Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: medien

Netzfunde der letzten Tage (11.4.–13.4.)

Mei­ne Netz­fun­de für die Zeit vom 11.4. zum 13.4.:

  • „Neger­kö­nig“ oder „Süd­see­kö­nig“ – Über Kin­der­bü­cher und Spra­che | Poli­ti­sches Feuil­le­ton | Deutsch­land­ra­dio Kul­tur – Der Kin­der­li­te­ra­tur-Spe­zia­list Hans-Hei­no Ewers noch ein­mal zu dem „Pro­blem“ „Kin­der­bü­cher und Spra­che“:

    Zur Pfle­ge eines lite­ra­ri­schen Oeu­vres durch Ver­la­ge gehört es nicht zuletzt auch, für Lese­rin­nen und Leser zu sor­gen. Das ist kei­ne leich­te Auf­ga­be bei einem Lese­pu­bli­kum, das his­to­ri­sche Tex­te noch nicht als sol­che, son­dern nur naiv zu rezi­pie­ren ver­mag. Was geht ver­lo­ren, wenn es nicht mehr „Neger­kö­nig“, son­dern „Süd­see­kö­nig“ heißt und man dadurch neue Leser­ge­ne­ra­tio­nen gewinnt?

  • Im Enten­teich – Der Medi­en­wan­del als inter­ne Revo­lu­ti­on – Thier­ry Cher­vel nimmt die Kün­di­gung der bei­den Spie­gel-Chef­re­dak­teu­re zum Anlass für eini­ge Gedan­ken über den Cha­rak­ter des momen­ta­nen Medi­en­wan­dels und sei­ne Kon­se­quen­zen für die Medi­en­häu­ser:

    Eigent­lich gibt es nur noch online. Die eigent­li­che Struk­tur der Öffent­lich­keit ist heu­te das Inter­net. Was nicht im Netz ist, ist nicht öffent­lich, kann nicht zir­ku­lie­ren, nicht auf Face­book dis­ku­tiert wer­den. Print ist eine der abge­lei­te­ten For­men, in denen Inhal­te auf­be­rei­tet wer­den kön­nen, TV eine ande­re. Eine Ein­sicht, die seit über fünf­zehn Jah­ren im Raum steht, lässt sich nun auch insti­tu­tio­nell nicht mehr abweh­ren: Alle Medi­en müs­sen von der neu­en Struk­tur der Öffent­lich­keit her gedacht wer­den. Die Angst­tech­nik der Medi­en­kon­zer­ne, die Online an die alten Insti­tu­te anbau­ten, statt die neu­en Leu­te von vorn­herei­en als inte­gra­len Bestand­teil des Unter­neh­mens zu inte­grie­ren, rächt sich heu­te. Die Abtei­lun­gen sind getrennt – die Medi­en haben aber allen­falls dann eine Über­le­bens­chan­ce, wenn sie sich als ein Gesam­tes den­ken.

  • Fir­ma Hal­de­mann: 70 Jah­re und kein biss­chen wei­se: Der klei­ne Prinz – Chris­ti­an Gott­schalk teilt mei­ne Ablehnung/​Abneigung gegen­über der Ver­göt­te­rung des ach-so-tol­len „Klei­nen Prin­zen“:

    Ansons­ten: Wenn man will, dass Kin­der ver­blö­den und einen schlech­ten Lite­ra­tur­ge­schmack ent­wi­ckeln, dann lese man ihnen den klei­nen Prin­zen vor.

    Auch sehr schön: sei­ne Inhalts­an­ga­be:

    Der Inhalt: Ein nied­lich gemal­ter Jun­ge hält einen in der Wüs­te abge­stürz­ten Pilo­ten durch die Abson­de­rung von Poe­sie­al­bums­weis­hei­ten davon ab sein Flug­zeug zu repa­rie­ren.

