In Erinnerung an die Schuman-Erklärung begeht die Europäische Union den 9. Mai bereits seit vielen Jahren als Europatag. Europaweit finden heute Feste und Veranstaltungen statt, um die europäische Idee, die Errungenschaften der europäischen Integration und das bürgerschaftliche Engagement für länderübergreifenden Austausch und Verständigung zu feiern.
Nur eines ist der Europatag noch nicht: ein gesetzlicher Feiertag. Das Land Berlin hat jetzt die Chance, das zu ändern.
Im Korsett des Turbokapitalismus | SZ → im gegensatz zu gerhard mätzigs etwas herumeiernden sowohl-als-auch-artikel fordert laura weissmüller einen guten punkt, bevor man über die angeblich bessere leistung der nachgebauten pseudo-altstadt in frankfurt diskutiert:
Und genau deswegen macht es keinen Sinn, das neue Frankfurter Altstadtquartier in Stellung gegen eine Architektur zu bringen, die versucht, auf die Probleme unserer Zeit zu reagieren. Wer die Qualitäten beider Richtungen — hier die Bauten der Altstadtfreunde, dort die der Avantgardisten — ernsthaft vergleichen möchte, müsste erst mit derselben Sorgfalt, Detailfreude und Unterstützung der Baubehörde ein ähnlich dichtes Stück Stadt, und zwar in gleicher zentraler Lage, in zeitgenössischem Gewand bauen lassen. Ansonsten ist es unlauter, eine Architektur für ihre Unbehaustheit verantwortlich zu machen, wenn man sie aus Kostengründen genau in dieses Korsett zwingt.
Derart zahlreich sind die Bezüge ausserhalb und innerhalb seiner Disziplin, derart vielfältig ist Genettes Einfluss auf die Geisteswissenschaften insgesamt, dass es letztlich wohl diese totalisierende Unabhängigkeit von Schulen und Denkrichtungen ist, die sein Werk auszeichnet.
Langfristig wäre es gut, die Kategorie Geschlecht aufzulösen, statt sie zu dramatisieren. Das funktioniert neben dem Streuen auch mit neutralisierenden Pronomen im Plural wie “alle”, “viele” oder “manche”. Außerdem kann man auch anstelle von Personenbezeichnungen abstraktere Begriffe verwenden, zum Beispiel: “Das Institut hat entschieden” anstelle von “Der Institutsleiter hat entschieden” und so weiter. Allerdings kommt das immer auf den Kontext an. Feste Rezepte gibt es nicht, Kreativität ist gefragt. Dazu gehören auch die zunehmenden Präsenspartizipien im Plural wie “Studierende”. Singulare wie “der Studierende” taugen dagegen nicht, da Singulare immer mit Genus aufgeladen sind. Meine Erfahrung ist, dass es weniger eine Frage der Möglichkeiten als des Willens ist.
Ich glaube, momentan ist eher das Problem nicht so sehr, dass die Leute nicht lesen wollen oder nicht lesen können, sondern dass es ein bisschen demi mode ist, und ich habe aber den Eindruck, dass es sich ändert und dass das Lesen wieder zurückkommt,
“Gewonnen hat die deutsche Nation” | Zeit → noch ein älteres interview, das schon lange in meiner leseliste schlummert: georg schmidt spricht über den dreißigjährigen krieg (die leserkommentare ignoriert man aber besser …)
Selbst in Überwachungspraktiken begabte Lehrende werden feststellen, dass sie trotz einzelner Siege über besonders auffällige Drückeberger am Ende diese Kontrollkämpfe verlieren werden. Die Kreativität von Studierenden beim Erfinden von Wegen, diese Kontrollen zu unterlaufen, wird immer größer sein als die Kreativität von Lehrenden im Erfinden neuer Wege der Kontrolle. Anwesenheitslisten sind deswegen ein stumpfes Schwert, um das Leistungsniveau von Studierenden anzuheben. […] Das Problem der Abwesenheit von Studierenden ist also nicht vorrangig ein Problem der Qualität der Lehrenden, sondern liegt vielmehr in der Gestaltung der Studiengänge selbst […]
Statt auf das Problem der Abwesenheit mit dem eher brachialen Mittel der Anwesenheitsliste zu reagieren, gäbe es eine Alternative. Man könnte chronische Abwesenheiten – oder Anwesenheiten, die nur über Anwesenheitslisten durchgesetzt werden können – als ein Zeichen dafür sehen, dass irgendetwas in dem Studiengang nicht stimmt.
Trump ist der Geburtshelfer von “Me Too” | SZ → eine gute — und wie mir scheint, sehr treffende — einordnung von hedwig richter der #MeToo-bewegung in den wandel von männer-/männlichkeitsbildern und die geschichte der gleichberechtigung
Die Empörung über die Gewaltigen, die sich der Leiber der anderen bedienen, ist mehr als ein Hashtag und etwas anderes als eine Hetzjagd. Sie ist das Ende der letzten Selbstverständlichkeit: Das Zweifel- und Bedenkenlose einer männlichen Herrschaft, das in die Körper eingeschrieben war, scheint endgültig außer Kraft gesetzt zu sein.
