Die Arbeit wartete — neben dem üblichen Kleinkram, viel organisatorische Planung und Vorbereitung für die nächsten Wochen — am Freitag recht überraschend mit einem neuen, spannenden Projekt auf. Wenn das alles so klappt, wie es momentan avisiert ist, wird mich das den Rest des Jahres gut auf Achse halten …
Sonst gibt es in dieser Woche wenig zu berichten. Am Donnerstag haben wir versucht, eine Online-Probe mit 7 verteilten Teilnehmern zu realisieren. Das scheiterte dann letztendlich (nach gut 70 Minuten gaben wir auf) daran, dass bei einigen die Einrichtung einfach nicht klappte. Das ist auch eine fummelige Sache. Aber, so weit kamen wir immerhin, mit denen, die diese Hürde überwanden, war es tatsächlich möglich, so ein musikalisches Zusammenspiel zu organisieren. Das kommt zwar nicht ganz an eine Probe im selben Raum heran, aber gerade für die ersten Phasen der Erarbeitung könnte das eine gute Alternative für uns werden.
Text: Nicht sehr viel. Aber nachdem ich letzte Woche einiges beendete, konnte ich mich neuen Abenteuern widmen. Jetzt ist endlich (!) mal Dietmar Daths Cordula killt dich!, das ich dank der Neuauflage im Verbrecher-Verlag nun auch mein eigen nennen kann, an der Reihe. Und es fängt schon ziemlich typisch für Dath an, in permanenten Überforderung stürzt alles — die Welt, die Figuren, die Erzählung — auf die Leserin ein. Das wird noch spannend …
Ton: Einojuhani Rautavaaras Canticus arcticus — das habe ich wirklich schon lange nicht mehr gehört, ist aber immer wieder einfach schöne Musik. Und noch Luca Guglielmi sehr spritzige, lebendig-akkurate Einspielung des ersten Bandes des Wohltemperierten Claviers von Bach.
Draußen: Der Streak hält und es läuft weiterhin (also jeden Tag), aber immer noch in mäßigem Umfang und ohne große Motivation, das zu ändern. Aber immerhin das.
Beobachtend und erklärend geht es in Wir sind die Stadt! um den neuen Umgang mit der Stadt und ihren Räumen, um eine Art Re-Urbanisierung in der digitalen Moderne. Das ist ein bewusstes Lob der Stadt der Vielfalt, der vielfältigen (wechselnden, spontanen, instabilen) Koalitionen, die aber auch über sich selbst, über die Stadt hinaus reichen, denn: “In der Stadt gedeiht, wenn es gut geht, der Sinn für Staatlichkeit.” (149). Rauterberg hat, das gibt er auch zu, vor allem die neuen positiven Seiten der Stadt im Blick — die Möglichkeiten, die die digitale Moderne (also vor allem die Vernetzung im Netz und die Kommunikation mit Smartphones etc.) für eine Art Wiederbelebung städtischer Räume eröffnet. Er sieht und beschreibt eher die positiven Seiten der Veränderung der Stadt und des Lebens in der Stadt durch die digitale Moderne, ohne den Schatten aber ganz auszublenden. Sein Begriff der “Stadterquicker” (56) bringt es vielleicht am besten auf den Punkt: Er beobachtet eine neue Aneignung der Stadt, der urbanen Räume individuell im Kollektiv: “Die Stadt wird zum Raum für ein Ich, das sich ohne Wir nicht denken möchte.” (75) Und genau das geschieht nicht (mehr) vorwiegend planerisch gesteuert und auch nicht in erster Linie (wenn überhaupt) in institutionalisierten Formen (wie etwa Vereinen), sondern wesentlich fluider, schneller, spontaner, aber auch kurzlebiger. Die Offenheit des Raumes der Stadt und der Stadt ist dafür Voraussetzung und wird durch diese permanente Umwidmung, Aneignung, Inanspruch- und Inbesitznahme aber auch überhaupt erst konstituiert. Deshalb sieht Rauterberg in den aktuellen Tendenzen und Möglichkeiten eine neue, aktive und positive Chance für Urbanität: “Eine Stadt ist Stadt, wenn sie mit sich selber uneins bleibt.” (129)
Bei dieser Art der Raumergreifung handelt es sich um weit mehr als eine Modeerscheinung oder das Freizeitvergnügen einiger Jungerwachsener der Mittelschicht. Es gäbe keine Wiederbelebung des öffentlichen Raums, würde sie nicht von einem breiten gesellschaftlichen Wandel der Idealbilder und Leitvorstellungen getragen. Wie weit dieser Wandel reicht, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass auch viele Stadtplaner ihr Verhältnis zum Raum neu bestimmen, auf eine Weise, die abermals an manche der Künstler und Architekten denken lässt. Das Prinzip der Offenheit und freien Aneignung, unvorhersehbar und ungehindert von äußeren Zwängen, ist mancherorts sogar zum neuen Leitbild der Planung avanciert. (37) Die Stadt ist nicht länger Zone, sie darf wieder Raum sein, undefiniert. (39)
Saša Stanišić: Vor dem Fest. RM Buch und Medien 2014. 316 Seiten.
