»Nächstens mehr.«

Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Ins Netz gegangen (30.5.)

Ins Netz gegan­gen am 30.5.:

  • Kleist-Edi­tion: Ein trau­riges Ende | Süd­deutsche → kleist-experte und ‑her­aus­ge­ber klaus müller-sal­get berichtet vom sehr unrühm­lichen umgang des hanser-ver­lages mit der offen­bar grot­ten­schlecht­en, aber als ulti­ma­tiv­en ange­priese­nen kleist-leseaus­gabe von roland reuß und peter staen­gle — nach­dem der ver­lag eine revi­sion ver­sprach, die fehler­hafte aus­gabe aber munter weit­er verkaufte, stellt er sie nun gän­zlich ein (das sind übri­gens die ver­lage, die über die vg wort geld von den urhe­bern haben wollen — für ihre uner­set­zlichen leis­tun­gen …)
  • re:publica 2016 – Thorsten Schröder & Frank Rieger: Ad-Wars → span­nen­der vor­trag von frank rieger & thorsten schröder über adblock­er, mal­ware und gefahren­ab­wehr im netz (mit lösungvorschlä­gen!)
  • Muse­ums­di­rek­tor Köhne im Gespräch: Wir müssen es wagen! | FAZ → eckart kröhne, direk­tor des badis­chen lan­desmu­se­ums, will sein muse­um öff­nen — die faz spricht im inter­view von ein­er “rev­o­lu­tion von unten”:

    Museen sind eigentlich so angelegt, dass sie die wis­senschaftlich fach­liche Deu­tung­shoheit für ihre Inhalte haben. Wir ver­suchen, neben diesem kura­torischen Strang einen zweit­en Strang zu entwick­eln, bei dem wir sel­ber nicht mehr deuten, son­dern die Nutzer und Nutzerin­nen des Muse­ums das tun.

  • Krise des Lib­er­al­is­mus: Ein autoritäres Ange­bot | Zeit → thomas assheuser ver­sucht sich in der “zeit” an ein­er analyse der sit­u­a­tion des lib­er­al­is­mus — und so viel er richtig beobachtet, frage ich mich doch, ob sein aus­gangspunkt — dass näm­lich “unsere” mod­erne lib­erale gesellschaft so eng mit dem lib­er­al­is­mus zusam­men­hängt, wirk­lich richtig ist. ich tendiere ja eher zur annahme, dass die poli­tik der let­zten jahre/jahrzehnte genau das — näm­lich den lib­er­al­is­mus — ver­loren hat, auch ohne in das autoritäre geham­pel der recht­en zu ver­fall­en.

    Man kann sich leicht aus­malen, welch kle­brige Attrak­tiv­ität eine solche Aparthei­dge­sellschaft entwick­elt, wenn Bürg­er das Gefühl haben, sie seien Mod­ernisierungsver­lier­er und kön­nten sich für ihre lib­erale Frei­heit nichts kaufen. Die rechte Alter­na­tive ver­spricht dage­gen die Befreiung von der Befreiung und den Abschied von Europa sowieso. Sie malt die Nation als gute Stube mit Hirschgeweih und kugel­sicheren Butzen­scheiben, als Trutzburg gegen Ter­ror, Kli­makatas­tro­phe und Flüchtlinge, kurz: als wet­ter­festen Her­rgottswinkel für Men­schen mit apoka­lyp­tis­chen Vorge­fühlen, die nicht zu Unrecht fürcht­en, die “Welt draußen” könne über ihren Köpfen zusam­men­brechen. Das autoritäre Ange­bot ver­fängt.

  • Exzel­len­zini­tia­tive: Pri­vat ein Laster, öffentlich eine Tugend | FAZ → jochen hörisch über den “dou­ble­s­peak” in bezug auf die exzellenziniative,die auch viele (beteiligte) wis­senschaftler für sub­op­ti­mal bis unsinn hal­ten, das aber selten/kaum öffentlich sagen

    Man muss kein appro­biert­er Medi­en- und Kom­mu­nika­tion­swis­senschaftler sein, um die alltägliche Kom­mu­nika­tion an den Uni­ver­sitäten über die alte wie die neu aufgelegte Exzel­len­zini­tia­tive auf­fal­l­end und analy­sebedürftig zu find­en. Denn immer wieder macht sich ein pro­fanes Dilem­ma bemerk­bar. Im ältesten Medi­um, der face-to-face-com­mu­ni­ca­tion, wird noch sehr viel stärk­er als son­st gän­zlich anders über die Exzel­len­zini­tia­tive gesprochen als in der pub­lizierten Schrift­form. Antragsprosa oder Ver­laut­barun­gen von offiz­iösen Uni­ver­sität­szeitschriften begrüßen die Erneuerung der Exzel­len­zini­tia­tive, anson­sten aber hört man zumeist läster­liche Reden.