The Horizon of Desire | Longreads → ein hervorragender essay von laurie penny über konsens, rape culture, männlich- und weiblichkeit und die damit einhergehenden (stereotypen) erwartungen an das verhalten beim sex
Rape culture is not about demonizing men. It is about controlling female sexuality. It is anti-sex and anti-pleasure. It teaches us to deny our own desire as an adaptive strategy for surviving a sexist world. […] But unless we talk about desire, about agency, about consent, then we’ll only ever be fighting this culture war in retreat. It’s a real war, one that impacts our bodily autonomy and our economic and political power. The battle for female desire and agency goes way beyond the bedroom, and it’s a battle that right now everyone is losing.
Wir können weder auf den Islam- noch den Europabegriff verzichten, aber die Verwendung beider Begriffe ist sehr viel komplizierter als gemeinhin angenommen wird. Wir tun gut daran, die Grenzen zwischen „uns“ und „den Anderen“ fließend zu halten und die Grundlage einer geeinten Menschheit höher zu setzen. Es wäre schon viel geholfen, zwischen spätantikem, mittelalterlichem und modernem Islam und Europa zu differenzieren: Denn der „Islam“ ist kein außerhistorisches Phänomen.
Insbesondere vor dem Hintergrund des erhöhten Ausstoß von gesundheitsgefährenden Luftschadstoffen stellt sich daher die Frage, ob der Dieselantrieb seine Stellung in Deutschland behalten sollte. Diese ist auch vor dem Hintergrund zu beantworten, dass der Ottomotor im Vergleich zum Dieselmotor umfangreiche CO2-Reduktionspotenziale besitzt und Alternativen zu konventionellen Antrieben konkurrenzfähig werden.
Die steuerliche Bevorzugung von Diesel-Pkw wie auch Dieselkraftstoff setzt Fehlanreize und erzeugt Rebound-Effekte, welche eine negative Klimaschutzwirkung zur Folge haben. Die Diskussion, ob der Diesel diese Begünstigung weiterhin genießen soll und – vor dem Hintergrund der hohen Folgekosten aufgrund von Gesundheitsschäden – weiterhin genießen darf, ist daher überfällig.
Wer solche Thesen aufstellt, wird selbst zum Konstrukteur, zum Konstrukteur einer Postmoderne, die mit der ‚Realität‘ der Postmoderne nichts zu tun hat. Und er wird zum Konstrukteur eines Realismus, der blind ist für die durch Konstruktionen hergestellte Realität. … Wer etwas als konstruiert voraussetzt, sagt damit nicht, dass das Konstruierte nicht real sei. … Wenn man nun aber die konservative, rechtspopulistische Mimikry von postmodernen Begriffen als ‚Postmoderne‘ liest, dann ist wirklich Hopfen und Malz verloren. Dagegen hilft nur das Studium der postmodernen Theorien selbst. Denn diese eignen sich noch immer besonders gut dazu, diejenigen Konstruktionen, die ihren Konstruktionscharakter leugnen, aber auch diejenigen, die im Gewand der Subversion auftreten, zu analysieren.
Wenn Kultur im gegenwärtigen pluralistischen Gesellschaftsmodell, das in den einzelnen europäischen Ländern unterschiedlich stark oder gering greift, nicht mehr an den Mann als aufgrund einer vermeintlichen Geschlechtsidentität Kulturschaffenden gebunden ist oder gebunden werden kann, ist Europa als Kultur im Singular nicht mehr als Produkt des kulturschaffenden männlichen Geschlechts konzipierbar, sie ist generell nicht mehr im Singular konzipierbar.
„Europa“ nicht im Sinne des essentialistischen Singulars der Aufklärung zu denken, sondern als Vielfalt des Differenten auf der Grundlage von Kohärenz und Kohäsion ist möglich und dies auf eine egalitäre pluralistische Gesellschaft zu beziehen, ist ebenso möglich. […]
Konsequent wäre es, EU-Europa von der Gesellschaft und der anti-essentialistischen Perspektive her zu denken. Dabei kann nicht mehr auf das Funktionieren eines kollektiven performativen Sprechakts gesetzt werden. Das Erzeugen inhaltlicher Kohärenz in Bezug auf Europa braucht die Europäerinnen und Europäer als Kommunikationsaktive. Die Frage, wie sich das organisieren lässt, ist ebenso zentral wie sie unbeantwortet geblieben ist. Von „europäischer Öffentlichkeit“ bis „soziale Medien“ gibt es viele Praktiken, aber diese weisen keinerlei Kohäsion auf. Unbeantwortet ist auch die Frage, ob Anti-Essentialismus Dezentriertheit erfordert oder zur Folge hat? Dies würde der bisherigen EU-Europaidee umfassend entgegenstehen.
Es braucht Übersetzungen der Begriffe und Werte, die ausgehöhlt und verstümmelt worden sind, es braucht eine Übersetzung von Normen in Anwendungen, es müssen Begriffe in Erfahrungen übersetzt werden, damit sie vorstellbar werden in ihrer Substanz, damit wieder deutlich und nachvollziehbar wird, woraus sie bestehen, damit erlebbar wird, wann und warum der Rechtsstaat einen schützt, dass subjektive Rechte nicht nur passiv vorhanden, sondern dass sie auch aktiv einklagbar sind, dass eine Demokratie nicht einfach die Diktatur der Mehrheit bedeutet, wie es sich die AfD oder Ukip oder der Front National wünschen, sondern eben auch den Schutz der Minderheit, es braucht eine Übersetzung der Gesetze und Paragraphen, der Expertensprache in demokratische Wirklichkeiten, es braucht Erzählungen davon, wie die Freiheit schmeckt, wie die Gleichheit sich anfühlt, wie die Brüderlichkeit klingt.