Jetzt habe ich endlich auch mal ein Buch von Saša Stanišić. Vor dem Fest ist ein ganz interessanter und schöner Roman über Fürstenfelde, die Uckermarck, Deutschland und auch ein bisschen über die Welt. In kleinen, leicht auch zwischendurch und mit jederzeitigen Unterbrechungen konsumierbaren Häppchen-Kapiteln erzählt Stanišić ein Dorf und seine Bewohner in der ostdeutschen Provinz. Äußerer Anlass ist die Nacht vor dem großen Anna-Fest, in der die meisten noch eine oder andere Vorbereitungen für den nächsten Tag treffen. Zugleich weist der Text mit Quellenabschnitten weit in die Dorfgeschichte bis zum 16. Jahrhundert zurück — wobei ich mir nicht sicher bin, ob das ernst gemeint ist: Die Sprache dieser (Pseudo-)Quellen scheint mir zu oft nicht ganz zeitgemäß, immer ein bisschen daneben, so dass ich das eigentlich als Fälschungen aus der Hand der “Archivarin” lese — dazu passt ja auch das große geheimnisvolle Getue, das um die Dorfchronik gemacht wird. Und dass es sie nicht geben kann, weil sie eigentlich dem Dorfbrand von 1742 zum Opfer gefallen ist. Egal: Das ist alles recht unterhaltsam und durchaus erhellend in seinen vielen Perspektiven, Stilen und Zeitebenen. Auch wenn ich manchmal den Eindruck hatte, die Idee — mit der Nacht vor dem “Fest” das Dorf, seine Gemeinschaft, seine Geschichte und auch noch die Weltzusammenhänge darzustellen — wird etwas überreizt. Unklar blieb mir zum Beispiel die Notwendigkeit, das auch noch auf die Tierwelt auszudehnen …
Sehr gut gefallen hat mir aber der spielerische Umgang des Erzählers mit seinem Text: Zum einen produziert das Fabulieren hier selbst Fragen an den eigenen Text, die auch Teil des Textes werden und bleiben. Zum anderen ist da dieses inklusives “Wir” des Erzählers als dem Vertreter der Dorfbevölkerung, das also den Erzähler zu einem Teil seiner Geschichte macht und zumindest behauptet, dass hier nicht von einer Außenposition erzählt wird (auch wenn es einige wenige Hinweise auf eine Differenz gibt …). Aber, das ist interessant, dieses “wir” gilt nicht nur der derzeitigen Dorfgemeinschaft, sondern der aller Zeiten. Überhaupt ist Vor dem Fest mit seiner erzählerischen Lust und Begeisterung ein etwas kapriziöser Text, der sich selbst nicht übermäßig ernst nimmt, sondern Spaß am eigenen Erzählen und Erfinden hat und auch gerne das eigene Erzählen einfach miterzählt.
Der Fährmann hat einmal erzählt, es gebe im Dorf jemanden, der mehr Erinnerungen von anderen Leuten besitze als Erinnerungen, die seine eigenen sind. Das Dorf hat sofort geglaubt, er meint Ditzsche. Könnten aber andere gemeint gewesen sein, meinen wir. (233)
Olga Martynova: Mörikes Schlüsselbein. Graz, Wien: Droschl 2013. 320 Seiten. ISBN 9783854208419.
