Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

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Das Adlon — eine Hochglanz-Familiensaga

Eine selt­same Pro­duk­tion ist das, was das ZDF da pro­duziert bzw. pro­duzieren lassen hat, diese “Fam­i­lien­saga” um das Hotel Adlon. Dieser riesige deko­ra­tive Aufwand (das ist wirk­lich oft schön anzuse­hen) für eine im Kern doch ganz schön magere Geschichte … Aber Josephine Preuß kann man gerne zuschauen …

Vor allem aber fall­en da so einige Merk­würdigkeit­en dabei ab. Am stärk­sten fiel mir der selt­same Umgang mit Geschichte und Ver­ant­wor­tung auf, der den Dre­it­eil­er durchzieht. Geschichte ist, das ist wenig ver­wun­der­lich, hier vor allem Kulisse. Aber natür­lich zieht dieses Spek­takel um eine Geschäfts­grün­dung (oder auch nicht, der Beginn blieb im Unklaren) zu Beginn des 20. Jahrhun­derts in Berlin und die Schilderung der weit­eren Gänge des Geschäftes und der dazuge­höri­gen (Teil-)Familie einen wesentlichen Teil sein­er Legit­i­ma­tion aus der Verknüp­fung mit der deutschen Geschichte im 20. Jahrhun­dert, vom Kaiser­re­ich bis in die Gegen­wart des wiedervere­inigten Deutsch­land.

Aber Geschichte find­et hier nur im kleinen Raum statt: Berlin gibt es eigentlich nicht (war offen­bar zu aufwändig …), son­dern nur das Hotel Adlon — da aber gerne schön sym­bol­trächtig vom Bran­den­burg­er Tor aus betra­chte wird. Ander­er­seits ist es aber wieder nur Geschichte im großen: Natür­lich der Kaiser selb­st (Hitler bleibt dann wenig­stens aus­ges­part), aber vor allem Fam­i­lie des Großkap­i­tal­is­ten Adlon und seines kaum weniger geschäft­stüchti­gen und aus­beu­ter­ischen Kom­pagnon Schadt. Sich­er, da gibt es noch die Kutscher­fam­i­lie, die die Hand­lung bzw. einen wesentlichen Strang, in Gang set­zt: Aus ihr stammt Friedrich, der dum­mer­weise die Tochter des Schloss­be­sitzers schwängert (und dessen gesamte Fam­i­lie dadurch ihrer Exis­tenz beraubt wird). Aber die “kleinen” Leute spie­len dann weit­er keine Rolle — außer in ihrer Funk­tion als Staffage und natür­lich als Diener. Friedrich darf sich dann auch vom Pagen bis zur Rezep­tion hochar­beit­en (aber bitte nicht weit­er!), bevor er im Feuer umkom­men muss.

Doch das größte Prob­lem für mich: Ver­ant­wor­tung für Entschei­dun­gen im eige­nen Leben und der Geschichte muss hier keine der Fig­uren übernehmen. Allen passiert das Unglück nur, nie ist jemand schuld — nicht im Ersten Weltkrieg und natür­lich auch nicht im Zweit­en Weltkrieg. Selb­st der als reich­lich teu­flich-unsym­pa­thisch-böse (schon die Steifheit beim Fotografieren!) geze­ich­nete von Ten­nen ist dann doch nicht so richtig böse … Dafür wird dann der feuchte Traum jedes im Drit­ten Reich mitschuldig gewor­de­nen Deutschen wahr, wenn sich der mehrfach ver­haftete, angeschossene und schließlich aus­gewiesene und in der Pam­pa in der Nähe der deutschen Gren­ze aus­ge­set­zte Jude (der dann in Israel natür­lich unge­heuer erfol­gre­ich wird) bei der Deutschen Son­ja Schadt, die ihn brav im Stich gelassen hat, um zusam­men mit Goebbels im Radio die Olymp­is­chen Spiele anzusagen, — entschuldigt. Dann endlich hat alles wieder seine Ord­nung gefun­den und die Welt ist heil und Friede kehrt in den Fam­i­lien ein, nie­mand muss verurteilt wer­den, nie­mand hätte vielle­icht bessere Hand­lungsmöglichkeit­en wählen kön­nen, nie­mand muss sich von den Nachge­bore­nen sagen lassen, dass sein Ver­hal­ten in kri­tis­chen Zeit­en und Umstän­den vielle­icht nicht opti­mal gewe­sen ist. Statt dessen: Ein­tra­cht und Ein­heit. Zumin­d­est in dieser Fernsehsippe.

Taglied 23.5.2012

Wir sind die Einge­bore­nen von Tri­zone­sien — Karl Berbuer (1948)

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und die “Alter­na­tivver­sion”:
Tri­zone­sier­lied — alter­na­tive Ver­sion

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Verhängnis

“Es wal­tet ein Ver­häng­nis über diesem Land und ich weiß genau, daß es nicht nur der Kap­i­tal­is­mus ist. Daß dieser bes­tialisch wer­den kann, hat keineswegs ökonomis­che Gründe allein. […]Ich erkenne nur ein all­ge­meines Schla­mas­sel, und beina­he wäre mir am lieb­sten, es kön­nte noch so fort­gewurstelt wer­den.” (Siegfried Kra­cauer an Theodor W. Adorno, 28.8.1930)

Die Gegenwart, das Glück und die Literatur

Irgend­wie, so habe ich manch­mal den Ein­druck, gibt es über die deutschsprachige Gegen­wart­slit­er­atur zu viel und zu wenig Unter­suchun­gen. Geschrieben wird viel und viel geschrieben über das Geschriebene. Aber nur ganz, ganz wenig davon gelingt überzeu­gend. Richard Käm­mer­lings Buch über “Das kurze Glück der Gegen­wart”, in dem er sich der duetschsprachi­gen Lit­er­atur sein 1989 wid­met, ist so ein Fall: Schön, dass ein Kri­tik­er ver­sucht, mehr zu tun als einzelne Büch­er beim Erscheinen zu besprechen und in der Rückschau noch ein­mal zu ord­nen. Schade, dass er es so tut.