  • Dekan­tie­ren am Abgrund – Digital/​Pausen – Hans Ulrich Gum­brecht ist die­se Woche in Hoch­form und ver­dient des­halb ein aus­führ­li­ches Zitat:

    End­lich wird der kost­ba­re Trop­fen (den natür­lich seit den Rhein­wein-seli­gen Zei­ten von Kon­rad Ade­nau­er nie­mand mehr so nennt) ein­ge­schenkt, “wer mag pro­bie­ren,” sagt der Som­me­lier aus­nahms­wei­se leut­se­lig, und zu ant­wor­ten “die Dame!” gilt weni­ger als ein Zei­chen galan­ter Per­fek­ti­on denn als straf­wür­di­ges Des­in­ter­es­se (weil man sich bei jeder Stu­fe der Zere­mo­nie das Recht ver­die­nen muss, die teu­re Sor­te bestellt zu haben). In den Ver­ei­nig­ten Staa­ten mehr noch als in Euro­pa, ist es wich­tig, zunächst mit leich­tem Druck auf das unte­re Ende des Gla­ses den Wein, als sei man ein wenig unge­dul­dig, in leicht krei­sen­de Bewe­gung zu schwen­ken. Man fasst die Flüs­sig­keit respekt­voll-ernst ins Auge, hebt das Glas unter die Nase, riecht, ohne das Rie­chen in ein Geräusch umschla­gen zu las­sen, führt es end­lich zum Mund – und nippt. Danach der stil­le Moment der Refle­xi­on, beglei­tet von einer ver­hal­te­nen Mund­be­we­gung. Schief­ge­hen kann nicht mehr viel. Jetzt aller­dings zu sagen, dass der Wein “korkt,” ent­spricht einem will­fäh­ri­gen Lösen der Not­brem­se im ICE – alle kom­men aus dem Rhyth­mus, sind frus­triert und kön­nen doch erst­mal nichts dage­gen tun. Pein­li­cher sind auch hier Aus­ru­fe aus dem Regis­ter der Ade­nau­er-Zeit wie “kost­ba­res Tröpf­chen” oder, prot­zig statt lau­schig: “ganz vor­züg­lich” und “Don­ner­wet­ter!” Als zuläs­sig gel­ten allein Seman­ti­ken (die­ses Plu­ral in ihr Lexi­kon auf­zu­neh­men, emp­feh­le ich den wah­ren Wein­ken­nern) des Sub­li­men – oder bered­te Sprach­lo­sig­keit. “Mein Gott,” “nicht zu fas­sen,” alter­na­tiv ein ein­ver­nehm­li­ches aber nur leich­tes Nicken hin zum Som­me­lier, die beglück­te Sekun­de in den Augen der Gat­tin oder ein Aus­druck fas­sungs­lo­sen Trans­fi­gu­riert-Seins (das den meis­ten Gäs­ten eher schwer fällt).

  • Vom Ver­such, Krie­ge zu quan­ti­fi­zie­ren – Deus ex Machi­na – Vom Ver­such, Krie­ge zu quan­ti­fi­zie­ren (via Published artic­les)

Geschlechterspiel in absurder Übertreibung – Franz von Suppés „Fatinitza“ in Mainz

Fat­i­n­itza-Titel­bild
(Quel­le: http://www.planet-vienna.com/musik/operette/Handlungen/fatinitza.htm)

Eine Frau, die sich als Mann ver­klei­det, um sich dann als Frau aus­zu­ge­ben und schließ­lich in die­ser Rol­le wie­der einen Mann dar­zu­stel­len – so etwas gibt es nur in der Oper. Und in der Ope­ret­te. Franz von Sup­pé und sei­ne bei­den Libret­tis­ten Fried­rich Zell und Richard Genée haben das Geschlech­ter­wech­sel- und Ver­wirr­spiel in ihrer Ope­ret­te „Fat­i­n­itza“ auf die Spit­ze getrie­ben. Auch sonst geht es dort tur­bu­lent zu, genau­so aus­ge­las­sen wie auf der Büh­ne des Gro­ßen Hau­ses, wo Lydia Stei­er die „Fat­i­n­itza“ insze­niert. Die Geschich­te der 1876 in Wien urau­ge­führ­ten Ope­ret­te ist reich an zer­set­zen­der Komik und amü­san­ten Ver­wechs­lun­gen: Der rus­si­sche Leut­nant Wla­di­mir (gesun­gen von Patri­cia Roach) lang­weilt sich im Heer­la­ger und insze­niert mit sei­nen Kame­ra­den eine klei­ne Komö­die, für die er in Frau­en­klei­dung schlüpft. Gera­de als sie das Spiel betrei­ben, kommt aber ihr Gene­ral ins Lager, dem Wla­di­mir frü­her schon ein­mal als Fat­i­n­itza ver­klei­det begeg­net ist und der seit­dem in die geheim­nis­vol­le Frau ver­liebt ist. Da Wla­di­mir aber zugleich die Nich­te des Gene­rals begehrt, doch bis­her am Veto des Onkels schei­tert, gibt es nun eine Men­ge
Mög­lich­kei­ten für Tricks und Intri­gen, zumal Wla­di­mir auch noch auf die Unter­stüt­zung und Ein­mi­schung sei­nes Freun­des, eines Jour­na­lis­ten, set­zen kann.