Mörikes Schlüsselbein ist so etwas sieein Wundertüten-Text: Der ganze Roman quillt über. Das fängt schon “vor” dem Roman an, mit der Überfülle an Paratexten, vor allem den extrem vielen Motti auf verschiedenen Ebenen des Textes, die oft auch noch nicht allein, sondern gleich zu mehreren auftreten. Und es geht im Text weiter, mit seiner etwas hypertrophen Fülle an Stilmitteln und auch an Themen. Insgesamt präsentierte Mörikes Schlüsselbein sich mir als ein ziemlich umher irrender Roman. Ich hatte immer wieder den Eindruck, der Text sucht seine/eine Stimme, da wird ausprobiert und verworfen, dass es eine Freude ist. Vielleicht liegt es auch daran, dass sich Martynovas Erzählerin sehr von ihren Figuren (und davon gibt es eine ganze Menge) und ihrem Eigenleben treiben lässt — so war zumindest mein Eindruck.
Auf jeden Fall ist das virtuos erzählt — aber was wird eigentlich erzählt und warum? Die Frage stellt sich schon früh beim Lesen, bis zum Ende habe ich keine richtige Antwort gefunden (auch in den Rezensionen übrigens nicht …). Das hängt natürlich damit zusammen, das Mörikes Schlüsselbein ein Episodennetz ohne Zentrum und ohne Rand ist, dessen Zusammenhänge teilweise bewusst unklar bleiben. Da fühlt man sich manchmal etwas verloren im Text — was, um es noch einmal zu sagen, nicht heißt, es wäre ein schlechter Text: vieles gefällt (mir), vieles ist gut, geschickt und sehr überlegt gemacht. Nur sehe ich kein Ziel außer dem Zeigen der Ziellosigkeit, dem Vorführen des Fehlens von (verbindlichen) Zielen und Zusammenhängen. Vielleicht habe ich auch schlecht gelesen, nämlich mit mehreren (ungeplanten) Unterbrechungen, die mich zu viel verlieren ließen?
So lese ich Mörikes Schlüsselbein als ein Spiel mit den Grenzen von Realitäten und Wahrscheinlichkeiten (die seltsamen Zeitreisen- bzw. Zeitvektoren-Episoden, die so irrlichternd in den Text hineingeschichtet sind, verdeutlichen das vielleicht am besten). Überhaupt spielt der Roman auf allen Ebenen, vom Zeichen (bzw. seiner typographischen Repräsentation, etwa mit unterschiedlichen Schwarzsättigungen …) bis zur Makroform (deren Struktur ich überhaupt nicht verstanden habe …). Und die Motti nicht zu vergessen, die auf verschiedenen Ebenen den Text sehr reichhaltig zieren. Und irgendwie, das macht Mörikes Schlüsselbein doch immer wieder interessant, gelingt es Martynova, damit (fast) das ganze 20. Jahrhundert zu erzählen, mit der Geschichte Deutschlands, dem Zweitem Weltkrieg, USA, UdSSR bzw. Russland und dem Kalten Krieg etc. pp. Und noch die abenteuerlichsten Kuriositäten werden von Martynova erzählt, als seien sie das normalste auf der Welt: Klar, das zeigt (wieder mal) den Verlust (allgemeingültiger) Maßstäbe: alles gilt (gleich viel) — aber war es das schon? Oder will der Text noch mehr? — Da bin ich ratlos. Ratlos übrigens auch beim Klappentext — ob der absichtlich so blödsinnig-nichtssagend ist? Eigentlich habe ich vom Droschl-Verlag eine bessere Meinung. Aber diesen Text als einen „Roman über Familie und Freundschaft: liebevoll, weiblich, scharfsichtig und humorvoll“ zu charakterisieren kann ja nicht wirklich ernst gemeint sein. Sicher, humorvoll ist der Text, das Lesen macht immer wieder große Freude. Aber was ist daran bitteschön weiblich?