Das fängt schon ganz vorne an, mit der  falschen Prämisse — und ist dann lei­der auch noch schlecht durchge­führt. Also: Käm­mer­lings ver­langt, 1 dass die deutschsprachige Lit­er­atur gegen­wartshaltig sei und ihren Leserin­nen und Lesern die Welt der Gegen­wart erk­lärt. Das ist natür­lich irgend­wie ein hehrer Wun­sch, der zunächst ein­mal schlüs­sig scheint, aber doch Unsinn ist: Warum soll die Lit­er­atur das tun? Und warum soll sie es — das ist näm­lich Käm­mer­lings Fol­gerung — unbe­d­ingt und ausss­chließlich mit Stof­fen der ange­blichen Gegen­wart tun? Ist Lit­er­atur nicht etwas mehr als bloße Weltbeschrei­bung? Sollte sie es nicht sein? Ist das die “Auf­gabe” der Kun­st: Uns die Welt zu zeigen und zu erk­lären? Oder sollte sie sich nicht mehr um “uns” küm­mern — wenn sie über­haupt irgend etwas “soll”?

Jeden­falls geht es für Käm­mer­lings darum: Autoren sollen ihre Stoffe aus den Erschei­n­un­gen der Gesellschaft der Gegen­wart übernehmen und entwick­eln, sie sollen die Kriege der let­zten Jahre the­ma­tisieren, soziale Ungle­ich­heit­en, wirtschaftliche Entwick­lun­gen, poli­tis­ches Geschehen. Und sie sollen das offen­bar gefäl­ligst in les­bar­er, nicht zu aus­ge­fal­l­en­er Prosa tun — etwas anderes ken­nt Käm­mer­lings in diesem Buch nicht: Romane sind  — trotz des damit als großsprecherisch sich erweisenden Unter­ti­tels — seine Form, mit eini­gen Aus­flü­gen in kürzere For­men der erzäh­len­den Lit­er­atur. Drama­tis­che Texte haben zur Gegen­wart nichts zu sagen? Und Lyrik auch nicht? — Das sieht wie ein typ­is­ch­er Fehlschluss eines Zeitungs-Kri­tik­ers aus, würde ich sagen, der mit seinen beru­flich bed­ingten (?) Scheuk­lap­pen liest — in der Tat kommt in den deutschen Zeitun­gen die Lyrik schon nur extrem wenig vor, die drama­tis­chen Texte als Texte (abseits der Per­for­manz der (Ur-)Aufführung) eigentlich über­haupt nicht. Begründ­bar ist das in den Kunst­werken nicht, höch­stens in der ver­meintlichen Größe des Inter­ess­es der Leser­schaft — selb­st wenn man Gegen­wartshaltigkeit als Maßstab anlegt, sollte man erken­nen, dass dazu auch Lyrik und Dra­ma einiges zu sagen haben kön­nen.

Lei­der klebt Käm­mer­lings dann auch noch über den aller­größten Teil der zwei­hun­dert Seit­en bloß am Stoff der besproch­enen Büch­er: Über bloße Inhalt­sangaben, knappe Refer­ate des beschriebe­nen Geschehens mit ein paar Beispiel­sätzen geht er so gut wie nie hin­aus. Sowie es um die eigentliche kün­st­lerische Gestal­tung geht, um Stil­fra­gen, um Struk­turen der Texte, ihre For­men und Gestal­ten, wird Käm­mer­lings aus­ge­sprochen unge­nau und neb­ulös — vielmehr als der “Ton” eines Autors bleibt meist nicht übrig von sein­er Analyse. Das ist natür­lich schade und aus­ge­sprochen unbe­friedi­gend. Denn es ist ja nicht so, dass er schlechte Büch­er vorstellt …

Dafür spie­len inter­textuelle Net­ze, die Beziehun­gen — inhaltliche und tem­po­rale — zwis­chen den Texte, also auch so etwas wie “Schulen” des Schreibens, eine ganz große Rolle. Auch echte oder ver­meintliche Vor­bilder sind für Käm­mer­lings sehr wichtig — meist kom­men sie aus der amerikanis­chen Gegen­wart­slit­er­atur. Was dieses Nacheifern, dieses Schreiben auf Anre­gung ander­er Texte, allerd­ings bedeutet, bleibt er wiederum gerne schuldig: Was heißt es denn, das diese Beziehung erkennbar ist? Für Käm­mer­lings scheint das eher ein Vorteil zu sein, ein Ler­nen von den (richti­gen) Meis­tern. Aber warum soll mich das inter­essieren, ob Autor A jet­zt B gekan­nt hat oder nicht? Neben diesen Beziehun­gen der Texte untere­inan­der sucht Kämm­r­lings auch gerne äußere Anlässe für das Entste­hen von lit­er­arischen Werken auszu­machen. Und wieder ist mir nicht ganz klar, was das für das Ver­ste­hen (oder auch nur Erfahren) des Kunst­werkes helfen soll. Für ihn ist das aber wichtig, weil damit ja sein Gebot der Gegen­wart­snähe erfüllt wird (bzw. zu wer­den scheint).

Die abschließende Liste der 10 besten Büch­er der let­zten 20 Jahre ist dann ja, nun ja, ein etwas selt­samer Gag. Irgend­wie habe ich den Ein­druck, das war eine Ver­lagsidee, der sich Käm­mer­lings auch nur etwas wider­willig gebeugt hat. Die Liste selb­st bietet eine etwas merk­würdi­ge Mis­chung, finde ich. Das sind ohne Zweifel gute Büch­er — aber die besten? Rainald Goetz ist zum Beispiel mit “Abfall für alle” vertreten — warum “Klage” oder “Loslabern” schlechter sein sollen, erschließt sich mir nicht. Aber die bei­den Büch­er ken­nt Käm­mer­lings offen­bar nicht, muss man ver­muten — im Text selb­st kom­men sie näm­lich auch nicht vor — und das ist mir völ­lig unver­ständlich. Ingo Schulzes “Sim­ple Sto­ry” halte ich ten­den­ziell ja auch für etwas über­schätzt — das ist, genau wie Mar­cel Bey­ers “Flughunde” etwa so ein Buch, das jed­er irgend­wie gut find­en kann. Warum Thomas Lehr aus­gerech­net mit “Nabokovs Katze” auf der Liste gelandet ist, das ist mir auch wiederum nicht ganz klar — ich halte das nicht für sein bestes Buch.

