Lesen macht schon den größten Spaß, aber über Literatur zu reden ist fast genauso gut.
—Rainald Goetz, loslabern, 114
Lesen macht schon den größten Spaß, aber über Literatur zu reden ist fast genauso gut.
—Rainald Goetz, loslabern, 114
Zum heutigen “Welttag des Buches” darf und muss Georg Christoph Lichtenberg, der große Leser und Schreiber, zu Wort kommen lassen:
Wie man alte Bücher studiert, in der Absicht Wahrheit zu suchen, so kann man wohl zuweilen eine Ausbeute erhalten, die andern entgangen ist, allein man riskiert auch zuweilen, die beste Zeit seines Lebens zu verkuxen. [H 56]
oder
Es ist sehr gut, die von andern hundertmal gelesenen Bücher immer noch einmal zu lesen, denn obgleich das Objekt einerlei bleibt, so ist doch das Subjekt verschieden. [H 54]
— Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher
Ins Netz gegangen am 16.10.:
Das ist alles gut. Aber kein Journalismus, sondern politische PR. […] Das kann nicht die Zukunft des Journalismus sein, weil es eben kein Journalismus ist.
interessant finde ich ja auch die Leute, die — wie Lohmeyer — meinen, das sei so toll, weil hier technisch etwas neues ausprobiert würde. für micht sieht die hufftington post eher wie schlechte websites der 90er aus als neu und/oder technisch innovativ. und meinungsseiten gibt es doch auch schon einige — z.b. carta, european etc. pp.
Social Reading wäre also das nächste große Ding. Au weia, die Wortschöpfung selbst macht doch schon klar, dass diese Idee direkten Wegs aus der Hölle kommt: Entweder lese ich, oder ich bin ein soziales Wesen, aber doch nicht beides gleichzeitig! Ein Buch, das zugleich Schnittstellen in die sozialen Netzwerke hat, um dort Reaktionen anderer Leser abzufragen oder mein eigenes Lektüreerleben dorthin einzuspeisen, muss wohl Minderwertigkeitskomplexe haben: Bücher nämlich, die es nicht schaffen, mich in ihrer eigenen Welt gefangen zu halten bis zur letzten Seite, sind einfach nicht gut genug geschrieben. Drüber diskutieren kann ich hinterher immer noch, aber dazu brauche ich doch keine Heat Maps auf jeder Seite …
das ist genau der Punkt, warum ich da immer (noch) sehr skeptisch bin, bei den ganzen Ideen, ein “neues” Lesen zu ermöglichen. Und mir scheint, dass da oft ein sehr utilitaristisches Lesen gedacht wird, kein künstlerisches oder kunst-erfahrendes literarisches Lesen …
Aber wer solchermaßen reist, bringt die nötige Opferbereitschaft mit, dient er doch einem höheren Zweck, nämlich der Förderung europäischer Hochtechnologie, der Globalisierung und dem Wachstum. Zwar ist bis heute nicht geklärt, wie 168 Menschen in weniger als 30 Minuten in ein Flugzeug einsteigen sollen, wie und wo sie pinkeln können, aber die Triebwerke und das Radar funktionieren derart gut, dass das Flugzeug als sicherstes aller Verkehrsmittel gilt.
Gegen die Bildungshuberei, die viele Interpreten vor ihre Lektüren von Gedichte stellen, schreibt Jahn Kuhlbrodt1 auf “Postkultur” in einer kleinen Thesensammlung zur rezipientenorienten Hermeneutik lyrischer Sprachwerke (wenn man das alles so nennen mag …):
Verstehen setzt Bildung nicht voraus, sondern ist die Bildung. Der Rezipient also bildet sich im Erschließen des Textes selbst, entwickelt sein Vokabular und Werkzeug, und somit sich selbst.
Und gegen die Behauptung der “Unverständlichkeit”, die ja tatsächlich auch theoretisch gar nicht so einfach zu fassen ist, setzt er die ganz und gar klare, unzweideutige Ansage:
Es gibt keine unverständlichen Gedichte (kein einziges).
Und damit ist schon klar: Zum Lesen von Lyrik braucht es keine besonderen Kenntnisse, kein spezielles Expertenwissen um die literatur- und motivgeschichtlichen Zusammenhänge, kein wie auch immer geartetes Spezialwerkzeug im Umgang mit dem Text, sondern nur ( — ja, nur! Wenn das immer so einfach wäre!) einen offenen Verstand und die Bereitschaft, sich auf den jeweiligen Text auch wirklich einzulassen und ihn nicht nur abzufertigen (meiner Erfahrung nach ist das aber schon der schwierigste Schritt überhaupt bei jeder Lektüre: Sich auf den Text und seine Verfasstheit, seine Strukturen und seine Gemachtheit, seine Bilder, Gedanken und all das wirklich ganz einzulassen — das gelingt beileibe nicht immer!). Dann ist aber auch der dritte Punkt Kuhlbrodts sowieso schon klar, nämlich:
Jedes Gedicht ist konkret.
Tja. So ist das eben. Wirklich.