Und wenn dann auch noch die Osma­nen – gegen die die Rus­sen eigent­lich Krieg füh­ren – ins Spiel kom­men und Lydia mit Wla­di­mir ali­as Fati­ni­za enfüh­ren, geht es natür­lich beson­ders hoch her. Selbst­ver­ständ­lich wer­den die bei­den „Frau­en“ aber von ihren Kame­ra­den wie­der aus dem Harem des Paschas befreit, damit das Hap­py End nach eini­gen wei­te­ren Ver­wick­lun­gen, Ver­wechs­lun­gen und Täu­schun­gen doch noch mög­lich wird: Am Ende löst sich – wie es sich gehört – alles in Wohl­ge­fal­len auf. Wla­di­mir hei­ra­tet Lydia, der Gene­ral trös­tet sich mit der angeb­lich bis in den Tod dau­ern­den Lie­be Fat­i­n­itz­as – das sie ein Phan­tom war, wird er nie erfah­ren …

Im Kai­ser­reich war die „Fat­i­n­itza“ ein gro­ßer Büh­nen­er­folg und wur­de über Jahr­zehn­te stän­dig gespielt. Seit dem Ers­ten Welt­krieg ver­schwand die Ope­ret­te aber von den Spiel­plä­nen und wur­de so gründ­lich ver­ges­sen, dass die Neu­in­sze­nie­rung in Mainz einer Wie­der­ent­de­ckung gleich kommt. Doch Lydia Stei­er sieht neben den unter­hal­ten­den Momen­ten durch­aus auch aktu­el­le Anknüp­fungs­punk­te: „In der „Fat­i­n­itza“ wird der Stil des Krie­ges in der Form der Ope­ret­te par­odiert“, erklärt die ame­ri­ka­ni­sche Regis­seu­rin, „auch die Ope­ret­te muss immer aktu­ell sein, mehr noch als die Oper – aber vor allem muss sie unter­hal­ten.“

Sie sieht in der Sup­pés Erfolgs­werk vor allem ein „Geschlech­ter­spiel in absur­der Über­trei­bung – und das ist ein­fach sehr, sehr lus­tig, eine gigan­ti­sche Abend-Unter­hal­tung, die auch ohne polit­sche Agen­da aus­kommt.“ Doch so ganz und gar unpo­li­tisch bleibt Stei­er in ihrer Insze­nie­rung nicht: „Natür­lich spielt auch die Rol­le der Medi­en eine gro­ße Rol­le – das ist wahr­schein­lich die ers­te Ope­ret­te, in der das aus­drück­lich the­ma­ti­siert wird: Wie media­le Bil­der – zum Bei­spiel von Kriegs­geg­nern – ent­ste­hen. Und wie sie wie­der auf­ge­löst wer­den, weil die Wirk­lich­keit dann doch immer ganz anders ist.“

Die sprit­zi­ge Musik Sup­pés, die vie­len Dia­lo­ge und die mit­rei­ßen­den Ensem­bles sor­gen aber dafür, dass aus der Ope­ret­te kein tro­cke­nes Lehr­stück wird. „Das fängt an wie eine Foto­gra­fie von Boris Mikhai­l­ov und endet in einer Mär­chen­hoch­zeit“, bringt die Regis­seu­rin Lydia Stei­er ihre Insze­nie­rung der „Fat­i­n­itza“ auf den Punkt: „Und um so zu unter­hal­ten, muss die Insze­nie­rung vor allem schnell und klar sein, in der Ope­ret­te will nie­mand gelang­weilt oder ver­wirrt sein.“

Pre­miè­re am 2. Novem­ber im Gro­ßen Haus des Staats­thea­ters Mainz. Die Pre­mie­ren­kri­tik gibt es hier: klick.
(geschrie­ben für die „Spiel­zeit“ der Main­zer Rhein-Zei­tung.)