Was bleibt als von Käm­mer­lings Ver­such, die (?) deutschsprachige Lit­er­atur seit ’89 zu erfassen und zu erk­lären? Eine Menge Büch­er wer­den angeris­sen, kurz vorgestellt, referiert — von denen mir dur­chaus einige wohl durch die Lap­pen gegan­gen sind (und dur­chaus einige sich vielver­sprechend anhören). Aber ganz, ganz vieles — und lei­der eben vieles unheim­lich Gutes — fällt durch das Raster. Unver­ständlich bleibt mir einiges: Warum zum Beispiel Rein­hard Jir­gl nur ein­mal nur neben­bei erwäh­nt wird (die Kun­st des name-drop­ping beherrscht Käm­mer­lings ziem­lich gut …) — ger­ade in das Kapi­tel zum erin­nern­den Roman hätte er wun­der­bar gepasst. Und fraglich bleibt dann doch auch, ob man aus Büch­ern wie denen von Kurzeck (der etwas mehr Gnade find­et als Jir­gl, aber natür­lich vor allem durch das unver­mei­dliche “proustsche” Erzählen charak­ter­isiert wird) nicht genau­so viel oder sog­ar mehr über uns und die Gegen­wart ler­nen kann als aus ver­meintlich aktuellen Büch­ern (was bei Käm­mer­lings ja nur und vor allem aktuelle Stoffe meint), die sich den spez­i­fis­chen Sit­u­a­tio­nen der Gegen­wart, d.h. der let­zten ca. 10 Jahre, wid­men.

Aber das führt mich ja wieder an den Anfang: Die Forderung der Gegen­wartshaltigkeit der Lit­er­atur ist meines Eracht­ens kun­st­fremder Unsinn, der — wie Ina Hartwig in der Süd­deutschen ganz richtig anmerk­te — der Lit­er­atur eine Stel­lvertreter­funk­tion zuweist: Sie soll erleben, was wir selb­st nicht tun. Der Anspruch, Lit­er­atur müsse uns unsere “Gegen­wart”  irgend­wie erk­lären, ist aber ein falsch­er, der den Kunst­werken auch nur sel­ten gut tut. Dafür gibt es Jour­nal­is­ten. Und beze­ich­nen­der­weise ist Käm­mer­lings von jour­nal­is­tis­chen Schreib­weisen wie Moritz von Uslars “Deutsch­bo­den” eben auch sehr ange­tan — logisch, denn sie erfüllen eben seine Bedin­gung der Gegen­wart­snähe und ‑beschrei­bung. Aber Kun­st sollte doch etwas mehr sein. Und ist es ja auch immer wieder — Käm­mer­lings zum Trotz sozusagen.

Richard Käm­mer­lings. Das kurze Glück der Gegen­wart. Deutschsprachige Lit­er­atur seit ’89. Stuttgart: Klett-Cot­ta 2011. 208 Seit­en. ISBN 978–3‑608–94607‑9.

Show 1 foot­note

  1. Ja, er ver­langt das wirk­lich — er will, dass das die Autoren tun, er will ihnen vorschreiben, wie Lit­er­atur zu sein hat. Auch wenn er natür­lich klug genug ist, eine solche präskrip­tive Ästhetik mit genü­gend Caveats zu verse­hen: Im Kern geht es ihm darum, eine bes­timmte Art von Lit­er­atur als die (einzig) richtige zu set­zen.

Goethe

„Goethe war ein lei­den­schaftlich­er Deutsch­er, nur die Deutschen mochte er nicht.“ (Hen­ning Rit­ter, Notizhefte, 340)

Konservative Tugenden: Lügen, Täuschen, Betrügen

Gus­tav Seibt hat für das heutige Feuil­leton der Süd­deutschen Zeitung eine wun­der­bare kleine Abhand­lung geschrieben, in der er Gut­ten­bergs unsägliche Ver­suche, die kon­ser­v­a­tiv­en Tugen­den­den des Lügen, des Anpassen von Regeln und Werten (des Staates vor allem) den eigen­em Gut­dünken unterzuord­nen, auf die Wis­senschaft auszudehnen, in eine his­torische Kon­ti­nu­ität stellt und auf eine Nähe dieses “putschis­tis­chen Regelver­stoßes” zum ver­fas­sungs- und geset­zesver­ach­t­en­den Ver­hal­ten Berlus­co­nis hin­weist. Und den Schluss muss ich ein­fach hier noch ein­mal zitieren, das ist zu gut und zu tre­f­fend:

Und es ist schon toll, dass wir nun, zehn Jahre nach Casimir, Kan­ther und Kohl, schon wieder ein Vir­tu­osen­stück dieser gum­mi­ar­tig beweglichen und zugle­ich wet­ter­fest tan­nen­haften aris­tokratis­chen Prinzip­i­en­stärke anstaunen dür­fen. Nach der bru­tal­st­möglichen Aufk­lärung kam die mühevoll­ste Kleinar­beit elek­tro­n­isch gestützter Textge­nese, mit der min­destens zwei Grun­dregeln wis­senschaftlichen Anstandes ver­let­zt wur­den: das Urhe­ber­recht und die ehren­wörtliche Ver­sicherung selb­ständi­ger Her­stel­lung ein­er wis­senschaftlichen Qual­i­fika­tion­ss­chrift. Dazu kommt jen­er dreiste Mut zur Unwahrheit gegenüber der Öffentlichkeit, der die bald ein­deutig belegten Ver­fehlun­gen zunächst als “abstrus” und dann als unab­sichtlich hin­stellt. Möglicher­weise kommt durch die Ver­wen­dung wis­senschaftlich­er Zuar­beit­en aus dem Bun­destag noch Amtsmiss­brauch hinzu.