  • Corporate’s Child | textdump → zur lage der poli­tik einige scharfe beobach­tun­gen und anmerkun­gen in guenter hacks textdump:

    Der Staat gibt vor, alles sehen zu kön­nen (siehe Punkt 2), wenn er aber han­deln soll, tut er so, als seien ihm die Hände gebun­den, von der bösen EU, durch inter­na­tionale Verträge, durch Ressourcen­man­gel, durch die all­ge­meine Wirtschaft­slogik, die halt nun mal so ist. Wenn der Staat agiert, dann nur mit noch mehr Repres­sion nach unten, weil das halt ein­fach­er ist, als Steuern von Ama­zon zu ver­lan­gen. Diese Diskrepanz führt zu ein­er Art Theodizeege­fühl, die schon ziem­lich mas­sive Wel­tre­li­gio­nen hat abschmelzen lassen.

    Die neona­tion­al­is­tis­chen Parteien sind nicht deswe­gen so erfol­gre­ich, weil sie dis­rup­tiv wären, son­dern weil sie beste­hende Leitlin­ien der Main­stream-Poli­tik der let­zten 30 Jahre kon­se­quenter und skru­pel­los­er wei­t­er­denken als die Cor­po­rate-Poli­tik­er selb­st.

Lyrik und Freiheit

Lyrik han­delt von Struk­turen, die Charak­teren zugrun­deliegen. Sie muss sich nicht den Per­sön­lichkeit­en und ihren Entwick­lun­gen zuwen­den, denn sie inter­essiert sich vor allem für die Struk­turen von Welt und Denken, die die Sprache in unserem Bewusst­sein geschaf­fen hat.Moni­ka Rinck, Wir. Phänomene im Plur­al (2015), 26

Es gibt aber eine gewisse Frei­heit. Die bewahrt man sich, indem man nur gute Fra­gen beant­wortet, schlechte Fra­gen ablehnt oder schweigend quit­tiert und unge­wollte Vere­in­nah­mungen durch dis­rup­tive Hand­lun­gen erschw­ert. Im Zweifels­fall ist es hil­fre­ich, immer mal wieder zu sagen: »Ich nicht« — ganz gle­ich, ob der Kon­text das hergibt oder nicht. Und Gedichte zu lesen, um sich einzuüben in die Aus­lockerung der Pronomen — denn wir, das kön­nten jed­erzeit auch die anderen sein. Moni­ka Rinck, Wir. Phänomene im Plur­al (2015), 40

rinck, wir (cover)

Ins Netz gegangen (24.5.)

Ins Netz gegan­gen am 24.5.:

  • Warum wählen junge Män­ner so gerne rechts? | jetzt.de → der sozi­ologe bern­hard hein­zl­maier spricht tachelese:

    Der unge­bildete Mann sieht sich als Opfer der Ver­hält­nisse, weil er nicht mehr machen darf, was er will: zu schnell Auto fahren, besof­fen Auto fahren. Stattdessen muss er sich um den Haushalt küm­mern. Das irri­tiert die verblöde­ten Män­ner. Deswe­gen fol­gen sie ein­er Partei, die sich sys­tem­a­tisch als Opfer insze­niert
    […] Und die unge­bilde­ten jun­gen Män­ner fol­gen ein­er Macht, die besin­nungs­los gegen alles loss­chlägt, was Men­schlichkeit heißt.
    […] Es ist ja so: Nicht ein­mal die Recht­spop­ulis­ten sind von ihren Ideen überzeugt. Das sind gewis­senlose Betrüger, die in der Regierungsver­ant­wor­tung dann prag­ma­tisch wer­den. Und plöt­zlich ganz anders agieren, als sie vorher angekündigt haben; eine humane Außen­poli­tik machen oder sich für Homo­sex­uel­len­rechte ein­set­zen. Die glauben, bis auf ein paar Prozent Vol­lid­ioten, gar nicht an ihre eigene Idee. Die sind nur an der Macht inter­essiert. Darin passen sie zu ihren Wäh­lern.

  • Neue Musik: Krenek + Zem­lin­sky + Korn­gold = A — 300 | ZEIT ONLINE → volk­er hage­dorn hat sich ein biss­chen umgeschaut, wie “normale”/“klassische” orch­ester in deutsch­land ger­ade so mit der neuen musik (oder der alten neuen musik) umge­hen
  • Jen­seits von Gut und Böse? Die Sprach­poli­tik der deutschen Leitme­di­en | Über­me­di­en → ste­fan nigge­meier hat sich sprachregelun­gen deutsch­er medi­en & presseagen­turen angeschaut

    Die Wahl der Begriffe enthält eine Posi­tion­ierung. Ändert sich die Posi­tion­ierung, ändern sich auch die Begriffe.