Fatinitza-Suite

Eine Kla­vier­suite nach/​aus der Fat­i­n­itza
(Quel­le: http://www.albabarozzi.it/luisa_kapp_young_suppe.html)

Real-Satire?

Heu­te im Zug habe ich mit gro­ßem Ver­gnü­gen Nor­bert Hop­pes „Ich war Gut­ten­bergs Ghost“ gele­sen. Die Mit­rei­sen­den haben immer mal wie­der selt­sam geschaut, wenn ich aus hei­te­rem Him­mel laut auf­ge­lacht habe. Aber man­che Stel­len sind ein­fach zu wit­zig …

Dann sag­te der alte Mann [d.i. Kara­sek] wie­der: „Krull“ – und ging weg, den Hauss­mann holen, den Regis­seur, „Son­nen­al­lee“, Sie wis­sen Bescheid? Und der fand auch sofort: Felix Krull! Thea­ter­rol­le in Bochum … Ein Mann in Bom­ber­ja­cke, den sie Eichin­ger nann­ten, sag­te „Quatsch“ Lie­ber Film draus machen“, und hat­te schon den Bier­de­ckel für den Ver­trag vor­be­rei­tet … Boris Becker frag­te, ob er mal vor­bei­dür­fe zur Toi­let­te, und hat­te noch nicht ein­mal eine dun­kel­häu­ti­ge Frau dabei, jeden­falls auf dem Hin­weg. Und am Ende schau­te sogar Tho­mas Gott­schalk noch kurz her­ein (64)

Natür­lich ist das von vor­ne bis hin­ten erlo­gen, selbst der Autor­na­me ist ein Pseud­onym. Aber es ist ein­fach rich­tig gut gemacht, wie Hop­pe hier als angeb­li­cher Schul­freund und Adju­tant von „KT“ des­sen Cha­rak­ter, sei­ne Ent­wick­lung, den Auf­stieg und den plötz­li­chen Sturz schreibt – mit ihm als wesent­li­chen Draht­zie­her, ja sogar als Schöp­fer des „Poli­ti­kers“ Gut­ten­berg. Und als Ghost­wri­ter der „Gut­ten­berg­schen“ Dis­ser­ta­ti­on – als Betrü­ger, der von Gut­ten­berg betro­gen wur­de, weil die­ser ihn über die Her­kunft der Text­frag­men­te auf den angeb­li­chen 60 Dis­ket­ten täusch­te, so dass der Ghost­wri­ter gar nichts dafür konn­te, dass er zum Pla­gia­tor wur­de. Tra­gisch, so etwas …

Ich glau­be heu­te, die­ses Tech­no-Zeug war für ihn auch irgend­wie Wag­ner, nur mit ande­ren Mit­teln, aber wenn man genau hin­hört, ist es doch über­ra­schend ähn­lich im tie­fen Gedröh­ne. im hys­te­ri­schen Gefie­pe und in der gesam­ten Ufer­lo­sig­keit, ja, ich glau­be, er mein­te Wag­ner, wenn er Tech­no hör­te, das Tota­le, das All­um­fas­sen­de, das Gesamt­kunst­werk­haf­te hat­te es ihm eben ange­tan […]. (102f.)

Das gan­ze ist wun­der­bar mit vie­len klei­nen, tref­fen­den Sei­ten­hie­ben auf die Poli­tik der Bun­des­re­pu­blik und ihre Akteu­re, auf die deut­sche Gesell­schaft und die Medi­en, das Kul­tur­le­ben (nicht nur Hele­ne Hege­mann, auch Ingo Schul­ze kommt vor …) gespickt. Und es sti­lis­tisch gekonnt durch­ge­hend als simu­lier­te Beich­te bzw. „Jetzt sage ich euch mal die Wahrheit“-Rede geschrie­ben – so gut, dass man ein­fach eine Men­ge Spaß damit hat. Und an nicht weni­gen Stel­len wirkt die Sati­re dann doch wie­der so rea­lis­tisch, dass man fast Angst bekommt – Angst um ein Land und eine Gesell­schaft, in der so eine „Kar­rie­re“ und so vie­le Fehl­zu­schrei­bun­gen samt den Heils­er­war­tun­gen mög­lich sind.