Gekrönt wird das Ver­hal­tens­muster des putschis­tis­chen Regelver­stoßes dadurch, dass der so über­führte Edel­mann sich nachträglich zum Her­ren des Pro­mo­tionsver­fahrens macht und seinen Dok­tor­ti­tel von sich aus ablegt. Der Große ste­ht dabei im Sturm des Beifalls ein­er Menge, die, wie Pro­fes­sor Bar­ing weiß, beim Wort “Fußnoten” fragt: Ach, wer­den jet­zt auch Füße benotet? Dage­gen wirken ein Uni­ver­sität­skan­zler und ein in Urlaub gegan­gener Dok­tor­vater mit ihren tüdeli­gen Prü­fungsver­fahren nur bürg­er­lich-grau und glan­z­los. Das Ste­hende der Insti­tu­tion und ihres Ethos ver­dampft unter der Sonne ständis­chen Glanzes. Der Beifal­lum­toste mag kurz wack­eln, aber vor­erst ste­ht er fest, weil jede und jed­er, der ihm den entschei­den­den Stoß ver­set­zen würde, der wüten­den Menge um ihn zum Opfer fall­en müsste. Vielle­icht ist diese geschichtliche Anpas­sungs­fähigkeit an Zei­tum­stände das eigentliche Geheim­nis achthun­dertjähriger Fam­i­liengeschicht­en.

Aber was unter­schei­det solche Durch­hal­tekraft eigentlich noch von der Zähigkeit eines Sil­vio Berlus­coni?

Der ganze Text mit der Über­schrift “Der Herr des Ver­fahrens” ste­ht sog­ar online.

“Die Welt ist voller großer Rätsel.”

“Die Welt ist voller großer Rät­sel. Man weiß zum Beispiel nicht, warum die Anasazi-Indi­an­er im Süd­west­en der heuti­gen USA erst eine bemerkenswerte Zivil­i­sa­tion aufge­baut haben und dann ver­schwan­den. […] Und, noch unwichtiger: Warum existiert die FDP und wo hat sie jenen Her­rn her, der Schals mit einem Muster wie ein Kopfkissenbezug aus einem englis­chen Land­haus trägt und der trotz­dem Außen­min­is­ter wer­den will? Wäre es wirk­lich schädlich für Deutsch­land oder das Andenken von Theodor Heuss, täte der Herr es den Anasazi gle­ich?” — So eröffnet Kurt Kister in der gestri­gen SZ seine köstliche — & wiedere­in­mal wun­der­bar gelun­gene — Kolumne “Deutsch­er All­t­ag”. Und so geht das dann da noch etwas weit­er, unter anderem zu Gün­ter Wall­raffs merk­würdi­gen Verklei­dun­gen … Und ich merke ger­ade, das Abtip­pen hätte ich mir sparen kön­nen, der Text ist sog­ar online ver­füg­bar, unter dem nicht so schö­nen Titel “Wie Ker­kel­ing im Karneval”.

hoffnung und ihre erfüllung (musikalisch): esperanza spalding & triband

Eigentlich hätte auf der Ein­trittskarte ein Warn­hin­weis ste­hen müssen. Der Jazzmin­is­ter warnt: Der Genuss dieser Musik verän­dert ihr Jazz-Bewusst­sein. Denn was Jaz­zto­day jet­zt im Frank­furter Hof präsen­tierte, hat mit tra­di­tionellem Jazz unge­fähr noch so viel zu tun wie ein mod­ern­er Syn­the­siz­er mit einem ehrwürdi­gen Konz­ert­flügel – wenig, sehr wenig sog­ar. Aber das macht ja nichts. So lange es Spaß macht. Und genau dafür ist Esper­an­za Spald­ing mit ihrem Trio zum ersten Mal aus Ameri­ka nach Deutsch­land gekom­men.

Spald­ing ist eine junge Musik­erin, die sich nicht zwis­chen dem Sin­gen und dem Bass entschei­den kann – und deshalb ein­fach bei­des macht. Und mit Erfolg: ihre steile Kar­riere führte sie im Feb­ru­ar bis ins Weiße Haus. Und jet­zt nach Mainz. Da machte sie schon mit dem Open­er klar, wohin die Tour geht: „Jazz ain’t noth­in’ but soul“. Sofort ist die Band mit­ten im Groove, Otis Brown am Schlagzeug wirkt dabei stel­len­weise wie ein Drum­com­put­er. Und während Esper­an­za Spald­ing mit flinken Fin­gern ihren funky Bass wirbeln lässt und dazu noch gle­ichzeit­ig lock­er die Stimm­bän­der im Scat­ge­sang tanzen lässt, zeigt vor allem Pianist Leo Gen­ovese – auch mit der Melod­i­ca – seine ver­spielte Seite. Denn egal ob es Jaz­z­s­tan­dards oder etwa Wayne Short­es “Endan­gered Species” sind: Das Quar­tett mach sich alles zu eigen, addiert seine voll gepfropften Arrange­ments, die nur ein Ziel ken­nen: Das Ergeb­nis muss Spaß machen. Und da kom­men sie immer an, bis zur Pause ist kom­pro­miss­los gute Laune ange­sagt.

Triband kündigte sich danach dann selb­st mit „ihr Kon­trast­pro­gramm für heute abend“ an. Und das war nicht über­trieben – jet­zt war Schluss mit lustiger Spaß­musik. Das deutsche Quar­tett ist ja schon einige Jahre unter­wegs und hat in der Zeit ihre Musik noch ver­fein­ert: Zu ein­er wahren Feier der Sub­til­ität mit Hang zur nach­den­klich­er Melan­cholität. Aber nicht resig­nierend, son­dern die Wirk­lichkeit ein­fach umar­mend: Gefühlsla­gen des Indi­vidu­ums nach der Post­mod­erne besin­gen sie in Songs wie „Some­body else“. Und mit echt­en Live-Qual­itäten. Am deut­lich­sten wurde das in „Where did all the love go“ oder dem grandiosen „Dizzy Day“ am Schluss des Abends. Etwas Pop ist in dieser Mis­chung, natür­lich steuert auch die Jaz­zgeschichte einige Ingre­dien­zen bei, der Funk ist auch nicht spur­los an ihnen vorür­ber gegan­gen. Aber die Klangtüftler, die so ganz in ihrer Musik aufge­hen, bauen daraus etwas Eigenes: Sandie Wol­lasch singt immer klar und min­i­mal ver­spielt. Der Bassist Pauck­er – wie Sebas­t­ian Studnitzky ein echter Mul­ti­in­stru­men­tal­ist (auch so eine Gren­züber­schre­itung …) gibt sich mit jed­er Fas­er des hageren Kör­pers der Musik hin, tanzt um und mit Bass und Ana­log-Syn­the­siz­er, während Tom­my Bal­du die brodel­nden Rhyth­men zum Tanzen bringt. Und dieses Gebräu ist so wirkungsvoll, dass es auch das anfangs nur zurück­hal­tend reagierende Mainz­er Pub­likum in seinen Bann zieht.

