der Erzähler triff auf die Geschichte, die sich in Form eines Art Führers und Erzählers sowie der traumhaften Vergegenständlichung der historischen Bauten und Ansichten darstellt und zeigt. Es geht um einen etwas ausgeflippten deutschen Herzog des 17. Jahrhundert, den Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, der nicht nur (extrem ausufernde) Romane schrieb, sondern auch als Feste-Arrangeur und Mäzen sein kleines HZerzogtümchen zu einem europäischen Zentrum der Künste und der repräsentativen Darstellung machen wollte — und damit so grandios und krachend scheitert, dass es Pleschinski wunderbaren Stoff zum Erzählen gibt. Und auf den wenigen Seiten macht er das ausgesprochen lebendig und sympathisch, mit raffinierten erzählerischen Volten, die dem Gegenstand des Illusionstheaters wunderbar angemessen sind — und zugleich ein Beispiel, wie man kunstvoll Geschichte (nach-)erzählen kann. Also: eine schöne, unterhaltende und auch belehrende Lektüre für zwischendurch (zumal das Büchlein bei Beck auch nett gemacht und um einige Kupferstichen ergänzt wurde).
Deutsches Barock ist den Deutschen am fremdesten, weil’s dort nicht mal um Gemütlichkeit ging (75)
Patrick Maisano: Mezzogiorno. Salzburg u.a.: müry salzmann 2014. 152 Seiten.
Ein schönes und gelungenes erzählerisches Experiment, dieses Debüt von Maisano: Zwei Erzähler — auch noch beide Architekten — streiten sich um die Wahrheit des Erzählens, der Erinnerung und der Deutung der Gegenwart. Zugleich ist das auch ein Streit zweier Lebensentwürfe: Der geniale, faule und organisierte Architekt gegen den ordnungsfixierten, unternehmerischen, aber ideenlosen Bauingenieur und Planer. Die Menschen bleiben allein, die Familien tauchen als Idee und Erzählung öfter und wirklicher auf als in der “wahren” Realität: Patricks trockenes Berichten und Toms unbeschwertes Fabulieren konkurrieren um den Leser — glaubhaft sind natürlich beide nicht, wie sich zusehends herausstellt. Dass beiden Protagonisten und Erzählern am Ende dann ganz symbolisch und reell der Boden und das Fundament unter den Füßen wegrutscht — das Chalet, in dem sie sich befinden, fällt einem Bergrutsch zum Opfer — ist dann fast schon zu offensichtlich. Aber bis dahin hat man beim Lesen an diesem rasanten Text eine Menge Vergnügen gehabt.
Lutz Seiler: im felderlatein. Berlin: Suhrkamp 2010. 102 Seiten.
“daheim an den gedichten” ist Lutz Seiler: Auch wenn er jetzt für seinen Roman “Kruso” so sehr gelobt ist: Er ist vor alledem ein vortrefflicher und ausgesprochen kluger Lyriker. Schon pech & blende hat das gezeigt, im felderlatein gelingt es erneut: Hier ist eine eigene Stimme und ein eigener Denke. Seilers Gedichte machen immer wieder die Zeit selbst zum Thema:
[…] immer
in der schwebe, die schätze dieser zeit
- eine Zeit, die sich in der Erinnerung zeigt oder als Gegenwart der Vergangenheit im Augenblick der Empfindung und Wahrnehmung. Vor allem aber geht es ihm immer wieder um die Verbidungen und Verknüpfungen von Natur, Mensch und eben Zeit. Ein Gedicht wie “im felderlatein” macht das besonders deutlich. Schon der Titel verknüpft alle drei Bereiche: Den Menschen mit seiner Sprache — aber einer Sprache, die “ausgestorben” ist, die Sprache der Vergangenheit ist, aber in unserer Gegenwart immer noch lebt; und diese Sprache der Menschen eben schon im Kompositum verknüpft mit der Natur der “Felder” — die, sobald sie Felder sind, ja auch schon mit dem kultivierenden und abgrenzenden Menschen in Verbindung stehen. Dort, also “im felderlatein”, heißt es:
im nervenbündel dreier birken: umrisse der existenz & alte formen von geäst wie schwarzer mann & stummer stromabnehmer. all
die falschen scheitel, sauber nachgezogen im archiv der glatten überlieferung. gern
sagst du, es ist die kälte, welche dinge hart im auge hält, wenn große flächen schlaf wie winkelschleifer schleifen in den zweigen. so
sagt man auch: es ist ein baum & wo ein baum so frei steht muß er sprechen
Und das zeigt sich auch in Versgruppen, die deutlich machen, dass dem Menschen (noch) längst nicht Zugriff auf alles eigen ist:
du weißt noch immer nicht, daß es dich gibt, doch was geschieht ist begriffen, ins brüchige dunkel entleert sich das haus (48)
In seinem flanierenden Streifen durch Landschaften, Vergangenheiten und Typen (Rückkehr ist der entscheidende Begriff heir, nicht die Ankunft!) gelingen Seiler jedenfalls immer wieder großartige Gedichte, die als konzentrierte, starke Schöpfungen der Sprache und des Denkens so etwas wie Bestandsaufnahmen sind (nicht ohne Grund ist “inventur” eines der besten gedichte in diesem band):
[…] & unter der erde
liegen die toten & halten die enden wurzeln im mund (49)
Monika Rinck: I am the zoo. Ostheim: Peter Engstler 2014. 52 Seiten.