Über die Liebe des Lesens und der Bücher hat Charles Dantzig ein nettes, unterhaltsames Buch geschrieben. Eigentlich ist es gar kein Buch, sondern die Sammlung von kleinen Texten, die der französische Schriftsteller schon woanders publiziert hatte. Unter dem Titel Wozu Lesen? hat der Steidl-Verlag das als ein schönes Buch herausgebracht.
Wozu Lesen? ist in aller erster Linie ein absolutes, unbedingtes Glaubensbekenntnis zum Lesen, ein Lobpreis, eine Seligsprechung: Gott ist nicht nur lesend, “Gott ist auf der Bibliotheksleiter” (28) — der Gott der Lektüre nämlich. Die Lektüre ist es, die den lesenden Menschen verändert, begeistert und fasziniert: Immer wieder denkt Dantzig (sich und alle ernsthaften) den Leser als ein empathisch-denkenden Leser, einen empfänglichen Leser: Empfänglich in dem Sinne, das er offen für die Schönheit eines Textes, eines einzelnen Satzes oder eines bloßen Wortes ist …
Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass er zu dem Schluss kommt:
Wir lesen aus purem Egoismus, bewirken damit jedoch ungewollt etwas Altruistisches. Denn durch unsere Lektüre hauchen wir einem schlafenden Gedanken neues Leben ein. (32)
Das Vergnügen am Lesen selbst, am Vorgang des Entziffern, Aufnehmen, Absorbieren, Verwandeln, zu-eigen-machen — also am mitlebenden Lesen bestimmt seine Kaskade möglicher Antworten auf die zentrale Frage des Bandes, nämlich: Wozu ist das Lesen gut? Und was macht es mit uns? Zum Beispiel das hier:
Man liest ein Buch nicht um der Geschichte willen, man liest ein Buch, um mit seinem Autor ein Tänzchen zu wagen. (41)
Dantzig sammelt hier lauter kleine und kleinste Miniatur-Essays, die meist von eigenen Lektüre-Erlebnissen Dantzigs (die er ungeheuer präsent zu haben scheint) ausgehen und oft nur ein etwas ausgeführter Gedanke oder Einfall sind, verpackt in einer griffigen Sentenz oder Formulierung. Zum Beispiel klingt das so:
Die Leute bestehen auf ihre Gedankenlosigkeit. Dabei sind wir nur,[sic] während wir lesen, vor der Pädagogik sicher. (43)1
Immer wieder manifestiert sich in diesen Notaten (die mich in manchem an Henning Ritters Notizhefte erinnerten) die Ideee, gegen sich selbst zu lesen, sich selbst beim Lesen, durch das Lesen, mit dem Lesen in Frage zu stellen — also Neues zu probieren, Argumente auszutesten, Bücher/Autoren wiederholt zu lesen, um eine Abneigung zu überwinden … Im Grund ist das also das klassische Lektüre-Argument schlechthin: Lesen ermöglicht es, Alternativen zum Leben und der Welt zu erfahren und kennen zu lernen, sich selbst auszuprobieren in der Phantasie : “Stellen Sie sich selbst in Frage. Stellen Sie das in Frage, was SIe in diesem Moment lesen.” (66), — ja, genau, das gilt natürlich auch für diese Sentenzen, die Dantzigschen Schluss-Moralitäten seiner Kurztexte selbst:
Die einzige Fage, die man sich im Hinblick auf einen Chef stellen sollte, lautet: Würde er die Bibliothek von Alexandria anzünden? […] Man möge lieber meine Bücher verbrennen als Menschen. (50)
Egal, welche der vielen Modi des Lesens Dantzigs reflektiert und preisend betrachtet — leichtes und schweres Lesen, spielerisches und ernstes, unterhaltendes und forschendes: Immer ist das Lesen und Sein Leser begeisterungs- und liebesfähig. Selbst in der Ablehnung schlechter Bücher (es ist wohl kein Zufall, dass ein Leser (und Schriftsteller) wie Dantzig, dem es so sehr (fast ausschließlich) auf die empathische Lektüre ankommt, von Büchern und nicht von Texten spricht).
Wozu Lesen? selbst ist übrigens ein schönes Buch, bei dem Innen und Außen in gewisser Weise zur Deckung kommen — da merkt man die Hand des Verlegers … Und es ist ein Buch, wie es vielleicht wirklich nur ein Franzose schreiben kann (um dieses nationatlistische Klischee auch einmal zu bedienen=: leicht und elegant, mit Tiefgang, aber unaufgeregt, nie überheblich, dafür immer lustvoll — voller Lust an den Lektüren, die zu diesen Texten führten und voller Lust am Schreiben — und damit sprühend vor Lust am Verführen zum Lesen. Denn das ist ja das große, hehre und einzige Ziel dieses Buches: Nicht nur über das Lesen, seine vielerlei Vor- und Nachteile, zu sinnieren, sondern vor allem zum lustvollen, erfüllten Lesen anregen: “Leben ist Prosa, keine Poesie.” (63) — Vielleicht, vielleicht aber auch nicht — wenn man nur genug liest …
Charles Dantzig: Wozu Lesen? Göttingen: Steidl 2011. 205 Seiten. 16 Euro. ISBN 9783869303666.