(geschrieben für die mainz­er rhein-zeitung.)

eine “theorie der unbildung”?

soviel gle­ich vor­weg: eine the­o­rie der unbil­dung hat kon­rad paul liess­mann nicht geschrieben — auch wenn er seinen groß-essay so über­ti­tel hat. was er aber sehr schön und pointiert macht: mit dem mythos, eine wis­sens­ge­sellschaft zeichne sich durch viel und hohe bil­dung aus, gründlich aufzuräu­men. er tut dies dur­chaus sehr pointiert. wenn auch nicht außergewöhn­lich orig­inell.

am her­vorstechend­sten ist schon seine analyse der augen­blick­lichen mis­ere (auch er muss natür­lich anerken­nen, dass sich das sys­tem der (aus-)bildung per­ma­nent in der krise befind­et) als eine erschei­n­ung der unbil­dung, die — im gegen­satz zu den refor­mver­suchen der nachkriegszeit — vol­lkom­men auf den anschluss an den begriff der bil­dung verzichtet, auch in der nega­tion nicht mehr auf ihn rekur­ri­ert (und damit unter­schieden ist von dem, was liess­mann in anschluss an adorno als halb­bil­dung klas­si­fiziert).

von dort aus ist es liess­mann dann ein leicht­es, einige der gröberen missstände anzuprangern und vorzuführen: das unen­twegte schie­len nach ran­glis­ten­po­si­tio­nen etwa, dass mit bil­dung nie etwas zu tun haben kann, da diese als qual­ität prinzip­iell nicht quan­tifizier­bar sei und damit auch nicht in ran­glis­ten oder ähn­lich ord­nun­gen über­führt wer­den könne. oder die krankheit der eval­u­a­tion, die auf dem gle­ichen missver­ständ­nis beruht, zusät­zlich allerd­ings beson­ders deut­lich auch noch geheime nor­ma­tive vor­gaben (schon durch die art der fra­gen) entwick­elt und etabliert. und immer wieder: der gegen­satz von wis­sen als ver­füg­barkeit von infor­ma­tion­spar­tikeln und bil­dung (im klas­sis­chen, human­is­tis­chen sinn, unter direk­tem rück­griff auf wil­helm von hum­boldts ideen und ide­ale).

der man­gel an diesem ver­such wie bei allen ähn­lichen unternehmungen: sie kom­men immer zu spät (ein vor­wurf, der liess­mann unbe­d­ingt tre­f­fen muss — er ist schließlich teil des miss­standes), sie sind immer zu gebildet und speziell, um gehört zu find­en. und hat dur­chaus auch einige lose enden (zum beispiel bei seinem angriff auf die rechtschreibre­form — warum die neue rechtschrei­bung unbe­d­ingt weniger ästhetisch sein soll als die alte erschließt sich mir über­haupt nicht — vielle­icht bin ich dafür aber auch zu sehr prag­matik­er). alles in allem: eine lesen­werte stre­itschrift für bil­dung und gegen die ver­dum­mungs­be­mühun­gen der informierten wis­sens­ge­sellschaft.

kon­rad paul liess­mann: the­o­rie der unbil­dung. wien: zsol­nay 2006.

bei der taz gibt es online ein inter­view von robert misik mit liess­mann.

und noch ein p.s.: wie frag­il und flüchtig wis­sen auch in der soge­nan­nten wis­sens­ge­sellschaft (oder ger­ade hier) ist, lässt sich an liess­man­ns büch­lein exzel­lent beobacht­en: das ist näm­lich grot­ten­schlecht geset­zt — unter mis­sach­tung der eigentlich immer noch gülti­gen satzregeln. zum beispiel habe ich sel­ten ein buch eines immer­hin renom­mierten ver­lags gele­sen, in dem es der­maßen auf­fäl­lig von schus­ter­jun­gen wim­melt. und in dem es nicht nur ein­mal vorkommt, dass fußnoten nicht nur auf der falschen seite, son­dern tat­säch­lich auf der falschen dop­pel­seite platziert sind (also zwis­chen dem fußnoten­ze­ichen und der fußnote ein zwangsweis­es umblät­tern liegt) — so ein mist sollte doch eigentlich jedem lehrling in der ersten woche abgewöh­nt wor­den sein …

p.p.s.: ganz passend habe ich ger­ade auf tele­po­lis ein artikel gefun­den, der hier per­fekt passt (vor allem zu liess­man­ns viertem kapi­tel, der wahn der ran­gliste): „die welt in zahlen — Rank­ings gehören zu den wirk­mächtig­sten Mythen des neolib­eralen All­t­ags”. dort heißt es unter anderem: „Rank­ings for­men die Wirk­lichkeit, die sie zu messen vorgeben”. anson­sten ste­ht da (wie so oft) kaum etwas bemerkenswertes drin. aber die koinzi­denz mit mein­er lek­türe war doch wieder ein­mal bemerkenswert …

ein kleiner nachtrag zum hubert-fichte-jubiläum

„Es ergeben sich Über­schnei­dun­gen“ heißt es am Anfang der Palette. Und das ist, das klitzek­leine Hubert-Fichte-Jahr zum 20. Todestag macht es deut­lich, noch sehr unter­trieben. Im Zen­trum ste­ht natür­lich das etwas über­raschende Erscheinen des Ban­des Die zweite Schuld von Fichte selb­st. Fis­ch­er, inzwis­chen Ficht­es Hausver­lag, hat sich entschlossen, die Geschichte der Empfind­lichkeit, dieses vielköpfrige Mon­ster, mit dem Fichte sein schrift­stel­lerisches Werk krö­nen wollte, damit vorzeit­ig zum Abschluss zu brin­gen. Das bringt allerd­ings wenig Über­raschun­gen, wenig prinzip­iell Uner­wartetes. Auch die span­nende Frage, warum Fichte dieses Buch mit einem Sper­rver­merk verse­hen hat­te, hängt plöt­zlich ganz und gar in der Luft: So spek­takulär ist das alles gar nicht. Über den Zeit­punkt der Veröf­fentlichung kann man übri­gens tre­f­flich stre­it­en. Und das ist schon typ­isch für alles, was mit der Geschichte der Empfind­lichkeit zu tun hat: Defin­i­tive Klarheit­en gibt es hier im Moment fast gar keine, zu oft hat Fichte hier selb­st noch geschwankt. Auch seine Angaben zur Dauer der Sper­rfrist vari­ieren, man hätte das Buch auch guten Gewis­sens  und mit guten Argu­menten erst in 10 Jahren her­aus­brin­gen kön­nen. Davon abge­se­hen, ist Die zweite Schuld eigentlich ein unmöglich­es Buch. Und das mehrfach: Es ist ein­fach nicht fer­tig – und nir­gendswo in der Geschichte der Empfind­lichkeit fällt das so sehr auf wie hier -, es ist aber auch eine dop­pelte Zumu­tung an den Leser: Von Fichte selb­st und seit­ens der Her­aus­ge­ber.