Aber bei ARD und ZDF hieß es: Unse­re Zuschau­er mögen kei­ne Kin­der, die sind immer so laut und so frech und schie­ßen mit dem Fuß­ball Fens­ter­schei­ben kaputt, wenn man Mit­tags­schlaf hal­ten will. Sat.1 woll­te nur mit­ma­chen, wenn ein Pro­fi­ler aus den Lei­chen der Opfer auf den Täter schließt. Und das rich­ti­ge RTL bestand dar­auf, dass erst einbmal die Super­nan­ny mit allen Betei­lig­ten redet. Aber ich hat­te Ste­pha­nie ver­spro­chen, ihr Kon­zept unver­fälscht und ohne Wenn und Aber durch­zu­bo­xen. Da blie­ben am Ende nur der Home­shop­ping­ka­nal und RTL2. Na ja, und dann doch wohl lie­ber RTL2, nicht wahr? (142f.)

Das Kon­zept für die unsäg­li­che Sen­dung der Frau Gut­ten­berg hat­te natür­lich auch Hop­pe en pasant mal ent­wi­ckelt. Am Ende übri­gens, auch eine schö­ne Poin­te, fin­det Hop­pe doch wie­der einen neu­en Arbeits­platz:

Ich habe inzwi­schen wie­der einen Job, wie­der als Reden­schrei­ber und als Stich­wort­ge­ber, auch lei­der wie­der in Ber­lin, aber dafür dies­mal wenigs­tens hübsch im Grü­nen.
Das Schloss Bel­le­vue ist Ihnen ein Begriff?
Die Wulffs – irre net­te Leu­te, sag ich Ihnen. (Und die Haa­re von ihr! Die Haa­re!! Aber das ist ein ande­res The­ma.)

Nor­bert Hop­pe: Ich war Gut­ten­bergs Ghost. Eine Sati­re. Köln: Kie­pen­heu­er & Witsch. 156 Sei­ten. ISBN 978−3−452−04435−5.

Überall nur Blau

Auch wenn der Ein­band ganz gelb ist: „Blue­screen“ von Mark Greif ist ein fan­tas­ti­sches Buch. Mir war Greif ja noch unbe­kannt – eine ech­te Lücke. Die Essays, die er „Ein Argu­ment vor sechs Hin­ter­grün­den“ unter­ti­tel­te und die in der – von Greif mit­her­aus­ge­ge­be­nen – Zeit­schrift n+1 erschie­nen sind, dre­hen sich um Erschei­nun­gen des moder­nen Lebens der Gegen­wart, um den sexu­el­le Fetisch der Jugend­lich­keit, um Über- und Unter­se­xua­li­se­rung, um You­Tube oder um die Geschich­te des Hip­Hop (einer der bes­ten Essays über­haupt: „Rap­pen ler­nen“, der aus­ge­hend von einer ganz per­sön­li­chen Erfah­rung einen brei­ten Abriss des Hip­Hops und sei­ner Bedeu­tun­gen ent­wi­ckelt).

Die Ästhe­ti­sie­rung des gan­zen Lebens ist die zen­tra­le The­se Greifs. Aber dar­um spinnt sich ein wun­der­ba­rer Kos­mos der Beob­ach­tun­gen und Erklä­run­gen des All­tags der Gegen­wart und sei­ner media­len, ästhe­ti­schen und kul­tu­rel­len Erschei­nun­gen – so etwas wie eine Zeit­dia­gno­se in Schlag­lich­tern. Da geht es dann auch nicht mehr nur um die eigent­li­che Ästhe­ti­sie­rung, son­dern etwas all­ge­mei­ner um das Pro­blem der media­le Ver­mitt­lung unse­rer Erfah­run­gen und im Beson­de­ren um das Leben in Nar­ra­tio­nen: Greif sieht die Men­schen der Gegen­wart umstellt von Erzäh­lun­gen, die den Blick auf die „Wirk­lich­keit“ behin­dern. Da kann man frei­lich auch ande­rer Mei­nung sein: Die nar­ra­ti­ve und media­le Erfah­rung muss nicht unbe­dingt schlecht sein. Greif neigt sich da manch­mal etwas der kul­tur­pes­si­mis­ti­schen Sicht zu, die die media­le Ver­mitt­lung als Hin­der­nis ansieht, als Abkehr von einem – von Greif selbst durch­aus als sol­chen in sei­ner Pro­ble­ma­tik erkann­ten – idea­len Zustand der Unmit­tel­bar­keit.