Wie schon bei Helle Verwirrung und Hasenhass belässt es Rinck auch hier nicht bei der Schrift, beim Text allein, sondern arbeitet mit Zeichnungen zuammen. Genauer gesagt: Sie arbeitete mti der Zeichnerin Nele Brönner zusammen. Die legte täglich eine von 24 Zeichnungen vor, zu der Rinck textete, was wiederum Brönner zur nächsten Zeichnung veranlasste etc: Die gegenseitigen Rückkopplungen entwickeln sich hier Seite für Seite zu einer Fabel — einer fabelhaften, phantastisch-spielerischen Geschichte. “Irritierte Verheißung” heißt es einmal im Text — und das passt recht gut: Gegenseitige Irritation beflügelt die Phantasie, die immer neues, anderes, ungeplantes verheißt. Und das dann nicht unbedingt einlöst: Dieses Buch (ich scheue mich, nur vom Text zu sprechen, die Zeichnungen sind schließliche elementarer Teil des Werkes) ist nie langweilig, weil die Entwicklung zwar zu beobachten ist, aber nie vorhersehbar wird. Und weil dazu noch die Sprache Monika Rincks zwischen Prosa und Lyrik schwankt, wenn man das so sagen darf, ihre poetische Qualtiät des Klangs und der Nicht-Alltäglichkeit besonders betont, ist das ein Werk ganz nach meinem Vergnügen: Ein Buch, das mit dem Untertitel Geschichten vom inneren Biest gar nicht so schlecht umschrieben ist.
Sibylle Berg: Der Tag, als meine Frau einen Mann fand. München: Hanser 2015. 256 Seiten.
In gewisser Weise ist das wieder ein typischer Sibylle-Berg-Roman — und das ist ja schon einmal ein guter Start. Der Klappentext des übrigens sehr schön gemachten und in feinem Leinen gebundenen Buch verheißt:
Chloe und Rasmus sind seit fast zwanzig Jahren verheiratet, und ja, alles bestens, man hat sich entwickelt, man ist sich vertraut. Aber dass dieses Leben nun einfach so weitergehen soll, ist auch nicht auszuhalten. […] Sibylle Berg stellt die Frage, die alle Paare irgendwann einmal beschäftigt: Ist Sex lebensnotwendig? Oder doch eher die Liebe?
Und das passt schon ganz gut: Berg erzählt (wieder einmal) aus der Hölle der Selbstfindung eines ziemlich frustrierten Paares. Es geht in wechselnder Perspektive aus der Sicht der beiden Protagonisten Rasmus und Chloe um das Abnutzen der Gefühle, um das Leiden am Leben, um die unendliche ernüchternde und nüchterne Ausweglosigkeit des Alltags. In kurzen Kapitel und klarer, knapper und präziser Prosa beschreibt Berg die aufdämmernde Katastrophe der Paarbeziehung, das Umschlagen, die völlige Zerstörung und Neuschaffung. Das ist Literatur, die kurzfristig unterhält und nachhaltig verstören kann, wie Richard Kämmerlings ganz richtig beobachtet hat. Und genau diese Kombination aus Unterhaltung und Verstörungspotenzial, aus Humor und tiefem, dunklem Ernst ist es, was mir an Bergs Büchern immer wieder zusagt.