Das The­ma ist der deutsche Lit­er­aturbe­trieb – mit einem leicht eth­nol­o­gisch gefärbten Blick und der ewigen Suche suche nach den wahren Motiv­en des Han­delns entwick­elt Fichte die Szener­ie des Lit­er­arischen Col­lo­qi­ums in Berlin mit seinen Teil­nehmer, den Dozen­ten und Fichte selb­st. Das Buch trägt außer­dem den Unter­ti­tel „Abbitte an Joachim Neu­gröschel“. Und damit ist offen­bar das stärk­ste Motiv für diese Arbeit genan­nt. Denn Fichte geht es gar nicht so sehr um das LCB selb­st, son­dern viel mehr um die sich dort man­i­festieren­den Macht­struk­turen und kreuz und quer ver­laufend­en Anti- und Sym­pa­thien. Erar­beit­et und geschrieben ist das ganz offen­sichtlich aus einem Unbe­ha­gen, als Teil­nehmer in dieseSi­t­u­a­tion selb­st ver­wick­elt gewe­sen zu sein, die anlässlich ein­er Kri­tik eines Textes von Neu­gröschel durch Grass, die Fichte bedenken­los fort­set­zte, in einem sym­bol­is­chen Juden- und/oder Schwu­len­mord gipfelt. Dafür hat Fichte einige der dama­li­gen Teil­nehmer inter­viewt. Und das sind natür­lich wieder typ­is­che Fichte-Inter­views, mit ihrer beson­deren Inten­sität und dem zwar genau geführten und ges­teuert, aber sich stets kol­lo­qui­al geben­den Dia­log-Ablauf. Gesprochen hat er mit Neu­gröschel selb­st, mit Elfriede Ger­s­tel, Her­mann Peter Piwitt und Wal­ter Höllerer. Dazu kom­men immer wieder kurze Skizzen, kleine Sit­u­a­tions­beschrei­bun­gen aus Berlin und der Gruppe 47. Und am Ende noch eine frühe Fichte-Erzäh­lung, „Im Tief­stall“.

Verzweifeln kann man an diesem Buch, d.h. an sein­er äußeren Gestalt. Denn so lobenswert es ja von den Leuten bei Fis­ch­er ist, das noch zu veröf­fentlichen – hätte man das nicht gle­ich richtig machen kön­nen? Wie die gesamte Geschichte der Empfind­lichkeit ist das auch ein furcht­bar­er mis­chmasch und nicht nur völ­lig inkon­se­quent, son­dern auch unprak­tisch und dadurch fast unles­bar. Z.B. das Höllerer-Inter­view, oder bess­er gesagt die kär­glichen Reste, die Fichte noch selb­st tran­skri­biert hat­te. Im Manuskript sind die Gesprächs­fet­zen noch mit den Ini­tialen verse­hen – weil zwis­chen­durch viele Dialogteile fehlen, ist das ja nicht ger­ade ganz verkehrt. Jet­zt ste­hen da nur noch Spiegel­striche. Und spätestens nach ein paar seit­en muss man rat­en, wer ger­ade spricht – sehr müh­sam ist so etwas… Denn damit ist der zen­trale Teil des geplanten Ban­des eigentlich über­haupt nicht les­bar, ganz zu schweigen davon, dass noch zwei wichtige Inter­views ganz und gar fehlen, die hat Fichte noch nicht ein­mal geführt: Mit Oswald Wiener und HC Art­mann.

Schon deshalb wäre der Unter­ti­tel, den Fichte notiert hat, eigentlich gar nicht so schlecht gewe­sen: Frag­mente. Nun heißt der Band aber „Glossen“, eine der frag­würdi­ger­eren Her­aus­ge­ber-Entschei­dun­gen. Die zweite Schuld ist wahrschein­lich vor allem der Band der Geschichte der Empfind­lichkeit, der die Schwierigkeit­en – und lei­der eben auch die Unzulänglichkeit­en – dieser pos­tu­men Edi­tion am stärk­sten her­vorteten lässt. Nur als zwei Beispiele noch: Das unfer­tige Höllerer-Inter­view druck­en die Her­aus­ge­ber mit den Coun­ter­num­mer ab, denn: „Die Lizenz Ficht­es, eine unortho­doxe Gram­matik und Syn­tax unge­filtert zu belassen und dafür eine entsprechende informelle Inter­punk­tion einzuset­zen, machen diese zum Instru­ment, das präzise das Aus­ge­sagt über­mit­telt“ – was immer das heißen soll. Oder die abschließende Erzäh­lung „Im Tief­stall“. Die wird gedruckt nach ein­er Veröf­fentlichung von 1965, nicht nach der Form, in der sie Hubert Fichte maschi­nengeschrieben in das Manuskript einge­fügt hat­te – ohne das irgend­wie zu begrün­den.