Aber Essays wie „Rap­pen ler­nen“ oder auch der „Hoch­som­mer der Sexkin­der“ sind trotz­dem gro­ße Kul­tur­kri­tik: Erklä­rend, aber durch­aus von einem Stand­punkt aus kri­tisch hin­ter­fra­gend, ohne bes­ser­wis­se­ri­schen Ges­tus des Alles­wis­sers und alle­ser­klä­rers aller­dings, der sowie­so schon weiß, was er von allem hält. In die­ser Hin­sicht sind das eben Essays im bes­ten Sin­ne: Ver­su­che, Erklä­run­gen zu fin­den – Erklä­run­gen z.B. für Phä­no­me­ne wie das Rea­li­ty-Fern­se­hen. Und davon aus­ge­hend immer die Über­le­gung: Was macht das mit uns? Wie ver­än­dert das uns, unse­re Hal­tung, unse­re Wahr­neh­mun­gen, unse­re Ein­stel­lun­gen, unser Ver­hält­nis zur Welt und zu unse­ren Mit­men­schen. In bes­ter Essay-Tra­di­ti­on nimmt Greif sich da als Zweif­ler und Sucher auch nicht zu sehr zurück, son­dern bleibt als Per­son, als Erle­ben­der und Fra­gen­stel­ler, immer prä­sent. Dass das außer­dem klar for­mu­liert, über­zeu­gend argu­men­tiert und luzi­de geschrie­ben ist, gehört unbe­dingt zum posi­ti­ven Ein­druck die­ses emp­feh­lens­wer­ten Ban­des.

Mark Greif: Blue­screen. Ein Argu­ment vor sechs Hin­ter­grün­den. Ber­lin: Suhr­kamp 2011. 231 Sei­ten. ISBN 978−3−518−12629−5.

Leichtikeitslüge ganz leicht

Das Kern­ar­gu­ment von Hol­ger Nolt­ze, , ist sim­pel: „Klas­si­sche“ Musik – wie vie­le ande­re Kunst – ist kom­plex. Um sie erfolg­reich genie­ßen, ver­ste­hen, erle­ben zu kön­nen, darf die „Ver­mitt­lung“ – durch Didak­tik, Pro­jek­te, Events, Auf­füh­rung – die­se Kom­ple­xi­tät nicht – wie es ger­ne geschieht – über­mä­ßig stark redu­zie­ren, weil dadurch der Kern des Kunst­wer­kes ver­lo­ren gin­ge. Und das war’s dann auch schon – eigent­lich. Der Rest der 275 Sei­ten die­ses Buches ist auf­ge­bla­se­nes, etwas geschwät­zi­ges Hin und Her zum Stand der Bil­dung, zur Situa­ti­on des Mark­tes der Musik (ganz, ganz schlecht, die­ser Teil), zu den Medi­en und so wei­ter – ein kul­tur­kri­ti­scher Rund­um­schlag also, der aber erstaun­lich seicht bleibt, fin­de ich. Und der natür­lich sehr genau weiß, wie pro­ble­ma­tisch sol­che Gene­ral­ab­rech­nun­gen sind und des­halb stän­dig die ent­spre­chen­den Siche­run­gen ein­baut. Aber der ande­rer­seits auch wie­der nur bekann­te Ver­satz­stü­cke arran­giert und wenig selbst denkt. Und auch nie wirk­lich in die Tie­fe geht, son­dern zwar nicht an der ver­ab­scheu­ten Ober­flä­che, aber doch sehr nahe zu ihr bleibt. War­um das „das bes­te Musik­buch des Jahres,vielleicht das bes­te Musik­buch der letz­ten Jah­re über­haupt“ sein soll, wie Arno Lücker in der nmz aus­weich­lich des Schutz­um­schla­ges behaup­tet hat, erschließt sich mir nun über­haupt. Zumal es um die Musik selbst ja gar nicht (bzw. nur sehr anek­tdo­tisch am Ran­de) geht und auch gar nicht gehen soll. Wahr­schein­lich is das so ein Fall von Betriebs­blind­heit oder über­mä­ßi­gem Ver­har­ren im klei­nen Zir­kel der Musik­ver­mitt­ler, der so ein Buch so her­aus­ra­gend fin­det. Naja, zum Glück habe ich es nur aus der Biblio­thek und nicht selbst gekauft …

Hol­ger Not­ze: Die Leich­tig­keits­lü­ge. Über Musik, Medi­en und Kom­ple­xi­tät. Ham­burg: edi­ti­on Kör­ber-Stif­tung 2010.294 Sei­ten. ISBN 978−3−89684−079−0.