Die Aufregung. Hat sich abgenutzt, wie alle Gefühle, ich hatte jedes schon einmal. Es wird kein neues dazukommen. Das ist das Grauen der mittleren Jahre. Die Langeweile und die noch allzu nahe Erinnerung an Zeiten, in denen alles zum ersten Mal passierte. (50)
außerdem gelesen:
Helene Hegemann: Axolotl Roadkill. Berlin: Ullstein 2010. 204 Seiten.
Jan Keupp, Jörg Schwarz: Konstanz 1414–1418. Eine Stadt und ihr Konzil. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2013. 213 Seiten.
Eine — vor allem im ersten Teil von Jörg Schwarz — sehr gut zu lesende Darstellung für Nicht-Experten des späten Mittelalters. Die erste Hälfte befasst sich mit dem eigentlichen Konzil, der Auflösung des großen abendländischen Schismas, bei dem aus drei Päpsten wieder einer wurde und nebenbei unter anderem noch Jan Hus verbrannt wurde. Das ist solide gemacht, geht aber naturgemäß nicht allzu sehr in die Tiefe. Im zweiten Teil geht es dann in der Darstellung von Jan Keupp um Konstanz selbst: Die Stadt, ihre Bürger, ihre Politik, ihre Wirtschaft. Das franst dann ein bisschen aus, der Themenstrauß wird arg bunt und es wirkt etwas oberflächlich und zufällig, die stärkere Kohärenz des ersten Teils wird nicht mehr erreicht. Das ist weniger ein Problem von Keupp, auch wenn er nicht ganz so ein guter Erzähler ist wie Schwarz (der manchmal freilich arg suggestiv schreibt), sondern eines der Sache — die ist einfach so vielfältig, dass sie nur durch den Ort der Überlieferung — Konstanz eben — zusammengehalten wird. Durch reichhaltige Quellenzitate (meist übersetzt), vor allem aus den Rats- und Gerichtsakten, wird das recht lebendig. Leider ist aber überhaupt kein Zitat nachgewiesen — das finde ich dann doch immer schade, weil es die Benutzbarkeit natürlich enorm einschränkt.
Pierre Bertaux: Hölderlin und die Französische Revolution. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969. 188 Seiten.
Ein Klassiker der Hölderlin-Forschung, der zu seiner Zeit, bei seinem ersten Erscheinen, ziemlich für Aufruhr sorgte. Denn Bertaux geht es darum, zu zeigen, dass Hölderlin Jakobiner — also Anhänger der Französischen Revolution war — und, das ist das wichtige an seinem Buch, dass sich das auch in der Dichtung Hölderlins niederschlägt. Den ersten Punkt kann ich gut nachvollziehen, beim zweiten wird es schwierig, da scheint mir Bertaux’ Lektüre von Hölderlins Lyrik als verschlüsselter Code, der seine politische Botschaft versteckt, zu einseitig und etwas übers Ziel hinaus zu schießen. Letztlich steht aber auch recht wenig zu konkreten Werken Hölderlins drin — dafür entwickelt Bertaux mit viel Mühe ein breites Panorama der Französischen Revolution und vor allem ihrer Rezeption in Deutschland und besonders in Tübingen und Schwaben, das weit, sehr, sehr weit über Hölderlin hinaus geht, aber andererseits zum konkreten Gegenstand der Untersuchung eben auch nur bedingt etwas beiträgt.
Worauf es ankam, war, an einem Beispiel zu zeigen, daß die »politische« Interpretation der Dichtung Hölderlins auch — und nicht zuletzt — einen gültigen Beitrag zu einem besseren Verständnis leisten kann und diese Dichtung wieder aufleben läßt in ihrer Aktualität, als laufenden Kommentar zum Problem der Revolution und des Mannes im Zeitalter der Revolutionen. (138)/
Oswald Egger: Tag und Nacht sind zwei Jahre. Kalendergedichte. Warmbronn: Ulrich Keicher 2006. 31 Seiten.