Wenn man Wolkenkratzer mit Kathedralen vergleicht, meint man irrtümlicherweise in erster Linie ihre gesellschaftliche Bedeutung: Macht und Reichtum, die über das Leben der gemeinen Menschen emporragen. Aber sie haben eine architektonische Funktion: die Menschen dazu zu bringen, den Blick zum Himmel zu erheben. Dazu nützt irgendeine schöpferische Kraft die Macht, den Reichtum und die wandernden Bauleute, dachte Marina und hörte die Fetzen einer (oder mehrerer) osteuropäischer Sprache(n), bedrohliche Zartheit in den gedehnten Lauten. (165)
Dietmar Dath: Leider bin ich tot. Berlin: Suhrkamp 2016. 463 Seiten. ISBN 9783518466544.
Dietmar Daths Schaffen kann ich in seinen Verästelungen – ich kenne weder einen anderen Autor, der so vielfältige Themenfelder beackert noch bei so vielen unterschiedlichen Verlagen veröffentlicht – kaum noch nachvollziehen. Aber wenn ich dann ab und an wieder etwas aus seiner schwer beschäftigten Feder lese, ist es immer wieder überraschend und erquickend. Das gilt auch für Leider bin ich tot. Der Text hängt irgendwo zwischen Science-Fiction, Wissenschaftsthriller, politischem Roman, Krimi und was weiß ich noch alles. Genauso “wild” ist auch die erzählte Geschichte, die sich kaum vernünftig zusammenfassen lässt (und ohne wesentliche Plottwists zu verraten schon gar nicht …, ziemlich gut macht das Sonja Grebe auf satt.org). Es geht um höhere Intelligenzen, um Religionen und Götter, auch um Terror und Gewalt in allen möglichen Formen. Und ganz wesentlich auch um Zeit, um die Zeit — es zeigt sich nämlich, dass manche Figuren in Leider bin tot die Zeit aus ihrem Strahlendasein befreien können und eine Zeitschleife in Form eines Möbiusbandes schaffen. Das bringt nicht nur so einige neue Möglichkeiten, auch der Manipulation, ins Spiel, sondern sorgt auch für reichhaltige Verwirrungen und Irrlichtereien.
Außerdem steckt in Leider bin ich tot – und darin ist es ein typischer Dath-Roman – ganz viel Gegenwartsbeschreibung und ‑diagnose. Der Autor hat einen scharfen Blick, er sieht und erkennt unheimlich viel und kann es in seinen Roman – mal eleganter, mal etwas plumper – alles hineinpacken. Der Verlag behauptet im Klappentext zwar, das sei eine “Meditation”, aber das halte ich für Unsinn. Dafür ist das Buch schon viel zu actiongeladen. Sicher, es wird viel gedacht und viel über philosophische, theologische, erkenntnistheoretische Probleme geredet. Aber das ist nur eine Ebene des vielfältigen Textes. Die Vielfalt ist eh Dath-typisch. Genau wie das zunächst ganz realistisch erscheinende Erzählen, das sich dann nach und nach leicht verschiebt, immer verschrobener wird und immer etwas verrückter, grausamer und berechnender (im technischen Sinn). Und Bücher, die ihren Autor selbst so wunderbar unernst-selbstironisch auftreten lassen, sind sowieso meistens ein großes Vergnügen. Und das gilt für Leider bin ich tot auf jeden Fall.
»Krieger. Leute im Krieg. Die nur verkleidet sind als Künstler oder Intellektuelle. Nicht? Wir sind … wir müssen immer die Besten sein. Die Schönsten, die Unwiderstehlichsten. Wir sind Klugscheißer und Zauberer und Träumer. Wir sind Rechthaber, weil wir …« »Verletzte sind.« (63)
Noch ein erstaunlich spannender und interessanter Zufallsfund. Ich muss gestehen, dass mir Urs Jaeggi, der als Soziologe auch immer wieder belletristisch tätig war, bis dato unbekannt war. Das ist schade, denn Brandeis ist nicht nur ein faszinierender Zeitroman, sondern auch ein ausgesprochen guter Roman. Brandeis, die Hauptfigur und Erzählerstimme, aus deren personaler Perspektive alle drei Teile erzählt werden, ist sozusagen das alter ego des Autors: Soziologie, der zu Beginn noch in der Schweiz (in Bern) lehrt, dann an die neugegründete, noch zu bauende bzw. im Aufbau begriffene Universität in Bochum berufen wird, einige Zeit als Gastdozent in New York weilt und zum Schluss (“Berlin 1977”) in Berlin einen Soziologie-Lehrstuhl innehat — die äußeren Stationen entsprechen Jaeggis Karriere genau. Das aber nur nebenbei.