Nationalismus versteht etwas von Macht, Glanz und Gloria, weniger von Menschlichkeit. Macht ist die Triebfeder jedweder nationalistischer Politik. Warum sollte ich dem Nationalstaat nachtrauern? Er ist ein Zwischenspiel der Geschichte, weder gottgegeben noch naturgewachsen.
Wahlkampfroman 2016. “So wird das Leben.” – Marlene Streeruwitz → “Bei der Wiederholung der Wahl zum österreichischen Bundespräsidenten steht die Entscheidung für oder gegen die Demokratie an. Marlene Streeruwitz erzählt in ihrem dritten Wahlkampfroman was diese Entscheidung im wirklichen Leben bedeutet.”
Journalist: Zeit-Online-Chefredakteur Jochen Wegner: “Wir sind anders” → ein interessantes und teilweise sehr entlarvendes interview. matthias daniel findet es z.b. (in einem fachmedium! für journalisten) “irre”, dass zeit-online den trainer des dfb mit einer nichtnachricht (er macht weiter) nicht als topthema hatte …
und immer wieder wundern mich medienzahlen — so “erreicht” ze.tt angeblich 10 % der bevölkerung in deutschland. das erscheint mir irre viel …
und eine schöne bullshit-phrase: genaue, personalisierte nutzerdaten sind “ein qualifizierter Kontakt zu vielen Lesern”
Language Stuff – Google Drive → irre viele (englischsprachige) grammatiken irre vieler sprachen, leider (in meinen stichproben) ohne ordentliche bibliographische nachweise. teilweise sprachlehrbücher, teilweise wissenschaftliche
Er selbst musste seine Befragung in Deutschland quasi heimlich, über seine privaten Kontakte durchführen, weil die Bundesliga-Vereine mit dem Thema nichts zu tun haben wollten.
Bei einer nüchternen Analyse der demokratischen Vor- und Nachteile kommt die EU damit viel besser weg, als im öffentlichen Diskurs meist angenommen wird. Anders die nationalen Demokratien – auch in Bezug auf die direkte Demokratie der Schweiz: Wir erleben in allen nationalen Demokratien eine zunehmende «Tyrannei der Alteingesessenen».
Fintech: Das nächste kleine Ding | brand eins → langer (und etwas ausgewalzter) text über die (v.a. die deutschen) fintech-startups, ihr verhältnis zu bestehenden banken und den kunden sowie ihren momentanen zukunftschancen (eher übersichtlich, offenbar)
Der Erstdruck erschien 1961 in Paul Pörtners verdienstvoller Anthologie «Literatur-Revolution», diesem war es von Emmy Hennings’ Tochter Annemarie Schütt-Hennings zur Verfügung gestellt worden. Sie betreute den Nachlass von Ball und bemühte sich beim Benziger-Verlag um die Herausgabe seiner Briefe und Schriften. Breitere Aufmerksamkeit dürfte das Manifest aber erst erhalten haben, als es fünf Jahre später zum 50-Jahre-Jubiläum der Dada-Bewegung in der Kulturzeitschrift «Du» erneut abgedruckt wurde, wiederum von Schütt-Hennings zur Verfügung gestellt, die sehr wahrscheinlich auch die maschinelle Abschrift für die Druckvorlage besorgt hatte.
Dort taucht nun zum ersten Mal die heute geläufige Bezeichnung «Eröffnungs-Manifest» auf. Ohne historische Grundlage wird dem Text eine Funktion zugeschrieben, die ihm seine herausragende Stellung als Gründungsdokument sichern soll. Und mehr noch: Neben dem neuen Titel weist die Abschrift streckenweise auch erhebliche Veränderungen und sinnentstellende Fehler auf, was umso gravierender ist, als sie bisher mit wenigen Ausnahmen als Referenz für zahlreiche Anthologien und Forschungsarbeiten diente.
Wie ich Keith Jarretts Feind wurde | Freitext → ein wunderbarer text (der titel sagt ja schon fast alles …) von clemens setz über die hybris und arroganz von keith jarrett, anlässlich eines konzertes in wien
Faking it – the great unmentionable of orchestral playing | the strad → Given today’s high standards of musicianship, you might think top orchestral string players can play anything, but there are times when the best they can do is give the impression of playing every note as written
Igor Levit: “Es ist so unheimlich geil” | ZEIT ONLINE → der großartige igor levit lässt sich von moritz von uslar fragen zu beethoven stellen und hat ein paar coole antworten auf teilweise etwas dümmliche fragen (die sich uslar nicht mal selbst überlegen konnte …) krank allerdings ist der angebliche anlass: das beethoven-jubiläum 2020 — sind ja nur noch vier jahre, aber was soll’s, damit war die “zeit” bestimmt das erste medium, das das jubiläum eingeläutet hat …
Kohleausstieg vertagt | klimaretter.info → aus kurzfristigen politischen überlegungen (und angst) vergeigen die regierungen deutschlands die energiewende immer mehr, schieben sie immer weiter in die zukunft und hinterlassen immer größere probleme
Aber wie lange sollen sich Meteorologen, die wie kaum eine zweite Forschergilde öffentlich Gehör finden, hinter einem ominösen statistischen Rauschen verstecken, nur weil sie das Offenkundige – den beschleunigten Klimawandel – als politische Korrektheit und deswegen als unangemessene wissenschaftliche Interpretation betrachten? Die meteorologische Expertise steckt selbst in einem Tiefdrucksumpf. Sie täte auch deshalb gut daran, ihre verquasten klimatologischen Sprachregularien aufzugeben, weil sie mit zweideutigen Ausflüchten die antiwissenschaftlichen Ressentiments nur mehr schürt.