Kalendergedichte? Wirklich? Das würde mich bei einem Autor wie Oswald Egger allerdings überraschen. Und natürlich ist das weder Kalender noch Gedicht — zumindest nach herkömmlichem Verständnis. Aber das zählte für Egger ja (noch) nie. Ein anderer, ein neuer Gang durch’s (Natur-)Jahr hat er hier aufgeschrieben — Menschen kommen nicht vor (nur das „ich“, das aber durchaus häufig), höchstens ihre Artefakte wie die „Fahrstraße“ (14), die Wege etc, die in der Natur liegen – ein Jahresreigen, wirklich ein Reigen. Hier kann man sehen, was passiert, wenn sich ein Sprachmeister und ‑magier wie Egger der Natur annimmt: Ihren Erscheinungen und ihrem Erklingen. Das ist — wie immer — phantastisch: Kaum jemand kann Sprache so magisch und kraftvoll verformen wie Egger — und damit Bilder und Töne evozieren, die normale Sätze oder Wörter nicht aufrufen können: Die sind zu schwach, zu ausgelaugt, zu abgenutzt, sie treffen das einzigartige, besondere des jeweiligen Moments nicht — und deshalb gibt’s halt Neues. Das hat immer etwas von einem Abenteuer: Man weiß weder, wo der Satz einen hinführt, noch, was der nächste Satz, die nächste Seite/Doppelseite (ein „Gedicht“) bringt.
[…] wie farbig flammendere Träume / schreckten diese hier, kalbendsten selbander, als Vögel / im Fieberschlaf erstarrt, und floureszieren etwas (wie nichts) /| auf Granit, die wie Porphyrpflasterplatten der Zufluß-Gneise / schiefernder Wege, alles Firmament verbleite lichtgrau und / betrübt sich richtig — (richtig)? (2f.)
Gleich zwei Bücher auf einmal hier. Aber zwei ganz verschiedene Seiten von Monika Rinck. In Helle Verwirrung die “normale” Lyrikerin, in Rincks Ding- und Tierleben die Zeichnerin von kuriosen Dingen. Aber Rinck hat ja sowieso Auge und Ohr für das Ungewöhnliche, das Kuriose — etwas im “Begriffsstudio”. Das schlägt sich vor allem in den kühnen Bildern der Hellen Verwirrung nieder — und in den starken Titel der Gedichte, die — selten genug — wirkliche Titel sind: „erschöpfte konzepte: die liebe“, „immer nie“ … Und allein der Quitten-Zyklus ist mit seinen phantastischen, vielfältigen und vollkommen überraschenden Bildern den Band schon wert.
Weniger konnte ich dagegen mit dem Ding- und Tierleben anfangen: Das ist sehr spielerisch und humoristisch, mit Lust an Kontradiktionen und Null-Sinn und dem sprachlichen extemporieren. Aber einen rechten Zugang habe ich dazu nicht gefunden.
Mein Lieblingszitat:
in jedem buch gibt es zeilen, die man gar nicht lesen darf. (14)
Schöne Stellen gibt es aber unendlich viele. Zitierenswert erschien mir auch noch das hier — vielleicht gibt das ja einen Eindruck, warum ich das so gern gelesen habe:
das fand für dich auf der grenze statt, die meisten deiner gäste / haben sich entschieden für: normalität. einsam waren sie trotzdem. (16)/
Ein kleiner, bei Keicher sorgsam gedruckter Essay über die deutsche Sprache, ihre Struktur und ihren Laut, ihre Möglichkeiten und Schwierigkeiten. Zugleich geht es, der Titel verrät es ja, auch um die Möglichkeiten und Beschwernisse, Deutscher zu sein. Dieses Sein scheint sich aber — für Egger ja nicht besonders verwunderlich — vor allem oder hauptsächlich in der Sprache abzuspielen und zu entwickeln. Deswegen geht es also auch um solche Erlebnisse wie den “Schmuggel” von Sinn und Bedeutung in Wörter, Sätze und Texte. Oder um Klang und Musik, Lieder und Melos des Deutschen — vor allem natürlich des “Deutschlandsliedes”, der Nationalhymne. Themen sind außerdem: Der Umgang “der Deutschen” — und ihrer Dichter — mit ihrer Sprache und den ihr innewohnenden Möglichkeiten. In An- und Halbsätzen zeigen sich dabei auch einige Bausteine der Poetik Eggers — nämlich eben in seinem Verständnis der Sprache, die wohl etwas sehr offenes und fluides ist.
da gabelt sich die Gabe der Sprache in irrwische Wünschel, durch und durch die Gegend ohne Gegenstand als ein eingepeitschter Schlingerkreisel im ergatterten Mischmasch (5)
Oswald Egger: Nichts, das ist. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. 160 Seiten.