Interessant ist anderes. Brandeis ist ein politisch aktiver, empirisch arbeitender Soziologe, der sich aus einer dezidiert linken (marxistischen) Position auch und vor allem sehr intensiv mit seinen Studierenden und ihrem Blick auf die Welt und Gesellschaft auseinandersetzt. Das ermöglicht zum einen eine spannende Darstellung der Konflikte am Ende der 1960er Jahre an den Hochschulen (aber auch einen Blick auf die Differenz der dortigen Diskussionen und Situationen zu den Gegebenheiten der Arbeiterschaft, etwa bei den Bochumer Opel-Werken) über die Entwicklung zum linksradikalen Terrorismus und den Vietnamkrieg bzw. dem Kampf gegen den Krieb bis zu den amerikanischen Bewegungen Anfang der 1970er Jahre wie Black power und Feminismus. Und es gibt dem Autor einen sehr klugen, analytischen Erzähler, der bei seinem Blick auf die Welt auch die eigenen Position und deren theoretische Voraussetzungen immer wieder mitbe- und überdenkt. Äußerlich passiert dann gar nicht so sehr viel, es wird vor allem geredet und diskutiert, gestritten und demonstriert, analysiert und erklärt.
Der zweite, sehr interessante Punkt ist die Form von Brandeis. Die ist nämlich für die Entstehungszeit — der Roman ist immerhin schon 1978 erschienen — erstaunlich avanciert und auf der Höhe der Zeit. Und es zeigt sich auch, dass sich in den Jahrzehnten seither bei den zur Verfügung stehenden Mitteln für Prosatexte erstaunlich wenig getan hat. Brandeis ist genauso fragmentiert wie ein ordentlicher postmoderne Roman der Gegenwart, er nutzt viele Errungenschaften des modernen Romans, auch sein Erzähler spricht in zwei Perspektiven und reflektiert das auch gerne selbst:
Oh, ja. Ich weiß, Freund, hier geht es kreuz und quer: ich und er. Er Brandeis und ich Brandeis. Ich habe es sowieso probiert: »Ich« in die Gegenwart zu setzen, »Er« in die Vergangenheit. Ganz logisch. Logisch: und doch ging es dann gleich wieder durcheinander, obwohl ich weiß: Ordnung muß sein, wie bei den Fußnoten, was die Deutschen so gut können und die Franzosen nie lernen, nicht lernen wollen. Also gut. (97)
Überhaupt ist der ganze Roman erstaunlich selbstbewusst und reflektierend. Und Jaeggi gelingt es ausgesprochen gut, die Vielfalt der formalen Gestaltungselemente zu nutzen und recht harmonisch miteinander zu verbinden (auch wenn sich an einigen Stellen vielleicht manche Länge eingeschlichten hat).
Das so ein großartiger Text nicht zum Kanon deutschsprachiger Literatur gehört (selbst der Luchterhand-Verlag, bei dem seine Romane erschienen, kennt ihn nicht mehr …), ist eigentlich erstaunlich. Aber andererseits vielleicht auch symptomatisch: Längst nämlich scheint mir die Literatur zunehmend ihre eigene Geschichte (und damit auch ihre eigenen Voraussetzungen und (schon ganz banal handwerklichen) Errungenschaften) zu vergessen – es bleiben letztlich einfach nur ein paar wenige Texte und Autoren dauerhaft im kollektiven Gedächtnis. Stattdessen tut man – und das schließt sowohl die Produzentinnen als auch die Rezipienten (wie etwa die Literaturkritik) ein – gerne so, als würde jede Saison, spätestens aber jede Generation die Literatur neu erfunden. Die Lektüre von Texten wie dem Brandeis würde da mehr helfen als die “Wiederentdeckung” einst populärer Romane von von Fallada, Keun etc.
