Über die Liebe des Lesens und der Büch­er hat Charles Dantzig ein nettes, unter­halt­sames Buch geschrieben. Eigentlich ist es gar kein Buch, son­dern die Samm­lung von kleinen Tex­ten, die der franzö­sis­che Schrift­steller schon woan­ders pub­liziert hat­te. Unter dem Titel Wozu Lesen? hat der Stei­dl-Ver­lag das als ein schönes Buch her­aus­ge­bracht.

Wozu Lesen? ist in aller erster Lin­ie ein absolutes, unbe­d­ingtes Glaubens­beken­nt­nis zum Lesen, ein Lobpreis, eine Seligsprechung: Gott ist nicht nur lesend, “Gott ist auf der Bib­lio­thek­sleit­er” (28) — der Gott der Lek­türe näm­lich. Die Lek­türe ist es, die den lesenden Men­schen verän­dert, begeis­tert und fasziniert: Immer wieder denkt Dantzig (sich und alle ern­sthaften) den Leser als ein empathisch-denk­enden Leser, einen empfänglichen Leser: Empfänglich in dem Sinne, das er offen für die Schön­heit eines Textes, eines einzel­nen Satzes oder eines bloßen Wortes ist …

Deshalb ist es auch nicht ver­wun­der­lich, dass er zu dem Schluss kommt:

Wir lesen aus purem Ego­is­mus, bewirken damit jedoch unge­wollt etwas Altru­is­tis­ches. Denn durch unsere Lek­türe hauchen wir einem schlafend­en Gedanken neues Leben ein. (32)

Das Vergnü­gen am Lesen selb­st, am Vor­gang des Entz­if­fern, Aufnehmen, Absorbieren, Ver­wan­deln, zu-eigen-machen — also am mitleben­den Lesen bes­timmt seine Kaskade möglich­er Antworten auf die zen­trale Frage des Ban­des, näm­lich: Wozu ist das Lesen gut? Und was macht es mit uns? Zum Beispiel das hier:

Man liest ein Buch nicht um der Geschichte willen, man liest ein Buch, um mit seinem Autor ein Tänzchen zu wagen. (41)

Dantzig sam­melt hier lauter kleine und kle­in­ste Miniatur-Essays, die meist von eige­nen Lek­türe-Erleb­nis­sen Dantzigs (die er unge­heuer präsent zu haben scheint) aus­ge­hen und oft nur ein etwas aus­ge­führter Gedanke oder Ein­fall sind, ver­packt in ein­er grif­fi­gen Sen­tenz oder For­mulierung. Zum Beispiel klingt das so:

Die Leute beste­hen auf ihre Gedanken­losigkeit. Dabei sind wir nur,[sic] während wir lesen, vor der Päd­a­gogik sich­er. (43)1

Immer wieder man­i­festiert sich in diesen Notat­en (die mich in manchem an Hen­ning Rit­ters Notizhefte erin­nerten) die Ideee, gegen sich selb­st zu lesen, sich selb­st beim Lesen, durch das Lesen, mit dem Lesen in Frage zu stellen — also Neues zu pro­bieren, Argu­mente auszutesten, Bücher/Autoren wieder­holt zu lesen, um eine Abnei­gung zu über­winden … Im Grund ist das also das klas­sis­che Lek­türe-Argu­ment schlechthin: Lesen ermöglicht es, Alter­na­tiv­en zum Leben und der Welt zu erfahren und ken­nen zu ler­nen, sich selb­st auszupro­bieren in der Phan­tasie : “Stellen Sie sich selb­st in Frage. Stellen Sie das in Frage, was SIe in diesem Moment lesen.” (66), — ja, genau, das gilt natür­lich auch für diese Sen­ten­zen, die Dantzigschen Schluss-Moral­itäten sein­er Kurz­texte selb­st:

Die einzige Fage, die man sich im Hin­blick auf einen Chef stellen sollte, lautet: Würde er die Bib­lio­thek von Alexan­dria anzün­den? […] Man möge lieber meine Büch­er ver­bren­nen als Men­schen. (50)

Egal, welche der vie­len Modi des Lesens Dantzigs reflek­tiert und preisend betra­chtet — leicht­es und schw­eres Lesen, spielerisches und ern­stes, unter­hal­tendes und forschen­des: Immer ist das Lesen und Sein Leser begeis­terungs- und liebesfähig. Selb­st in der Ablehnung schlechter Büch­er (es ist wohl kein Zufall, dass ein Leser (und Schrift­steller) wie Dantzig, dem es so sehr (fast auss­chließlich) auf die empathis­che Lek­türe ankommt, von Büch­ern und nicht von Tex­ten spricht).

Wozu Lesen? selb­st ist übri­gens ein schönes Buch, bei dem Innen und Außen in gewiss­er Weise zur Deck­ung kom­men — da merkt man die Hand des Ver­legers … Und es ist ein Buch, wie es vielle­icht wirk­lich nur ein Fran­zose schreiben kann (um dieses nation­atlis­tis­che Klis­chee auch ein­mal zu bedi­enen=: leicht und ele­gant, mit Tief­gang, aber unaufgeregt, nie über­he­blich, dafür immer lustvoll — voller Lust an den Lek­türen, die zu diesen Tex­ten führten und voller Lust am Schreiben — und damit sprühend vor Lust am Ver­führen zum Lesen. Denn das ist ja das große, hehre und einzige Ziel dieses Buch­es: Nicht nur über das Lesen, seine viel­er­lei Vor- und Nachteile, zu sin­nieren, son­dern vor allem zum lustvollen, erfüll­ten Lesen anre­gen: “Leben ist Prosa, keine Poe­sie.” (63) — Vielle­icht, vielle­icht aber auch nicht — wenn man nur genug liest …

Charles Dantzig: Wozu Lesen? Göt­tin­gen: Stei­dl 2011. 205 Seit­en. 16 Euro. ISBN 9783869303666.

Show 1 foot­note

  1. Die Kom­maset­zung ist hier ein echt­es Ver­brechen am Text, das ich aber der Über­set­zerin und nicht dem Autor anlaste …