Vor der Eiszeit hatten die bisher untersuchten Menschen in Europa alle braune Augen, nach der Eiszeit waren die Augen blau. Die Ureuropäer, die vor zehntausenden Jahren in Europa lebten, hatten eine dunkle Hautfarbe. Das entspricht nicht dem üblichen Bild. Wenn ich ins Museum gehe, sind die Jäger und Sammler von vor 10.000 Jahren meist weiß dargestellt – dabei waren sie schwarz und hatten blaue Augen. Sie wiesen keines der Gene auf, die heute eine helle Hautfarbe verursachen. Die heutige helle Haut hat sich erst in der Bronzezeit in Europa ausgebreitet, also vor zirka 5.000 Jahren.
reading more blogs is one of the best ways to become smarter, more effective and more engaged in what’s going on. The last great online bargain.
— sehr richtig. und wirklich so einfach umzusetzen. rss und seine reader sind meines erachtens immer noch die am meisten unterschätzte technik im internet
Kleist-Edition: Ein trauriges Ende | Süddeutsche → kleist-experte und ‑herausgeber klaus müller-salget berichtet vom sehr unrühmlichen umgang des hanser-verlages mit der offenbar grottenschlechten, aber als ultimativen angepriesenen kleist-leseausgabe von roland reuß und peter staengle — nachdem der verlag eine revision versprach, die fehlerhafte ausgabe aber munter weiter verkaufte, stellt er sie nun gänzlich ein (das sind übrigens die verlage, die über die vg wort geld von den urhebern haben wollen — für ihre unersetzlichen leistungen …)
Museen sind eigentlich so angelegt, dass sie die wissenschaftlich fachliche Deutungshoheit für ihre Inhalte haben. Wir versuchen, neben diesem kuratorischen Strang einen zweiten Strang zu entwickeln, bei dem wir selber nicht mehr deuten, sondern die Nutzer und Nutzerinnen des Museums das tun.
Krise des Liberalismus: Ein autoritäres Angebot | Zeit → thomas assheuser versucht sich in der “zeit” an einer analyse der situation des liberalismus — und so viel er richtig beobachtet, frage ich mich doch, ob sein ausgangspunkt — dass nämlich “unsere” moderne liberale gesellschaft so eng mit dem liberalismus zusammenhängt, wirklich richtig ist. ich tendiere ja eher zur annahme, dass die politik der letzten jahre/jahrzehnte genau das — nämlich den liberalismus — verloren hat, auch ohne in das autoritäre gehampel der rechten zu verfallen.
Man kann sich leicht ausmalen, welch klebrige Attraktivität eine solche Apartheidgesellschaft entwickelt, wenn Bürger das Gefühl haben, sie seien Modernisierungsverlierer und könnten sich für ihre liberale Freiheit nichts kaufen. Die rechte Alternative verspricht dagegen die Befreiung von der Befreiung und den Abschied von Europa sowieso. Sie malt die Nation als gute Stube mit Hirschgeweih und kugelsicheren Butzenscheiben, als Trutzburg gegen Terror, Klimakatastrophe und Flüchtlinge, kurz: als wetterfesten Herrgottswinkel für Menschen mit apokalyptischen Vorgefühlen, die nicht zu Unrecht fürchten, die “Welt draußen” könne über ihren Köpfen zusammenbrechen. Das autoritäre Angebot verfängt.
Man muss kein approbierter Medien- und Kommunikationswissenschaftler sein, um die alltägliche Kommunikation an den Universitäten über die alte wie die neu aufgelegte Exzellenzinitiative auffallend und analysebedürftig zu finden. Denn immer wieder macht sich ein profanes Dilemma bemerkbar. Im ältesten Medium, der face-to-face-communication, wird noch sehr viel stärker als sonst gänzlich anders über die Exzellenzinitiative gesprochen als in der publizierten Schriftform. Antragsprosa oder Verlautbarungen von offiziösen Universitätszeitschriften begrüßen die Erneuerung der Exzellenzinitiative, ansonsten aber hört man zumeist lästerliche Reden.
Corporate’s Child | textdump → zur lage der politik einige scharfe beobachtungen und anmerkungen in guenter hacks textdump:
Der Staat gibt vor, alles sehen zu können (siehe Punkt 2), wenn er aber handeln soll, tut er so, als seien ihm die Hände gebunden, von der bösen EU, durch internationale Verträge, durch Ressourcenmangel, durch die allgemeine Wirtschaftslogik, die halt nun mal so ist. Wenn der Staat agiert, dann nur mit noch mehr Repression nach unten, weil das halt einfacher ist, als Steuern von Amazon zu verlangen. Diese Diskrepanz führt zu einer Art Theodizeegefühl, die schon ziemlich massive Weltreligionen hat abschmelzen lassen.