  • Der zweite Ver­such → Ingo Zam­per­oni über die (Vor-)Wahl in den USA und Hillary Clin­ton

    Ready for Hillary? Schafft es Hillary Clin­ton im zweit­en Anlauf nach 2008, Präsi­dentschaft­skan­di­datin der Demokrat­en zu wer­den – oder sog­ar ins Weiße Haus einzuziehen? ARD-Kor­re­spon­dent Ingo Zam­per­oni wid­met sich den Pros und Con­tras in dieser Frage.

  • „Schweiz­er Art ist Bauernart“. Warum wir die Bauern so lieben. | Geschichte der Gegen­wart → instruk­tiv­er text von philipp sarasin über die gründe, warum die schweiz­er (städter) die bauern so lieben. und seit wann.

    Es war der Basler Bürger­sohn, ETH-Pro­fes­sor und Bauern­ver­bands­se­kretär Ernst Laur (der „Bauern­hei­land“), hat in der Zwischen­kriegs­zeit den Schwei­ze­ri­schen Bauern­ver­band (SBV) zu ein­er schlag­kräf­tigen und einfluss­rei­chen Lobby­or­ga­ni­sa­tion aufge­baut und er prägte vor allem jenen Slo­gan, der bis heute offen­bar unaus­lösch­lich im iden­ti­ty-code viel­er Schwei­ze­rinnen und Schwei­zern veran­kert ist, obwohl sie seit schon bald nicht mehr erinner­baren Genera­tionen in Städten leben: „Schweiz­er Art ist Bauernart“. Zusam­men mit seinem gleich­na­migen Sohn hat er im Rah­men der Geisti­gen Landes­ver­tei­di­gung der 1930er Jahr das neu erfun­den, was angeb­lich der „frume edle pur“ der alten Eidge­nos­sen­schaft gewe­sen sein soll: Laur junior beauf­tragte in den 1930er Jahren mehrere Textil­de­si­gner, um die heute bekan­nten Schweiz­er Tra­cht­en entwer­fen zu lassen. Dabei passt ins Bild, dass schon an der Wende zum 20. Jahrhun­dert in der Unter­hal­tungs­szene des Zürcher Nieder­dorfs die Ländler-Musik kreiert wor­den ist, und dass eben­falls zu Beginn des 20. Jh. der städtisch-bürg­er­liche Heimat­schutz die von der Mod­erne „bedro­hte“ bäuer­liche Kul­tur und die Vielfalt der Schweiz­er Bauern­häuser zu „schützen“ sich zur Auf­gabe machte. „Der“ Schweiz­er Bauer ist eine städti­sche Erfin­dung; die „Bauernart“-Ideologie war, noch bevor sie Laur auf den Begriff brachte, eine Reak­tion auf die Mod­erne.

  • taz-Stre­it zum Fahrrad-Volk­sentscheid „Da geht bei mir der Puls hoch“ | taz → Braucht Berlin den „Volk­sentscheid Fahrrad“? Ini­tia­tor Hein­rich Strößen­reuther und Staat­sekretär Chris­t­ian Gae­bler (SPD) sind unter­schiedlich­er Mei­n­ung.

Taglied 22.5.2016

noch ein­mal Lev­eleleven, dieses Mal mit der Hymne “All crea­tures”:

LEVELELEVEN — All crea­tures — The Real Group & Raja­ton (2/2)

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Taglied 20.5.2016

Lev­eleleven (die A‑Cap­pel­la-Super­group aus Raja­ton & The Real Group), Half a World Away — eine wun­der­bare Pop­bal­lade:

LEVELELEVEN — Half a World Away — The Real Group & Raja­ton (1/2)

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Lange Fluchten, gebrochene Menschen

danz, lange fluchtenEin unfer­tiger Rohbau irgend­wo in der deutschen Prov­inz, die Muster­fam­i­lie — Vater, Mut­ter, zwei Kinder — wohnt pro­vi­sorisch in Con­tain­ern auf dem Grund­stück. Das Set­ting von Daniela Danz Roman Lange Flucht­en klingt ziem­lich ein­fach und banal. Und doch ist an dem kurzen Text — ger­ade ein­mal 146 Seit­en, das ist heute nicht viel für einen Roman — nichts banal. Und nichts ist ein­fach, wed­er für den Leser noch für die Fig­uren des Textes.