Die Geschichte tut nichts, sagt Brandeis, sie kämpft keine Kämpfe. Es ist der Mensch, der wirkliche, lebendige, Mensch, der alles tut, besitzt oder erkämpft. Es ist nicht die Geschichte, die den Menschen zum Mittel braucht, um ihre Zwecke durchzuarbeiten, als ob sie eine aparte Person wäre; die Geschichte ist nichts als die Tätigkeit der ihre Zwecke verfolgenden Menschen. (21)
außerdem gelesen:
Hans Jürgen von der Wense: documentaWanderungen. Herausgegeben & mit einem Nachwort von Harald Kimpel. Berlin: blauwerke 2015 (splitter 03). 74 Seiten.
Durch die transparente Fassade sah sie den Journalisten auf sich zukommen, durch eine Art sekundärer Absperrung oder Klappglasschranke, wie bei einem Saloon in einem futuristischen Western. So also sah das hier aus: Die Öffentlichkeit, dachte Anna, veränderte sich zwar schneller als die Tatsachen, für die sich diese Öffentlichkeit interessierte. Das geschah aber nicht einfach in der Art, erkannte sie jetzt, dass die alten Mächte sofort nachgaben und sich von den neuen stürmen ließen. Solange der traditionelle Journalismus noch in Bauten wie diesem veranstaltet wurde, während die Blogs in schäbigen Wohnungen wie ihrer entstanden, wo zwei Frauen zusammen nicht mal ein komplettes Bett besaßen, war die ganze scheißdigitale Scheißrevolution jedenfalls noch nicht vollendet. Dietmar Dath, Leider bin ich tot, 349
Alle Welt freut sich aus den verschiedensten Gründen und Anlässen immer wieder über den albernen, Sokrates zugeschriebenen Satz »Ich weiß, dass ich nichts weiß«. Er enthält drei definitorisches Unsauberkeiten, zwei fette Kategorienfehler, mindestens ein Paradoxon, anderthalb Tautologien, Sonnenblumenöl, Zwiebelpulver, Schneckenpaste und unzählige gequirlte Ausreden, aber berühmt ist er trotzdem. Dietmar Dath/Heike Aumüller, Verbotene Verbesserungen, 44
Tobias Premper: Durch Bäume hindurch. Göttingen: Steidl 2013. 93 Seiten.
Und schon wieder kurze Prosa ohne Gattung: Szenen, Einfälle, … — Vignetten fasst das wohl am besten zusammen. Premper sammelt hier Absurdes, Groteskes, Komisches, Phantastisches ungeheuer verdichtet. Nur selten ist ein Text eine ganze Seite (oder mehr) lang. Das ist vor allem eines: irrsinnig amüsant. Dabei ist das aber überhaupt nicht hirnlos, denn in der Kürzest-Prosa über Bäume und Menschen, über Normalität und das Leben, über Träume und Erscheinungen, wundersame Begnungen, Abnormalitäten als Grundstimmung, Normalität als Ausnahme stecken alles großen Fragen — selbst wenn das als “Szene aus dem wirklichen Leben” überschrieben ist. Vor allem zeigt Premper aber immer wieder die Absurdität der Banalität des Alltags, des ganz normalen Lebens mit seinen unzähligen, immer gleichen Handlungen, Momenten und Erfahrungen. Ein wirklich großartiges Vergnügen!
“Warum mann Bücher machen muss”: Weil man sonst wieder Frauen verbrennt und Schafe fickt. (38)
Moritz Rinke: Wir lieben und wissen nichts. Reinbek: Rowohlt 2013. 124 Seiten.
Wir lieben und wissen nichts ist ein nettes Kammerspiel über moderne Paare, über Liebe, Beziehung, Kommunikation und den ganzen Rest — eine Variation eines bekannten Themas also:
Kann man zusammenbleiben, wenn man sich die Wahrheit sagt? (121)
Ganz geschickt gemacht ist das, und gut verpackt — da merkt man die Erfahrung Rinkes. Und natürlich spielen auch und vor allem die Zumutungen des (post-)modernen Kapitalismus eine wesentliche Rolle: “[…] ich glaube, die Liebe ist irgendwann mit dem Kapitalismus zusammengestoßen und dabei kaputtgegangen.” (112)
Peter Salomon: Die Jahre liegen auf der Lauer. Neue Gedichte. Eggingen: Edition Isele 2012. 90 Seiten.