Verein ohne Mitglieder?

Irgend­wie ist das alles wie­der ganz trau­rig und per­vers: Da hat jemand die Idee, die Netz­ge­sell­schaft (was auch immer das ist) als Lob­by zu orga­ni­sie­ren und grün­det mit wahn­sin­ni­gem Tam­tam einen Ver­ein. Einen Vor­stand hat man auch schon – Mit­glie­der möch­te man aber mög­lichst kei­ne. Die könn­ten ja auch eine Mei­nung haben (das man das in einem Ver­ein nicht zu hoch hän­gen sollt mit der vol­len Betei­li­gung aller Mit­glie­der dürf­te jeder wis­sen, der bei so etwas schon mal mit­ge­macht hat …) – des­we­gen bit­tet man nur um Unter­stüt­zer und Hel­fer, nicht aber um Mit­glie­der. Was soll die­ser Mist? Wie will eine Lob­by­or­ga­ni­sa­ti­on Gehör fin­den, wenn Sie nie­man­den ver­tritt, nie­man­dem zei­gen kann, dass sie eine mehr oder min­der bedeu­ten­de Grup­pie­rung im Volk ist? Einen Ver­ein Mit­glie­dern zu öff­nen heißt ja noch lan­ge nicht zwangs­läu­fig, über alles basis­de­mo­kra­tisch abzu­stim­men. Auch der hat ja einen geschäfts­füh­ren­den Vor­stand. Aber den kann man als Mit­glied wenigs­tens (ab-)wählen und nicht nur „unter­stüt­zen“. Kein Wun­der, dass man sich bei sol­chen Unter­neh­mun­gen ganz vor­nehm „Digi­ta­le Gesell­schaft“ nennt und das „Ver­ein“ nicht so ger­ne her­aus­stellt. Das Vor­bild Gree­peace hat das mei­nes Wis­sens etwas anders gehand­habt – die waren/​sind zwar auch oft mehr als ein Ver­ein (über ihre etwas auf­dring­lich-gewalt­tä­ti­ge Kom­mu­ni­ka­ti­ons­stra­te­gie – will man das in der Netz­po­li­tik wirk­lich nach­ah­men?), aber sie waren eben doch – auch – ein nor­ma­ler Ver­ein mti allem Drum und Dran. Hier wird das – so sieht es im Moment, der zuge­ge­be­ner­ma­ßen noch sehr früh ist – (wie­der) nur ein eli­tä­re Kreis, der sich mit Namen und (Pseudo-)Organisation den Anspruch gibt, für vie­le zu spre­chen – die­se Vie­le aber auf kei­nen Fall hören mag oder ihnen gar Mög­lich­kei­ten der Mit­be­stim­mung der Rich­tung „ihrer“ Ver­tre­tung ein­zu­räu­men. Und weil ich mich zumin­dest am Ran­de doch zu den Vie­len zäh­le, rege ich mich hier gera­de etwas sehr auf …

Der schi­cke Name hat auch noch den Vor­zug, so schön schil­lernd viel­deu­tig zu sein: Gibt es eine digi­ta­le Gesell­schaft? Ist das ein Ziel? Ist das eine Gesell­schaft wie die Deut­sche Tisch­ge­sell­schaft Achim von Arnims oder meint das Gesell­schaft hier den sozio­lo­gi­schen Begriff? Fra­gen über Fra­gen – ein paar Ant­wor­ten hät­te man sich da doch schon gewünscht – denn eigent­lich will ich das ja gut fin­den, was die Recken um Mar­kust Becke­dahl da anzap­fen. Aber so geht das irgend­wie nicht so rich­tig. Und Leu­te, die so sehr in all­täg­li­che Kom­mu­ni­ka­ti­on ein­ge­bun­den sind wie die Grün­der die­ser Gesell­schaft soll­ten doch sol­che grund­le­gen­den Kom­mu­ni­ka­tio­nen im Griff haben. Wie kann man sie sonst ernst neh­men? Und natür­lich stellt sich auch gleich wie­der die Fra­ge: Ist das gut, hier über die Män­gel der Orga­ni­sa­ti­on zu meckern? Oder soll­te man das ob des heh­ren Ziels lie­ber las­sen um der Poli­tik nicht in die Hän­de zu spie­len?