Die neonationalistischen Parteien sind nicht deswegen so erfolgreich, weil sie disruptiv wären, sondern weil sie bestehende Leitlinien der Mainstream-Politik der letzten 30 Jahre konsequenter und skrupelloser weiterdenken als die Corporate-Politiker selbst.
Es dient nicht der Entschuldigung der derzeit im Namen Allahs ausgeübten Verbrechen, mögliche historische Parallelen sichtbar und auf die Gewaltpotentiale in allen Religionen aufmerksam zu machen. Aber es verhindert eine falsche, essentialistische Sicht auf den Islam, den es so wenig wie das Christentum gibt. Die muslimischen Religionskulturen in Europa sind in sich höchst vielfältig und durch ganz unterschiedliche kollektive Erfahrungen geprägt. Muslime in Kreuzberg, deren Eltern oder Großeltern einst aus der Türkei kamen, teilen nicht die traumatisierenden Erinnerungen an koloniale Fremdherrschaft, die für viele französische, noch vom Algerien-Krieg geprägte Muslime kennzeichnend sind.
Nach den Anschlägen von Paris und nun auch Brüssel ließ sich im politischen Betrieb eine Reaktion beobachten, die nur als falsches semantisches Investment bezeichnet werden kann: Staatspräsidenten, Regierungschefs und Parteivorsitzende beschworen einhellig „die Werte Europas“ oder „des Westens“, die man gegen alle terroristischen Angriffe verteidigen werde. […]
Aber mit Werte-Rhetorik ist niemandem geholfen.
„Wert“ war ursprünglich ein Begriff der ökonomischen Sprache, und seine Einwanderung in ethische Debatten und juristische Diskurse hat nur dazu geführt, die freiheitsdienliche Unterscheidung von gesetzlich kodifizierten Rechtsnormen und moralischen Verbindlichkeiten zu unterlaufen. Deshalb ist es fatal, wenn Vertreter des Rechtsstaates diesen im Kampf gegen den Terrorismus nun als eine „Wertegemeinschaft“ deuten.
für einen theologen auch fast überraschend, aber natürlich absolut richtig und ein punkt, der immer wieder gestärkt und verdeutlicht werden muss (weil er so gerne vergessen wird):
Für wirklich alle gilt allein das Recht, und deshalb sind Rechtsbrecher zu verfolgen und zu bestrafen.
My Heroic and Lazy Stand Against IFTTT | Pinboard Blog — der pinboard-gründer/betreiber maciej cegłowski erklärt, warum es seinen (übrigens sehr empfehlenswerten) service nicht mehr bei ifttt gibt. die kurzfassung: deren unverschämten, erpresserischen bedingungen für entwickler
Das Thema der „Vogue“ ist: „Langeweile“. Sowohl in den Anzeigen als auch in der Fotostrecke. „Komm Baby, stell Dich mal so hin und schau so pikiert, als würdest Du an einen völlig verkochten Grünkohl denken.“ Die Mädchen sind dünn, die Gesichter leer, die Klamotten teuer. In den Sechzigern gab es einen Dr. Oetker-Spot, in dem eine Frau am Herd steht, ein Fertiggericht zaubert und ein Sprecher sagt: „Eine Frau hat zwei Lebensfragen: Was soll ich anziehen? Und was soll ich kochen?“ Die Frauen der „Vogue“ haben sogar nur eine Lebensfrage, und selbst die macht ihnen offensichtlich keinen Spaß.
Ingeborg Bachmann: “In mir ist die Hölle los” | ZEIT ONLINE — der germanist Joseph McVeigh durfte frühe briefe von ingeborg bachmann benutzen und zitieren und ist nun sicher, dass man das werk der autorin nur biographisch verstehen kann. zum glück ist die “zeit” gegenüber solchem methodischen unsinn etwas skeptischer …
“Ich habe keine Matratzenschnüffelei betreiben wollen”, sagt Biograf McVeigh, “aber wenn man die zerstörerische Wirkung der beiden katastrophal gescheiterten Beziehungen auf das Leben von Ingeborg Bachmann nicht berücksichtigt, kann man ihr späteres Werk kaum verstehen.”
Viel zu lange gewartet mit der nächsten Aus-Lese, deswegen ist das jetzt eine Auslese der Aus-Lese …
Friedrich Forssman: Wie ich Bücher gestalte. Göttingen: Wallstein 2015 (Ästhetik des Buches, 6). 79 Seiten.
„Ein Buch ist schön, wenn die Gestaltung zum Inhalt paßt.“ (71) — in diesem kleinen, harmlosen Satz steckt eigentlich schon das gesamte gestalterische Credo Forssmans (dessen Name ich immer erst beim zweiten Versuch richtig schreibe …) drin. Forssman, als Gestalter und Setzer der Spätwerke Arno Schmidts schon fast eine Legende, inzwischen auch durch die Neugestaltung der Reclamschen “Universal Bibliothek” in fast allen Händen, will in diesem kleinen Büchlein — 79 Seiten sind nicht viel, wenn es um Buchgestaltung, Typographie, Herstellung und all das drumherum gehen soll — zeigen, wie er selbst Bücher gestaltet, das heißt, nach welchen Kriterien er arbeitet. Ein Werkstattbericht soll das sein — und das ist es auch, nicht nur, weil es so aussieht.