Ich liebe ja so schwachsinnige Werbeumfragen. Da sieht man immer schön, was man als Kunde so zugetraut bekommt. Das Literaturmagazin (!) der “Zeit”, diesem (vermeintlichn) Hort des Restbildungsbürgertums, hängt die Ansprüche in seiner Leserumfrage gleich zu Beginn schön hoch:
Ich dachte ja, ich sehe nicht recht: Die meinen wirklich “pro Jahr”. Ich hatte eigentlich “pro Monat” gedacht — und selbst dann hätte “über 15” bei mir auch noch gestimmt …
… habe ich gelesen auf der Reise von Venedig zurück nach Mainz.
Ein Thesenroman. Reinsten Wassers. Und durchaus oberster Güteklasse. Aber eben mit all den typischen Problemen — Man merkt die Absicht und ist verstimmt (oder so ähnlich). Nun hielt sich die Verstimmung bei mir extrem in Grenzen, weil ich dem Ziel Zehs, dem freien statt dem sicheren Menschen voll zustimme und stark sympathisiere. Das ändert aber wenig daran, dass der Roman — der sich im Untertitel als “Ein Prozess” ausgibt (Gerichtsverhandlung und Entwicklung — natürlich ist beides gemeint … [und diese absolut durchschaubare Doppeldeutigkeit ist typisch für das Buch {leider, meines Erachtens, den semantische Leerstellen sind interpretativ meistens deutlich ergiebiger}, das künstlerisch eher mittelmäßig ist.]) Ok, die Informationsvergabe ist ganz gut gelungen, sie entwickelt sich halbwegs ungezwungen (am Anfang freilich mit hohem Tempo — und bewusst auf Klarheit der message ausgerichtet).
Worum geht’s? Um einen Staat der Zukunft, in dem Normalität als Gesundheit definiert wird (bzw andersrum) und Krankheit demzufolge abgeschafft ist — gesellschaftlich und privat. Das bedarf natürlich einiger Vorkehrungen … Jedenfalls gerät die Hauptfigur, eine Biologin, mit diesen staatlichen Vorkehrungen, genannt die “Methode”, in Konflikt. Und entwickelt sich zur Widerständlerin auf sehr eigenen Weise, zu einer Art Revolutionärin ohne Revolution. Jedenfalls zu einem Problem für die “Methode”, dass mit allen Mitteln gelöst und schließlich beseitigt werden muss — nicht ohne einige Verwicklungen natürlich. Durch die Montage verschiedener Ebenen, u.a. auch die eines Putzfrauen-Trios, wird das ganz harmonisch in seiner Vielstimmigkeit und Perspektivität. Aber nichtsdestotrotz bleibt die Botschaft klar: Ohne Freiheit ist der Mensch kein Mensch mehr, ist das Leben keine Leben mehr, sondern nur noch Existenz. Die mag zwar sorgen‑, schmerz- & krankheitsfrei sein, aber eben ohne Leben. Die Parallelen zu aktuellen Diskussionen sind wohl mehr als zufällig ;-). Und auch mehr als deutlich … Das, es klang oben ja schon an, mindert meine Begeisterung für dieses Buch etwas: Dass die Phantasie zu wenig ausgereizt wird, die Vorstellungkraft zu blass scheint — auch um den Preis der etwa unvollkommenen Vermittlung der zentralen Textbotschaft wäre das doch etwas spannender gewesen. Für mich zumindest. Aber man kann ja nicht immer alles haben.
Juli Zeh: Corpus Delicit. Ein Prozess. Frankfurt am Main: Schöffling 2009.
Das einzige, was das freie Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage im Geistigen derzeit behindert, ist der doofe Markt. Hoffentlich bricht er bald zusammen, damit man wieder zum Schreiben und Lesen kommt. Dieter Dath, Heute keine Konferzen, 25
… gleicht dem allnächtlichen Schlaf zar auf stets derselben Lagerstätt, — doch entfernt man sich träumend in bizarre, noch ungesehene Räume; Wüsten zu bösartigen u wundervollen Gefilden tun sich auf — am Selbenort das immer Andereleben, darin die Menschen weitaus weniger automatenhaft erscheinen, als in der Wachen-Welt Aldi-lebenden=Toten. Daher die tiefe Sehn-Sucht nach Büchern, eine Sucht die alles Bloß=Bildfertige bei weitem überdauert. Allerdings fällt die Enttäuschung angesichts schlechter Bücher danna uch größer aus, als etwa bei schlechten FIlmen. Der-Film ist 1 Produkt der Automatenwelt, & jegtlicher Automat, ob Maschine od Mensch, zerstört irgendwann sich selbst od wird von Seinesgleichen zerbrochen. Deshalb sind schlechte Bücher schlimmer als schlechte Bilder u noch schlimmer als heimtückischer Mord. -” — Reinhard Jirgl, Die Stille, 125
… ist die beste maxime zur heilung der vorurteile wider nationen, die man nicht kennt” — johann georg zimmermann, vom nationalstolze (1758)
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