Außerdem noch diesen dritten Egger gelesen. Aber da sehe ich mich außerstande, etwas halbwegs kluges dazu zu sagen …
In den Gedichten oder 200 Strophen/4‑Zeiler mit angehängter/überlagerter Poetik & Sprachkritik & Sprachsuche im poetischen Modus steckt — so viel merke ich schon beim ersten Lesen — unheimlich viel drin. Hyperkomplex gibt sich das, vielleicht ist das aber auch nur gefakt? Beim (ersten) Lesen bleiben eigentlich nur Sinnfetzen, Assoziationen, Klänge, Klangwortreihen und ‑entwicklungen — aber davon so viel, dass es die Lektüre lohnt. Die 3–5fache Parallelität des Textes (der Texte? — was ist hier überhaupt “der” Text? und was machen die Zeichnungen/Grafiken da drin?), horizontal und vertikal auf den Seiten, vom Kolumnentitel oben bis zum unteren Rand, überhaupt das permanente Überkreuzen und Queren — von Sinn, von Einheit(en), von Text und Sprache machen schon eine “normale” Lektüre unmöglich — ein “Verstehen” erst recht. Immer neue Ansätze scheinen sich hier aufzutun, Iterationen vielleicht auch, oder Bohrungen in der Art von Versuchen mit offenem Ausgang: kein fester BOden, kein festes/dauerndes Ergebnis ist das einzig Ergebnishafte, was die Lektüre ergibt.
Zwei Beispielseiten — beinahe zufällig ausgewählt ;-) — mögen das illustrieren:
Scott Jurek with Steve Friedman: Eat & Run. My unlikely Journey to Ultramarathon Greatness. London u.a.: Bloomsbury 2012. 260 Seiten.
Ist das ein Laufbuch? Der Autorname lässt es vermuten: Scott Jurek ist einer der großen Ultraläufer. Aber Eat & Run — der Titel verrät es ja schon — dreht sich nicht nur ums Laufen. Im Gegenteil: Über weite Strecken geht es vor allem ums Essen. Nicht ohne Grund steht das im Titel vorne. Und zwar um das richtige Essen — nämlich die vegane Ernährung. Jurek schildert ausführlich seinen Weg von der “normalen” amerikanischen Kost des mittleren Westens zur veganischen Ernährung. Das geschieht bei ihm vor allem aus (scheinbar) gesundheitlichen Gründen und weil er meint zu beobachten, dass er sich damit besser fühlt. Zugleich plagen ihn aber auch lange und immer wieder die Zweifel, ob er mit veganen Lebensmitteln ausgewogen, gesund und in allen Bereichen ausreichend genährt ist, um Ultras zu laufen.
So recht warm geworden bin ich mit Eat & Run aber nicht. Obwohl ich die Leistungen Jureks sehr schätze, blieb mir seine Haltung zum Laufen, wie sie sich hier zeigt, einfach fremd. Mehr dazu steht in meinem Laufblog: klick.
Darauf bin ich nur zufällig durch einen Beitrag in der Poet #15 gekommen. Zunächst mal ist das ein schönes Buch, auch die Herstellung ist ein Teil des Kunstwerks: Traditioneller Bleisatz, feines Papier (unaufgeschnitten und deswegen doppelt — so wird aus 58 Seiten ein Buch), lebendiger Druck, schöner Einband, dazu die farbigen Bilder Laubschers — so macht man Bücher.