Locker plaudert er, könnte man sagen, über die Arbeit an der Herstellung eines Buches. Das betrifft letztlich all die Aspekte, die über den “reinen” Text als Inhalt hinausgehen: Typographie, Satz, Format, Herstellung, Umschlag und vieles mehr. Forssman plaudert, sage ich, weil er sich dezidiert als Theorie-Verächter darstellt. Letztlich sind das alles Regel- und Geschmackfragen: Ein Buch ist schön, wenn es gut ist — und es ist gut, wenn es schön ist. Viel mehr steckt da eigentlich nicht dahinter. Forssman sieht Buchgestaltung ausdrücklich als Kunsthandwerk, das bestimmten Regeln gehorcht. Die — und den guten Geschmack bei der Beurteilung ihrer Anwendung — lernt man, indem man andere Bücher der Vergangenheit (und Gegenwart) anschaut und studiert. Freiheit und Tradition bzw. Regel sind die Pole, zwischen denen jeder Kunsthandwerker sich immer wieder verortet. Beim Lesen klingt das oft traditioneller und langweiliger, als Forsmanns Bücher dann sind. Das liegt wahrscheinlich nicht zuletzt daran, dass er sehr stark auf eine ausgefeilte und konsequente Durchgestaltung des gesamten Buches Wert legt — vom Bindungsleim bis zur korrekten Form der An- und Abführungsstriche hat er alles im Blick. Und, darauf weist er auch immer wieder hin, Regelhaftigkeit und Tradition heißt ja nicht, dass alles vorgegeben ist: Es gibt Freiheitsgrade, die zu nutzen im Sinne einer Interpretation des vorliegenden Textes die Aufgabe des Buchgestalters ist. Und dabei gilt dann doch wieder:
Die Beweislast liegt immer beim Veränderer, in der Typographie erst recht. (42)
Ilija Trojanow: Macht und Widerstand. Frankfurt am Main: Fischer. 479 Seiten.
Ein ganz schöner Brocken, und ein ganz schön heftiger dazu. Nicht wegen der literarirschen Form, sondern wegen des Inhalts — der ist nicht immer leicht verdaulich. Es geht um Bulgarien unter sozialistischer/kommunistischer Herrschaft, genauer gesagt, um die “Arbeit” und die Verbrechen der Staatssicherheit. Das erzählt Trojanow auf der Grundlage von Archivakten, die zum Teil auch ihren Weg ins Buch gefunden haben (seltsamerweise werden sie — und nur sie — in kleinschreibung angekündigt …). Trojanow konstruiert eine Geschichte aus zwei Polen — Macht und Widerstand natürlich — die sich in zwei Männern niederschlagen und recht eigentlich, das wird ganz schnell klar, personifizieren. Die sind dadurch für meinen Geschmack manchmal etwas eindimensional geworden: Der eine ist eben die mehr oder weniger reine Verkörperung des Prinzipes Widerstand, der anderen der Macht (bzw. des prinzipienlosen Opportunismus). In abwechselnden Kapiteln wechselt auch immer die Perspektive entsprechend. Geschickt gelingt Trojanow dabei ein harmonischer Aufbau, der Informationen sehr harmonisch und allmählich weitergibt. Seinen hauptsächlichen Reiz zieht Macht und Widerstand vielleicht aber doch daraus, dass es sozusagen Literatur mit Wahrheitsanspruch ist, den Fiktionalitätspakt also aufkündigt (und daran im Text durch die eingestreuten Aktenübersetzungen, die sonst für den literarischen Text wenig tun, immer wieder erinnert). Das macht die Bewertung aber zugleich etwas schwierig: Als rein literarischer Text überzeugt es mich nicht, in seiner Doppelfunktion als Literatur und historisch-politische Aufklärung ist es dagegen großartig.
John Hirst: Die kürzeste Geschichte Europas. Hamburg: Atlantik 2015. 206 Seiten.
Eine interessante Lektüre bietet diese Geschichte Europas, sie ist durchaus erfrischend, die extreme Verknappung. Aber halt auch immer wieder problematisch — vieles fehlt, vieles ist ungenau bis fehlerhaft. Aber um Vollständigkeit (der behandelten Themen oder der Darstellung) kann es in einer “kürzesten Geschichte” natürlich überhaupt nicht gehen.