Leider fand ich den Band nicht ganz so spannend, wie die Rezension erwarten ließ. Salomon schreibt hier vor allem so etwas wie erzählende Gedichte: Viele “intakte” Sätze, die nur behutsam umgebrochen und so in die lyrische Form gebracht werden. Es geht viel ums Erinnern, viele Madeleines, und viel alte BRD tauchen hier auf, aber auch viel Glück — das aber nie dauerhaft und sicher ist: “Ich ging nach Hause, ich glaube / Glücklich — ” (66) schließen die “Momente des Glücks”, die genau so einen Moment des Endens der Vergangenheit, des Niederlegens eines alten Gebäudes aufzeigen. Genau dieser das Ende offen lassende, andeutende Gedankenstrich beschließt nicht wenige seiner Gedichte (“Es war, als gäbe es nie ein Ende — ” (71)) Vieles ist hier ganz nett, aber berührt mich nicht sehr nachdrücklich: Vielleicht ist es deshalb für mich nicht so spannend, weil Salomon der Kraft und Gestalt der “normalen” Sprache weitgehend vertraut — ich bevorzuge momentan Lyriker, die Sprache sozusagen gegen den Strich bürsten, wesensfremd verwenden — und daraus Bedeutung(en) erzeugen. Das passiert hier nicht.
Das Buch als Magazin #2: Woyzeck
Sehr schön und inspirierend: Gute grafische Gestaltung, vor allem spannende und anregende Fotografien. Und natürlich auch interessante, fesselnde Texte. Zum Beispiel das wunderbare Interview mit einer psychatrischen Oberärtztin …
Georg Büchner: Lenz. Herausgegeben von Eva-Maria Vering and Werner Weiland. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001 (=Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar (Marburger Ausgabe), Band 5).
Ein Klassiker, natürlich … Ein bisschen Büchner-Lektüre muss zu seinem 200. Geburtstag auch unbedingt sein. Der Lenz fesselt mich immer wieder: Die Intensität und die gewaltige Sprache der Erzählung finde ich faszinierend. Auch wenn mir dieses Mal sehr aufgefallen, wie “unfertig” der Text eigentlich ist …
Dietmar Dath: Kleine Polizei im Schnee. Erzählungen. Berlin: Verbrecher 2012. 236 Seiten.
Kleine Polizei im Schnee ist ein typischer Dath. Natürlich ist das (wieder) eine Mischung aus Sci-Fi, Dys- & Utopie, Gegenwartsbeschreibung & ‑kritik, phantastischer und realistischer Literatur (sein Markenzeichen und eine seiner besten Qualitäten — der größte Stilist ist er schließlich nicht …). Untypisch ist nur die kleine, kurze Form von sehr unterschiedlicher Länge, die seinen Kosmos etwas zugänglicher wirken lassen als die großen Schinken. Dabei ist zugänglich aber relativ. Denn wieder prägen Verknüpfungen kreuz und quer diese Texte (die eigentlich einen großen Text bilden). Es gibt also viel zu entwirren: Dath praktiziert ein sehr faszinierendes Erzählen aus verschiedenen Richtungen. Man kann (und darf) das dann wie ein Puzzle zusammensetzen. Die einzelnen Teile sind aber auch schon sehr schön, so dass es nicht so schlimm ist, wenn das Puzzle nicht ganz fertig wird ;-). (Daths Werk gibt mal viel Arbeit für fleißige Germanisten, mit all seinen intra- und intertextuellen Allusionen und Bezügen, v.a. innerhalb seines eigenen Werkes …)
Konsequenz ist nämlich noch schöner als Erfolg. (167)
Die Kapitalisten führen sich auf, als wollten sie zur Menschheit gar nicht gehören. Na schön. Dietmar Dath: Maschinenwinter. Wissen, Technik, Sozialismus. Eine Streitschrift. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008 (edition unseld, 8), 86