Wilhelm Müllers Winterreise — oder wohl doch eher Schuberts Liedzyklus — dient Laubscher als Anregung und Ausgangspunkt für seine kleinen Gedichte. Die haben etwas von Preziosen: Fein und feinsinnig beobachtet, sehr klug und sehr sprachgewandt, auch sehr geschliffen und fest, überhaupt nicht spielerisch. Teilweise funktionieren sie als Überschreibung: Einzelne Worte und Sätze aus dem “Original” sind als Zitate und Ankläge eingearbeitet — sehr dicht, fast nahtlos fügen sie sich in Laubschers wesentlich moderneren (wenn auch nicht avantgardistischen) Ton ein, der es trotz seiner Modernität schafft, vergleichsweise zeitlos zu bleiben. Ziemlich düster, grau und traurig ist diese Winterwelt hier. Aber, und das macht es lesenswert, es sind ganz viele Graus. Vielleicht könnte man sagen, dass Laubscher hier die Müllersche Winterreise überbietet: Mit mehr Realismus und zugleich mehr poetischer Entrückung geht das weiter als die romantischen Urgedichte. Und bleibt dabei andererseits auch doch sehr zurückhaltend — arg breit ist das thematische Feld nicht. Das macht aber nicht, weil es handwerklich sehr geschickt — etwa in der Verkettung der einzelnen Gedichte — und durchaus fein gemacht ist: (Be)rührend sind hier viele der Gedichte, emotional durch oder in ihrer Kunstfertigkeit.
Eines meiner Lieblingsgedichte aus dem titelgebenden Zyklus ist das auf Seite 19:
Wir haben inzwischen einige Ermüdungsphasen hinter uns, Pausen, wie sie zu jedem Gespräch gehören, Abschweifungen, aber Waltz strahlt immer noch. Nur für wenige Sekunden hatte er mal statt seines fröhlichen ein dunkel sardonisches Lächeln gezeigt, und selbst als ich in einem unaufmerksamen Augenblick ihm eine Rolle zuschrieb, die ein anderer gespielt hatte, schien er nicht verärgert zu sein. Offenbar hat er tatsächlich alle Frustration hinter sich gelassen.
Römische Legionen marschierten auch über Thüringischen Boden. Was schon lange vermutet wurde, macht der Fund eines römischen Marschlagers im Kyffhäuserkreis zur Gewissheit./
Nils Minkmar: Der Zirkus. Ein Jahr im Innersten der Politik. Zwischenbericht. Frankfurt am Main: Fischer 2013. 220 Seiten.
Das vorzügliche Buch von Nils Minkmar ist — da darf man sich vom Untertitel nicht irreführen lassen — keine Reportage im eigentlich Sinne, und schon gar keine, die uns über Politik und Macht wirklich aufklärt. Minkmar ist nämlich zuallererst ein Meister der Wahrnehmung, Beschreibung und Deutung von (politischem) Handeln als symbolischen Handeln: Er kann Zeichen lesen — da ist er guter Kulturwissenschaftler. Und er kann es präzise (be-)schreiben. Dabei beschränkt er sich im Zirkus aber nicht auf den Zeichencharakter des von ihm beobachteten Wahlkampf von Peer Steinbrück und seinen Handlungen, sondern verbindet das mit politischer Erdung. So tauchen immer wieder die Fragen nach der tatsächlichen und medialen Macht der verschiedenen Akteure auf. Sehr gut gefallen hat mir, wie er seinen konkreten Gegenstand — Peer Steinbrück und seinen Wahlkampf — in größere Komplexe einbettet, etwa in Überlegungen zum Vertrauen in die/der Politik, zur psychologischen Situation der deutschen Bevölkerung 2013, zu Postdemokratie und den Medien.
Aber immer wieder ist auch Verzweiflung zu spüren: Verzweiflung, dass der Kandidat, der so richtig und gut ist, an so vielen eigentlich banalen und nebensächlichen Dingen scheitert, dass so vieles einfach nicht funktioniert (bei ihm selbst, im Apparat, in der SPD, in den Medien …). Das wird manchmal für meinen Geschmack etwas suggestiv. Deshalb fallen vor allem die gantz konkreten Analysen besonders positiv auf: Wie Minkmar das Wahlprogramm und vor allem den Slogan der SPD (“Das Wir entscheidet”) auseinandernimmt und deutet, das hat große Klasse.
Immer wieder treibt ihn bei seiner Beobachtung des Wahlkampfs vor allem das Verhältnis von Kandidat und Partei um: Steinbrück schildert er als klugen, sachlich und nuanciert denkenden und argumentierenden Überzeugungstäter, die Partei vor allem als unfähig, chaotisch und unwillig. Unwilligkeit kommt beim Kandidaten in Minkmars Beschreibung vor allem in einem Punkt auf: In der Weigerung, die Medienmaschine bzw. ihr System wirklich zu bedienen und zu benutzen — was im Verein mit der unfähigen PR der Partei zu den entsprechenden Katastrophen führt.