Hirst geht es im ersten Teil — „Die kürzeste Version der Geschichte“ überschrieben — vor allem um die Formierung Europas: Wie wurde Europa das, was es heute ist (oder vor wenigen Jahren war)? Er stützt sich dabei vor allem auf drei Phänomene und siedelt das maßgeblich im Übergang von Antike zu Mittelalter an: Europa ist die Verbindung von der „Kultur des antiken Griechenlands und Roms“, dem Christentum und der „Kultur der germanischen Krieger“. Immer wieder betont er, dass Europa als Idee und Gestalt eben maßgeblich eine Mischung sei. Und die versteht man nur, wenn man ihre Genese im Blick hat (das alles gilt übrigens für ihn bis in die Jetztzeit — ich bin mir nicht sicher, ob er dabei nicht doch die Macht & Notwendigkeit der Geschichte überschätzt …): Nur mit Kenntnis dieser Wurzeln versteht man also die Gegenwart. Er fasst seine Überlegungen zum Zusammenwirken seiner Grundfaktoren immer wieder in schönen Diagrammen zusammen, die dann zum Beispiel so aussehen:
(Seite 31)
(Seite 61)
Die ersten Teile — wo es um die eigentliche Geschichte und Formierung Europas als Europa geht — sind dabei gar nicht so schlecht: Natürlich ist das alles sehr verkürzt, aber übrigens auch gut lesbar. Danach, wo es unter Überschriften wie „Einfälle und Eroberungen“, „Staatsformen“, „Kaiser und Päpste“ um Linien und Tendenzen der europäischen Geschichte in Mittelalter und Neuzeit geht, wird es für meinen Geschmack aber zu episodisch und auch historisch oft zu ungenau. In der Konzeption fehlt mir zu viel Kultur und Kulturgeschichte: Hirst geht weitestgehend von klassischer politischer Geschichte aus, ergänzt das noch um etwas Philosophie und ein bisschen Religion. Und: Hirst denkt für meinen Geschmack auch zu sehr in modernen Begriffen, was manchmal zu schiefen Bewertungen führt (übrigens auch anderen bei Historikern (immer noch) ein beliebter Fehler …)
Manche Wertung und Einschätzung stößt bei mir auf größeren Widerstand. Manchmal aber auch einfaches handwerkliches Pfuschen, wenn Hirst etwa Davids Zeichnung „Schwur im Ballhaus“ unhinterfragt als getreues Abbild einer wirklichen Handlung am Beginn der Französischen Revolution liest und interpretiert (dass er den Leser sonst mit Quellen nicht weiter behelligt, ist natürlich dem Format geschuldet). Seltsam fand ich auch sein Bild der mittelalterlichen Kirche vor Gregor VII und ihr Verhältnis zur Politik: „Örtliche Machthaber und die Monarchen Europas hatten sie [die Kirche] untergraben, schlechtgemacht und ausgeplündert.“ (149) — eindeutiger kann man kaum Position beziehen …
Damit ist Hirst insgesamt also sicher nicht die letzte Autorität zur Geschichte Europas, nichtsdestotrotz aber durchaus eine stimulierende Lektüre. So weit wie Gustav Seibt, der das in der SZ ein “Meisterwerk der Vereinfachung” nannte, würde ich allerdings nicht gehen.
Roland Barthes: Der Eiffelturm. Berlin: Suhrkamp 2015. 80 Seiten.
Zum 100. Geburtstag des großen Roland Barthes hat Suhrkamp seinen kleinen Text über den Pariser Eiffelturm in einem schön gemachten Büchlein mit ergänzenden Fotos veröffentlicht (das bei mir allerdings schon beim ersten Lesen zerfiel …). Barthes untersucht nicht nur, was der Eiffelturm eigentlich ist — nämlich ein (annähernd) leeres Zeichen -, sondern vor allem, was er bedeutet und was er mit Paris und dem Beobachter oder besser Betrachter macht. So konstatiert er unter anderem, dass der Eiffelturm einen neuen Blick (aus der Höhe eben) auf die Stadt als neue Natur, als menschlichen Raum ermöglicht und eröffnet. Und damit ist der Eiffelturm für Barthes die Materialisation dessen, was die Literatur im 19. Jahrhundert schon längst geleistet hatte, nämlich die Ermöglichung, die Struktur der Dinge (als “konkrete Abstraktion”) zu sehen und zu entziffern. Der besondere Kniff des Eiffelturms besteht und darin, dass er — im Unterschied zu anderen Türmen und Monumenten — kein Innen hat: „Den Eiffelturm besichtigen heißt sich zu seinem Parasiten, nicht aber zu seinem Erforscher machen.“ (37), man gleitet immer nur auf seiner Oberfläche.
Damit und durch die Etablierung eines neuen Materials — dem Eisen statt dem Stein — verkörpert der Eiffelturm einen neuen Wert — den der funktionellen Schönheit. Gerade durch seine Nutzlosigkeit (die ihn vor seiner Erbauung so suspekt machte) befähigt ihn besonders — weil keine tatsächliche Nutzung sich mit einmengt -, zum Symbol der Stadt Paris zu werden: “Der Eiffelturm ist durch Metonymie Paris geworden.” (51) — und mehr noch, er ist “die ungehemmte Metapher” überhaupt: “Blick, Objekt, Symbol, der Eiffelturm ist alles, was der Mensch in ihn hineinlegt.” (63). Genau das ist es natürlich, was ihn für den strukturalistischen Semiotiker Barthes so interessant und anziehend macht. Und diese Faszination des Autors merkt man dem Text immer wieder an.
Michael Fehr: Simeliberg. 3. Auflage. Luzern: Der gesunde Menschenversand 2015. 139 Seiten.