Gut, das ist kein über­mäßig schwieriger Text, so scheint es zunächst. Aber entwick­elt doch seine Wider­ständigkeit­en. Denn worum geht es eigentlich? Cons (eine etwas selt­same Kurz­form für Con­stan­tin, in der das „Dage­gen“ offen­bar wird) ist ein ehe­ma­liger Beruf­s­sol­dat mit Frau und Kindern und Geliebter und einem tod­kranken Fre­und. Er lebt nach einem „Vor­fall“ in sein­er Zeit als Zeit­sol­dat in diesem pro­vi­sorisch ein­gerichteten Leben, das seines nicht so ganz zu sein scheint. Er lebt in merk­würdi­ger Nähe und Tren­nung von Frau und Fam­i­lie, er ver­schwindet für Tage, geht auf die Jagd, fährt ziel­los herum, bringt nach zwei Tagen die ver­sproch­ene Milch nach Hause — und scheint generell recht wenig auf die Rei­he zu bekom­men. Irgend­wie hängt das mit dem nicht näher erläuterten, nur nach und nach in Schemen erkennbaren Vor­fall bei einem Gefechts­man­över zusam­men, dass Con­stan­tin offen­bar psy­chisch geschädigt hat — die Frage ein­er Entschädi­gung ste­ht im Raum, ver­langt aber mehr Aktiv­ität, als er auf­brin­gen kann — und ihn in diesem persep­k­tiv- und ziel­losen Leben zurück­lässt.

Die Jagd bleibt da als einziger Rest von Aktiv­ität — nicht zufäl­lig ist das ein dem Mil­itär ähn­liche Zeitvertreib (und nicht zufäl­lig sind die betr­e­f­fend­en Pas­sagen dann auch vor­sichtig fach­sprach­lich getönt). Aber für Con­stan­tin geht es dabei wohl auch um den Moment der total­en Kon­trolle, des (mehr oder weniger willkür­lichen) Entschei­dens über Leben und Tod ein­er anderen Krea­tur — woran er selb­st tragis­cher­weise wiederum scheit­ert. Eine gewis­ser­maßen ähn­liche Ebene bringt der Selb­st­mord seines einzi­gen Fre­un­des, Hen­ning, in die Hand­lung. Der kann nur gelin­gen, weil Cons mit ein­er Bohrmas­chine (um das Seil zum Erhän­gen zu befes­ti­gen) aushil­ft — wie unbe­wusst und ungewusst das wirk­lich war, ist nicht so ganz deut­lich.

Lange Flucht­en ist bei all dem immer fast quälend nahe an der Haupt­fig­ur. Der Text im per­ma­nen­ten Präsens ist ein sehr gelun­ge­nes Abbild der Leere, der Ziel­losigkeit von Cons: Alles bleibt ohne Antrieb, aber irgend­wie auch ohne Grund:

Was soll man auch auf­schreiben, was ist für einen anderen am eige­nen Leben inter­es­sant? Was geht es irgend­je­man­den an? (81)

Dabei hat der Roman eine qua­si-natür­liche, har­monis­che Form, zum Beispiel qua­si sich selb­st ergebende Kapitelzusam­men­hänge. Über­haupt ist der ganze Text ein sehr behut­samer Text: nie ver­rä­ter­isch, aber auch nie „ver­ständ­nisvoll“, ein vorgegebenes Ver­ste­hen erheis­chend. Daniela Danz gelingt näm­lich eine ein­drück­liche Mis­chung aus zwin­gen­den Schilderun­gen und geheimnisvoller Kom­po­si­tion: Vieles bleibt — ganz natür­lich in der Erzäh­lung — ohne Grund, ohne Erk­lärung oder Demon­stra­tion von Kausal­itäten.

Erst kurz vor dem Ende geschieht etwas im und vor allem mit dem Text. Auf der inhaltlichen Ebene wird das dop­pelt vor­bere­it­et: Cons kommt über Zufälle zu einem Art Mil­i­taris­ten­tr­e­f­fen und hat dort, im Waldge­wit­ter und der Kon­fronta­tion mit einem Hirsch, eine Art Epiphanie. Dem schließt sich dann ein spon­tan­er Fam­i­lienurlaub am Meer an. Und nach der Rück­kehr von ein­er Schiff­s­rund­fahrt auf der „Alten Liebe“ bricht der Text dann, zunächst mit dem Ver­schwinden der Ehe­frau Anna (später fol­gen die bei­den Kinder ins Nichts): Das Erzähltem­pus wech­selt ins Imper­fekt, die Ober­fläche wird eben­falls als dif­fer­ent markiert durch die kur­sive Type — bei­des bis zum bald fol­gen­den Schluss durchge­hal­ten.