Ähn­lich unbe­friedi­gend sind auch andere Novitäten,  z.B. die Edi­tion der Hör­w­erke bei Zweitausendeins. Immer­hin ist sie jet­zt über­haupt mal erschienen, nach lan­gen, lan­gen Verzögerun­gen. Aber auch hier wieder ist die Art der Veröf­fentlichung zumin­d­est ernüchternd, wenn nicht verärg­ernd. Davon, dass die Kom­prim­ierung auf 2 mp3-CDs wed­er der klangqual­ität noch dem Han­dling irgend­wie ent­ge­genkommt (so teuer sind doch CD-Pres­sun­gen gar nicht mehr?), die Auswahl bleibt, um es milde auszu­drück­en, unbe­friedi­gend. Fast alles wichtiges fehlt: die vie­len Hör­spiele – zu nen­nen wäre ja nur Ich würde ein oder Lohen­steins Ibrahim Bas­sa schlum­mern weit­er­hin in den Rund­funkarchiv­en — mit Aus­nahme von Gott ist ein Math­e­matik­er, das ja schon vor einiger Zeit bei sup­posée wieder zugänglich gemacht wurde. Dort gibt es ja auch schon die wirk­lich her­aus­ra­gende Fichte-Lesung im Ham­burg­er Star­club, seine Palais‑d’amour-Interviews und seine Gespräche mit Lil Picard. Das alles hat Zweitausendeins natür­lich nicht. Dafür eine Menge Rund­fun­kle­sun­gen, deren Aus­sagekraft sich in sehr engen Gren­zen bewegt. Denn die sind zwar alle­samt nicht schlecht, aber doch auch ziem­lich belan­g­los. Denn Fichte liest in der ster­ilen Atmo­sphäre des Stu­dios gewöhn­lich auch entsprechend nüchtern. Höhep­unk­te sind aber auch zu verze­ich­nen. Das Fea­ture Djem­ma el Fna, das fast schon ein Hör­spiel ist (und damit ganz typ­isch für Ficht­es ganz eige­nen umgang mit dem Medi­um Radio). Auch das kurze Hör­spiel Romy und Julius von 1973, eine rol­len­ver­tausche Ver­sion von Romeo und Julia, gehört ohne Zweifel zu den besseren arbeit­en Ficht­es. Und immer­hin ist auch San Pedro Claver dabei, das Fichte selb­st zu seinen zen­tralen Werken gezählt hat und das sich die let­zten Leben­stage des spanis­chen Jesuit­en und Mis­sion­ars in einem echt radio­pho­nen, 14stimmigen imag­inären Raum vorstellt – eine para­doxe Fig­ur, gefan­gen zwis­chen ihrer Liebe zu den Sklaven und der Ange­hörigkeit zu ein­er ver­sklaven­den Macht, der katholis­chen Kirche,  vorgestellt in ein­er Art szenis­ch­er Rit­us, den Fichte faszinierend sich­er und wirk­mächtig beherrschte.

Es hat sich aber noch mehr getan. Schon im let­zten jahr, 2005, war in den Ham­burg­er Deich­torhallen die „Leben­sreise“ von Hubert Fichte und Leonore Mau zu sehen. Das Kat­a­log­buch dazu schrieb Wil­fried F. Schmoeller – als eine Art vor­läu­fige Biogra­phie Ficht­es.  Er scheut nicht vor seinen Urteilen zurück, weiß auch viel und hat einiges Licht in die Reisen Ficht­es gebracht. Nur zu Leonore Mau und ihren Fotogra­phien fällt ihm erstaunlich wenig ein, näm­lich fast gar nichts. Dafür gibt es – bei einem als Ausstel­lungskat­a­log konzip­ierten Buch natür­lich kaum anders zu erwarten – eine große Auswahl von ihr und anderen Fotographen (etwa Chris­t­ian von Alvensleben, der Fichte für sein wun­der­schön kitschiges Port­fo­lio 1960 einen Tag bei der Land­wirtschaft­sar­beit  in der Provence beobachtete). Das hätte ein schönes und ein gutes Buch wer­den kön­nen, das auch ohne die Ausstel­lung hil­fre­ich und wohltuend ist. Denn Schoeller schreckt nie vor deut­lichen Worten und eige­nen Wer­tun­gen zurück. Aber es ist doch nur eine Mogel­pack­ung, ein Etiket­ten­schwindel: Leonore Mau ist eben wieder ein­mal nur die fotografierende Dichter­gat­tin, die zur Illus­tra­tion ein paar Bilder beis­teuern darf, son­st aber nach Möglichkeit über­haupt nicht vorkommt. Es bleibt also doch wieder nur Ficht­es „Leben­sreise“, die für Schoeller eher ein „Lebenslabyrinth“ ist (aber wer kann das nicht von sich behaupten?) Seinem „Reise­fahrplan“ fol­gt Schoeller, mit auswer­tung der ver­streuten Dat­en, auch der Reisepässe, und stellt pflicht­gemäß auch die dabei ent­standen Büch­er vor, was bei der Geschichte der Empfind­lichkeit zu recht kuriosen Ein­schätzun­gen und Verk­nap­pun­gen führt. Es hat fast den Anschein, als sei das als Vorar­beit, Par­alipom­e­na ein­er Biogra­phie zu ver­ste­hen – die Frage ist dann nur noch, wer wagt sich als erstes, seine Arbeit wirk­lich so zu nen­nen. Denn geschrieben wird sie, mehr oder weniger aus­führlich und direkt, von nahezu allen, die über Fichte veröf­fentlichen. Es wäre wohl auch das näch­ste, das fol­gerichtige Pro­jekt – neben ein­er „richti­gen“ Werkaus­gabe. Aber ger­ade die wird wohl, vor allem was die Geschichte der Empfind­lichkeit bet­rifft, noch eine Weile Desider­at bleiben.