Grau nass trüb ein Schweizer Wetter ziemlich ab vom Schuss (5)
- so fängt das “Satzgewitter” von Michael FehrsSimeliberg an. Die Methode bleibt über die fast 140 Seiten gleich: Die Sätze der harten, schweizerisch gefärbten Prosa werden durch ihre Anordnung der Lyrik angenähert (das typographische Dispositiv ist sogar ganz unverfälscht das der Lyrik), statt Satzzeichen benutzt Fehr Zeilenumbrüche. Diese zeilenweise Isolierung von Satzteilen und Teilsätzen verleiht dem Text nicht nur eine eigenartige Gestalt, sondern auch ein ganz eigenes Leseerlebnis: Das ist im Kern “echte” Prosa, die durch ihre Anordnung aber leicht wird, den Boden unter den Füßen verliert, ihre Festigkeit und Sicherheit (auch im Bedeuten und Meinen) aufgegeben hat: Sicher im Sinne von unverrückt und wahr ist hier kaum etwas, die Form lässt alles offen. Dabei ist die erzählte Geschichte in ihrem Krimicharakter (der freilich keine “Auflösung” erfährt) beinahe harmlos: Ein abgelegener Hof, seltsame Todesfälle, eine gigantische Explosion, eine Untersuchung, die Konfrontation von Dorf und Stadt, von Einheimischen und Zugezogenen. Genau wie die Geschichte bleibt alles im Ungefähren, im Düsteren und Schlammigen — die Figuren sind Schattenrisse, ihre Motivation wie ihre Sprache bruchstückhaft. Und genau wie die Menschen (fast) alle seltsame Sonderlinge sind, ist auch der Text sonderbar — aber eben sonderbar faszinierend, vielleicht gerade durch seine Härte und die abgründige Dunkelheit, die er ausstrahlt. Und die Fehr weder mildern will noch kann durch eine “angenehmere”, das heißt den Lesererwartungen mehr entsprechende, Erzählweise.
Auch wieder ein nettes, sympathisches Büchlein: In über 60 kurzen Geschichten, Anekdoten, Skizzen hinterfragt Henrici (den man sich wohl als alter ego des Literaturwissenschaftlers Frey vorstellen darf) den Alltag der Gegenwart, unser Tun und unser Sprechen. Das ist einfach schön verspielt, verliebt ins Spielen, genauer gesagt, ins Wortspiel: Durch das spielerische Arbeiten mit gedankenlos geäußerten Worten und Sätzen, mit Gemeinplätzen, hinsichtlich ihres Klanges und ihrer Semantik bringt Frey immer wieder die Bedeutungen zum Tanzen. Das sind oft oder sogar überwiegend gar keine weltverändernden Beobachtungen, die diese Miniaturen erzählen. Aber sie haben die Kraft, das Alltägliche, das Normale, das man immer wieder als Gegeben unhinterfragt einfach so hinnimmt und weiterführt, für die Beobachtung und Inspektion zu öffnen: Denn im spielerischen Verdrehen der Worte zeigt Frey immer wieder, was die eigentlich leisten (können), wenn man sie nicht bloß unbedacht äußert, sondern auch in banalen Situationen auf ihre Möglichkeiten und Bedeutungen abklopft — da kommt Erstaunliches, oft ausgesprochen Komisches dabei heraus. Eine sehr sympathische (und leicht zugängliche) Art des (Sprach)Philosophierens …
Zu diesem ganz wunderbaren Büchlein mit dem zauberhaften Titel Meiner Buchstabeneuter Milchwuchtordnung von Titus Meyer, das voller faszinierend artistischer Sprachkunstwerke steckt, habe ich schon vor einiger Zeit ein paar Sätze verloren: klick.
Wolfgang Herrndorf: Bilder deiner großen Liebe. Ein unvollendeter Roman. Herausgegeben von Kathrin Passig und Marcus Gärtner. RM Buch und Medien 2015. 141 Seiten.
Bilder deiner großen Liebe ist ein unveröffentlichtes und auch unfertiges Manuskript aus dem Nachlass Wolfgang Herrndorfs, das Kathrin Passig und Marcus Gärtner (die mit Herrndorf eng bekannt/befreundet waren) zur Veröffentlichung “arrangiert” haben. Denn das vorhandene Textmaterial setzt an verschiedenen Stellen des geplanten Romans an und ist auch unterschiedlich stark ausgearbeitet. Das merkt man auch beim Lesen — einiges passt (etwa chronologisch und topographisch) nicht zusammen, an einigen Stellen brechen Episoden mit Stichworten oder Halbsätzen ab. Trotzdem liest man eben Herrndorf: Wieder eine Art Road-Novel, diesmal von der “verrückten” Isa auf ihrem Weg durch das Land berichtend, wobei sie einige spannende Begegnungen erlebt. Ein sehr bunter, etwas chaotischer und deutlich unfertiger Text — ich bin mir nicht sicher, ob Herrndorf damit ein Gefallen getan wurde, das noch zu veröffentlichen. Sicher, das ist nett zu lesen. Aber in dieser Form ist es eben überhaupt nicht auf der Ebene, auf der Herrndorfs andere Texte angesiedelt sind. Für Herrndorf-Fans sicher ein Muss, die anderen können das ohne großen Verlust auslassen.
Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert. (7)
außerdem noch gelesen:
Iris Hanika: Wie der Müll geordnet wird. Graz, Wien: Droschl 2015. 298 Seiten.
Ulrike Almut Sandig: Grimm. Gedichte. Nach den Kinder- und Hausmärchen von Jacob und Wilhelm Grimm, hg. von Brigitte Labs-Ehlert. Detmold: Wege durch das Land 2015 (Wege durch das Land 23). 32 Seiten.
Urs Faes: Und Ruth. Frankfurt am Main, Wien, Zürich: Büchergilde Gutenberg 2001 [Suhrkamp 2001]. 181 Seiten.
Monique Schwitter: Eins im Andern. 5. Auflage. Graz: Droschl 2015. 232 Seiten.
Thomas Melle: Raumforderung. Erzählungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007. 200 Seiten.
Manfred Mittermayer: Thomas Bernhard. Eine Biografie. Wien: Residenz Verlag 2015. 452 Seiten.
Peter Stamm: Nacht ist der Tag. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2014. 253 Seiten.