guttenberg führt die deutsche presse vor

der neue wirt­schafts­mi­nis­ter (oder bes­ser gesagt: csu-pro­porz-minis­ter) führt die­ser tage wohl eher unge­wollt den stand der qua­li­tät der deut­schen medi­en, ins­be­son­de­re der qua­li­täts­pres­se und auch der bild, vor augen: angeb­lich ist die leis­tung der medi­en, das beto­nen sie ja immer ger­ne gegen die bösen inter­net­nut­zer, die ver­läss­lich­keit der infor­ma­tio­nen und ihre ein­ord­nung. und dann las­sen sie sich unge­prüft einen zusätz­li­chen vor­na­men auf­bin­den und fal­sche beschäf­ti­gun­gen (die in die­sem fal­le ja dem nach­weis der qua­li­fi­ka­ti­on die­nen sol­len) auf­schwat­zen. da brauch‘ man ja nix mehr dazu sagen …

neues aus der anstalt

das zdf hat ja seit kur­zem mal wie­der (end­lich) eine eige­ne polit-kaba­rett-sen­dung: „neu­es aus der anstalt„ mit Urban Pri­ol und Georg Schramm. ers­te aus­strah­lung im letz­ten jahr fand ich ziem­lich lang­wei­lig und form­los (nicht nur ich war der mei­nung, das das damals noch nicht der gro­ße wurf war – auch wenn es die ers­te polit­sa­ti­re/-kaba­rett-sen­dung des zdf seit lan­ger zeit war -, der autor der faz war ähn­li­cher mei­nung (immer­hin hat pri­ol jetzt einen wei­ßen kit­tel an …). ges­tern habe ich zufäl­lig beim zap­pen noch tei­le der sen­dung vom 15.5. gese­hen – und das war – zumin­dest teil­wei­se, noch nicht durch­ge­hend lei­der – rich­tig gut. und zu mei­ner über­ra­schung gab es beim zdf sogar die sen­dung als pod­cast zum down­load in vol­ler län­ge (aller­dings nur sie­ben tage lan­ge, danach muss man auf’s strea­ming aus­wei­chen). das muss­te ich ja gleich aus­nut­zen und des­halb jetzt mein kom­plet­tes urteil zur fünf­ten aus­ga­be von „neu­es aus der anstalt”: die idee der rah­mung ist immer noch recht locker. aber das macht nichts. denn urban pri­ol war gut in form. und dann läuft das fast von allei­ne. denn die­se fünf­te sen­dung mach­te fast den ein­druck eines solo-pro­gramm für ihn. die ande­ren schei­nen kaum mehr als mehr oder weni­ger aus­führ­li­che stich­wort­ge­ber, damit es zu so schö­nen beob­ach­tun­gen kom­men kann: „für das abwat­schen von unse­rer wort­hül­sen­frucht aus der uckerm­arck bin immer noch ich zustän­dig” (pri­ol). schön, dass die unbarm­her­zi­ge här­te und die rich­ten­de schär­fe bei pri­ol und schramm noch nicht abge­stumpft ist. nicht nur pri­o­ls kom­men­tar zu dem lang­sam immer mehr zum ratz­in­ger zurück­keh­ren­den papst: „die jugend muss ziem­lich ver­zwei­felt sein: wenn der papst zur ent­halt­sam­keit vor der ehe auf­ruft, jubelt ihm die jugend zu”; auch sei­ne hef­ti­ge abrech­nung mit der fdp-char­ge dirk nie­bel hat mich von tiefs­tem her­zen erfreut. die gäs­te: naja … die ent­schul­di­gung-serie von micha­el mit­ter­mei­er war eine recht schlech­te kopie von polt – vor allem aber ziem­lich lang­wei­lig …, auch moni­ka gru­ber hat mich nicht so begeis­tert. das mag aber bei bei­den dar­an gele­gen haben, dass sie nicht voll ins kon­zept pass­ten: poli­tisch ist an deren tex­ten näm­lich ziem­lich wenig, das sind net­te klei­ne gesell­schafts­be­ob­ach­tun­gen ohne beson­de­re schär­fe, witz oder ein­sicht – nichts für mich …

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