Auch Peter Braun hat sich auf eine Reise begeben, Eine Reise durch das Werk von Hubert Fichte. Das ist ein Ver­such, eine „spez­i­fis­che Poet­ik der Orte“ zu beobacht­en oder zu kon­sti­tu­ieren. Aber genau in diesem Punkt bleibt die Arbeit von Braun frag­il, schwammig, und unbes­timmt: Worin sich denn die Orte nun genau unter­schei­den, was das „orts­ge­bun­dene Erzählen“ (43) denn nun wirk­lich aus­macht – wird kaum deut­lich. Klar, bes­timmte Dinge passier(t)en nun ein­mal an bes­timmten Orten. Aber ist Ficht­es Zugriff auf die Djem­ma el Fna wirk­lich kat­e­go­r­i­al anders als der auf, sagen wir, den Gänse­markt? Oder die Palette? Braun geht übri­gens noch ein Schrittchen weit­er als Schoeller und sieht den ganzen lit­er­arische out­put gle­ich als „Lebenss­chrei­bung“ – damit ist er dann endgültig leg­timiert, das Leben und das Werk des Autors beliebig durcheinan­der zu wer­fen. Entsprechend umstand­los springt Braun dann auch hin und her. Über­haupt ist er ein ganz großer Inte­gra­tor. Alles wird zu einem großen Buch, Leben und Werk, Roman und Inter­view, Hör­spiel und Fea­ture wird zu einem einzi­gen, gigan­tis­chen Werk zusam­mengemixt – natür­lich hat er dabei ein kleines biss­chen Recht, die inter­textuellen Bezüge sind ja schon bei der ersten Lek­türe über­haupt nicht zu überse­hen. Aber er ver­liert dabei doch lei­der immer wieder die jew­eils eige­nen Qual­itäten der Texte aus den Augen. Zeitliche Struk­turen der Erzäh­lun­gen Ficht­es kann Peter Braun etwa nur unzure­ichend, nur sehr neben­bei, über­haupt ein­mal würdi­gen. Wenn man das so hin­tere­inan­der weg liest, drängt sich fast ein etwas unlieb­samer Ein­druck auf: Irgend­wie bleibt ein schales Gefühl. Denn neu ist das nicht. Das führt bekan­nte Motive, Ideen, Analy­sen weit­er, aber ohne dabei wirk­lich neue Per­spek­tiv­en auf Ficht­es Werke zu eröff­nen: Ein beson­der­er Erken­nt­nis­gewinn ist hier nicht zu beobacht­en. Das trifft im grunde vor allem Peter Brauns Buch – von einem Ausstel­lungskat­a­log muss man nicht unbe­d­ingt eigen­ständi­ge Forschung erwarten. Aber auch Braun hat das bedacht und will die „Reise“ als Ein­führung ver­standen sehen: „vor­rangiges Ziel […] ist es, die Schwelle vor der eige­nen Lek­türe zu senken.“ (16)  Aber dann stellt sich natür­lich die Frage: für wen bloß? Und es macht dann doch den Ein­druck, als solle es den geplagten Stu­den­ten von der Last befreien, Fichte über­haupt zu lesen – die exten­sive, seit­en­lange Zitier­erei trägt da nicht unwesentlich zu bei.

Wer lesen kann und das wom­öglich gar selb­st tut, ist dage­gen ein­deutig im Vorteil – das Meiste von dem, was Braun hier ver­sam­melt, kann, soll und muss man doch recht eigentlich selb­st ent­deck­en – es hat etwas von Vorver­dau­ung, wenn er aus­führlich und dur­chaus in der Sache zutr­e­f­fend, aber let­ztlich auch über­flüs­sig für denk­ende und ver­ste­hende Leser, die ganzen Querverbindun­gen in Ficht­es Prosa aufzutrödeln sucht.
Sein Blick­winkel ist dafür natür­lich sehr stark fokussiert (um ihn nicht eingeschränkt zu nen­nen) und etwas monogam: Er konzen­tri­ert sich auf die einzel­nen Orte, wo Schoeller mehr das Ele­ment der Reise, also der Bewe­gung, im Blick­feld hat: die per­ma­nente Verän­derung, Trans­gres­sion, Trans­for­ma­tion, wie auch immer. Und er ent­deckt diese Prozesse auch in der Prosa Ficht­es, v.a. in der eth­nol­o­gis­chen (falls man die mal behelf­sweise so benen­nen darf, auch wenn es nicht ganz exakt zutrifft) natür­lich beson­ders deut­lich. Für Schoeller zeigt sich Ficht­es Reisen dabei let­ztlich nur als (mehr oder min­der) äußer­lich­er Aus­druck ein­er „Expe­di­tion nach Innen“, eines per­ma­nen­ten Forschens in nur schein­bar chao­tis­chen Sprün­gen zwis­chen Ham­burg und Bahia de Sal­vador, Schroben­hausen und São Luíz de Maran­hão.

Allen, die das schon selb­st gemerkt haben und sich immer noch näher mit Fichte beschäfti­gen wollen, sei unbe­d­ingt emp­fohlen: Michael Fischs Bib­li­ogra­phie, die auch ger­ade in ein­er Neu­fas­sung erschienen ist. Selb­st so etwas harm­los­es wie eine Bib­li­ogra­phie, die den passenden Titel Explo­sion der Forschung führt, geht nicht ohne Trubel von­stat­ten, wenn es um Hubert Fichte geht. Damals, beim Erscheinen der ersten Fas­sung 1996, gab es eini­gen Wirbel mit der Ham­burg­er Hubert-Fichte-Arbeit­stelle, die auch Anspruch auf diese Bib­li­ogra­phie erhob. Aber egal wie: Hil­fre­ich ist das schon, auch wenn die Gliederung nicht immer bis ins Let­zte überzeugt. Und doch ist sie eben genau in dieser Form (auch) ein klares Zeichen für den momen­ta­nen Umgang mit Fichte: Die Erforschung scheint sich in ein­er Kon­so­li­dierungsphase, im Über­gang,  zu befind­en: Der Autor entschwindet langsam aber unaufhalt­sam und muss immer wieder neu ent­deckt, d.h. ver­standen wer­den. Es kön­nten sich also noch ein paar mehr Über­schnei­dun­gen ergeben.

  • Hubert Fichte: Die zweite Schuld. Glossen. (Die Geschichte der Empfind­lichkeit). Frankfurt/Main: S. Fis­ch­er 2006.
  • Hubert Fichte: Hör­w­erke 1966–86. Hre­saus­gegebn von Robert Galitz, Kurt Kreil­er und Mar­tin Wein­mann. Frankfurt/Main: Zweitausendeins 2006.
  • Wil­fried F. Schoeller: Hubert Fichte und Leonore Mau. Der Schrift­steller und die Fotografin. Frankfurt/Main: S. Fis­ch­er 2005.
  • Peter Braun: Eine Reise durch das Werk von Hubert Fichte. Frankfurt/Main: Fis­ch­er Taschen­buch 2005.
  • Michael Fisch: Hubert Fichte – Explo­sion der Forschung. Bib­li­ogra­phie zu Leben und Werk von Hubert Fichte. Unter Berück­sich­ti­gung des Werkes von Leonore Mau. Biele­feld. Ais­the­sis 2006.

(ste­ht auch in der test­card no. 16)

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