Aber dann ist das Buch für sich auch ein bisschen hilflos: Das ganze ist, wenn man es so beschreibt, halt ein Zirkus, da kann man nichts machen. Und wenn man, wie Steinbrück, nach eigenen Regeln zu spielen versucht oder auf seinen bewährten Standards beharrt, scheitert man eben und verliert …
Ein kleines Erinnerungsbuch an den 2011 verstorbenen Schlenker mit zwei Zyklen seiner Gedichte. Auffällig ist bei diesen schnell ihre suggestive Sprach-/Versmelodie mit den kurzen Versen. Die Sprache wird hier prägnant durch Glasklarheit und efährt dadurch auch eine gewisse Härte. Immer wieder greift Schlenker auf kurze Paarverse zurück: Knappheit und Dichte, starke Konzentration auf Zustände und Ergebnisse sind vielleicht wesentliche Merkmale seiner Lyrik. Nicht so sehr interessieren ihn dagegen Prozesse und Abläufe: Verben sind deshalb gar nicht so bedeutsam in diesen Texte:
genauigkeit als gäbe es keine grenzen (sankt nun, 49)
Schlenkers Lyrik, die hier immer wieder um das Problem der Freiheit kreist (“gut wäre auch freier wille” (15)), entwickelt dabei so etwas wie eine Topographie des Denkens mit Orten der Reflektion und der Selbstvergewisserung. Wege, Pfade etc. spielen hier eine besondere Rolle. Vor allem aber schafft sie es, durch ihre pointierten Erkenntnisse dabei sehr “schlau” zu wirken:
die zeit ist nun linear wie ein fadenkreuz
ich weiß du bist da bevor ich glaube wer ich bin. (4)
Deutlich wird das auch in dem wunderbaren “Lichtung” (8), für mich wohl das beste dieser Gedichte:
als ich einige glaubenssätze zum ersten mal laut nachsprechen konnte hörte ich den donner in der leitung legte auf und wählte neu
Monika Rinck: Hasenhass. Eine Fibel in 47 Bildern. Ostheim/Rhön: Peter Engstler 2013. 40 Seiten.
Hasenhass — der Umschlag
Ein befremdliches und erheiterndes Buch: Monika Rinck treibt sich schreibend und zeichnend in einer Phantasiewelt herum, in der Hasenhass ein geweisse Rolle spielt, in der Haydn zwischen Disko-Kugel und Scheibenqualle diskutiert wird und ähnlich Ungeheuerlichkeiten geheuer sind. Das sind kurze Versuche in & mit Sprach- und Denkbewegungen, dazu noch skurile Zeichnungen in und um die Witze herum — vielleicht kann man das auch als dozierende Sprachspiele lesen, die assoziativ verkettet und mäandernd über das Nichts, die Leere und andere Abwesenheiten nachdenken (“unschöne Überlegungen zur Praxis des Nichtens” (9)) und als eine “Reform der Seelengrammatik” (14) erheitern. “Die Dinge verwandeln sich, die Beziehungen bleiben bestehen.” (37) heißt es im kurzen “Nachtrag”. Und so verwandeln sich auch Text und Zeichnung, Wort und Bild in dieser Fibel:
Der Wind der Apokalypse weht durch das kaputte Gedächtnis. Und wieder treffen wir auf ein Verhältnis von taumelnder Äquivalenz. (7)
Der gemeinste Witz versteckt sich übrigens auf der letzten Seite, im Impressum — und ich bin mir immer noch nicht sicher, ob das ein Witz sein soll oder nur ein banaler Fehler ist — nach der Lektüre solcher Texte sucht (und findet) man eben überall Sinn ;-):
Ganz ohne Anlass, nur aus Freude über die neueste E‑Mail-Lieferung vor einigen Tagen, sei hier noch einmal das “Begriffsstudio” von Monika Rinck empfohlen. Das ist eine spannende Sache: Die Lyrikerin sammelt hier auf einer Webseite (und per regelmäßiger E‑Mail-Lieferung eben) Begriffe im weitesten Sinn: Wörter, Formulierungen, Phrasen, Halbsätze, Ideen und vieles mehr. Die akutelle Ausgabe (#3385–3436) enthält Trouvaillen wie:
fearPhone dormitorien schnarchender homere gruppenbikini junggeziefer einverseelung des mangels
Das ist eine der anregendsten Listen, die ich bisher gesehen habe — für alle Freunde der kreativen Sprachverwendung sei sie deshalb dringend empfohlen.
Mauert Luther nicht ein! — DIE WELT — Der Historik Heinz Schilling ist mit den bisherigen Vorbereitungen des Reformations-Jubiläums 2017 nicht so ganz zufrieden …
Die Kluft zwischen gegenwartsorientiertem Verkündigungsbegehren und Verlangen nach historischer wie biografischer Tiefenbohrung ist zu überbrücken, will das Reformationsjubiläum nicht unter das hohe Niveau der auf das 20. Jahrhundert bezogenen Gedenkkultur unseres Landes zurückfallen. Es geht um die ebenso simple wie folgenreiche Frage, wie viel Wissenschaft das Reformationsjubiläum braucht und wie viel Wissenschaft es verträgt. Denn nur auf einer soliden historischen Basis ist eine nachhaltige Auseinandersetzung mit dem “protestantischen Erbe” in der europäischen Neuzeit und globalen Moderne möglich.
“Es muss ja nicht alles von mir sein” — DIE WELT — Literatur — Frank Kaspar besucht Monika Rinck und lässt sich von ihr erklären und zeigen, wie man heute Gedichte schreibt, ohne peinlich und nervend zu sein (was ihn anscheinend ziemlich überrascht, dass das geht …):
Wer in Monika Rincks Texte eintaucht, dem schwirrt bald der Kopf vor lauter Stimmen und Sprachen, die dort frei zusammenschießen. Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Pfälzisch, innere treffen auf äußere Stimmen, rhythmisch Ausgefeiltes auf bewusst gesetzte Brüche, Sprünge, Ausrufe: Ha! Ach so! Hohoho! Die “Gischt der wirklichen gesprochenen Sprache”, die Walter Benjamin an Alfred Döblins Montage-Roman “Berlin Alexanderplatz” so begeistert hat, gurgelt zwischen den Zeilen und macht das Gewebe lebendig und beweglich.
Emmerich Joseph von Breidbach zu Bürresheim, auch bekannt unter dem Spitznamen „Breitfass von Schüttesheim“ — angeblich trank er zu jeder Mahlzeit sechs Maß Rheinwein. Emmerich galt als offenherzig und volksnah, obwohl seine Ansichten so gar nicht in Einklang mit dem wundergläubigen Barock-Katholizismus der konservativen Landbevölkerung standen. Er las Voltaire und Diderot, wurde schließlich zum bedeutendsten Herrscher der katholischen Aufklärung. Besonders seine Schulreform wirkte nachhaltig. Letztlich schuf die Rationalisierung des Kurmainzer Ausbildungssystems die Grundlage für die Revolution in der Domstadt.
Dass die Mainzer den Wein lieben, ist also nichts Neues …
Die Preissteigerungen waren jedoch nicht nur auf Wetterkapriolen zurückzuführen, auch das Verhalten der weltlichen und kirchlichen Grundherren trug maßgeblich zum Anstieg der Getreidepreise bei.
Darin liegt auch die Leistung des Bearbeiters. Er steht ja ständig vor großen Fragen: Wie teile ich das auf? Wie kann ich möglichst viel vom Original unterbringen, sodass es plastisch ist, aber nicht überladen? Aber auch pianistisch realisierbar? Und es hat sich herausgestellt, dass Alfred Pringsheim, der eigentlich Autodidakt war, mit die interessantesten und auch pianistischsten Lösungen gefunden hat.
Schön auch der Schlusssatz: “Und was Wagner angeht, sind wir jetzt wieder für eine Weile bedient.” — ich glaube, das gilt nach diesem Jahr für alle …
Grillparzer, wo bin ich überall hingerathen, um Dich zu finden! — erster Hof, zweite Stiege, dritter Stock, vierte Thür! Es wirbeln mir noch die Beschreibungen im Kopfe. Nach einer vormittäglichen Suchjagd stand ich endlich in einer schmalen, öden Gasse vor einem großen schweigsamen Hause
Grillparzers überraschend bescheidene Wohnung kann man übrigens im städtischen Wien-Museum besichtigen.