Und das macht aus Lange Flucht­en eigentlich noch ein­mal einen neuen, einen anderen Text. Der Wirk­lichkeitssta­tus von Text und berichtetem Geschehen wird nun endgültig fraglich und unsich­er. Unklar wird auch die Gat­tungszuord­nung: Ist das jet­zt ein Roman? Oder — darauf weist der Schlussteil hin — eine Leg­ende? Auch das bleibt am Ende dunkel, eine Auflö­sung bietet der Text selb­st nicht mehr. Die Ver­such­sanord­nung wird der Leserin ein­fach präsen­tiert, ohne Erk­lärung.

Es bleibt ein­fach ein ziem­lich radikaler Bruch ins Mythis­che, Irreale — aber was bedeutet das? Man kann dann den Text als Leg­ende lesen, d.h. als exem­plar­ischen Text. Dann wäre der Schlussteil sozusagen eine Art Kom­men­tar zum Text im Text selb­st, eine Rezep­tion­ss­teuerung — damit der „Haupt­text“ nicht (bloß) als Schildeurng eines indi­vidu­ellen Schick­sals gele­sen wer­den kann, wird das und sein Text am Schluss trans­formiert (im Sinne von „aufge­hoben“). Immer­hin begin­nt das im Kapi­tel XXVI mit dem beze­ich­nen­den Satz:

Lass mich noch ein­mal erzählen. Jet­zt ist alles ganz klar und voller Zusammenhänge.(137)

Was dann fol­gt, ist zwar über­haupt nicht klar, aber: Erst jet­zt, mit diesem Satz, begin­nt das Erzählen … (und ist damit aber auch schon wieder am Ende ange­langt).

Diese Rät­sel­haftigkeit — ohne Auflö­sung — ist die große Stärke des Textes. Auch die Deu­tung als Leg­ende hil­ft ja nur wenig — denn was heißt das denn nun für den Text und seine Fig­uren, wenn er kein Roman, son­dern eine Leg­ende ist? Dass Con­stan­tin ein Heiliger ist? Aber warum und wofür? Fra­gen bleiben nach dem Lesen, aber auch die offene Fasz­i­na­tion des Buch­es, das man zwar bei­seite leg­en kann, aber nicht so ein­fach beendi­gen. Je länger ich drüber nach­denke, desto faszinieren­der wer­den die Lan­gen Flucht­en

Er geht auf das Haus zu, ein Ver­wal­tungsmon­ster aus Back­stein und Glas. Män­ner in Anzü­gen, Leis­tungsträger, gehen schnell an ihm vor­bei, begeg­nen anderen Män­nern, Frauen, man grüßt. Mahlzeit ist das Pass­wort, mit dem man dazuge­hört. Er merkt, wie sein Gang sich von dem der anderen unter­schei­det. Er ver­sucht, ihrem Gehen, so nen­nt er es abschätzig, seinen Gang ent­ge­gen­zuset­zen, seinen stolzen Gang, aber es gelingt ihm nicht. Die gläserne Ein­gangstür öffnet sich, nir­gends ein Wider­stand. Nein, er fragt nicht den Pfört­ner, er sucht den Raum mit der Num­mer 423 selb­st. ‚Alexan­der Ste­ger‘ ste­ht auf dem Schild neben der Tür. drei leere Stüh­le davor. Er set­zt sich. Er hat ein­mal gel­ernt, eine Strate­gie zu entwick­eln, ‚Führen mit Auf­trag‘, er muss das Heft in die Hand kriegen jet­zt. Er sitzt hier, weil Anne gesagt hat, er solle hinge­hen zu dem Ter­min. (37)

Daniela Danz: Lange Flucht­en. Göt­tin­gen: Wall­stein 2016. 146 Seit­en. ISBN 9783835318410.

Ins Netz gegangen (17.5.)

Ins Netz gegan­gen am 17.5.:

  • Dis­tant Read­ing, Com­pu­ta­tion­al Crit­i­cism, and Social Cri­tique: An Inter­view with Fran­co Moret­ti | fou­caulblog → sehr langes und inter­es­santes inter­view mit fran­co moret­ti

    I think there are two impor­tant pos­si­bil­i­ties and then we have to see if they become real­i­ty or not. One has to do with the archive. The great advan­tage of quan­tifi­ca­tion is that all of a sud­den mil­lions of texts that had, for all prac­ti­cal pur­pos­es, dis­ap­peared, become avail­able for research. But you have to have a good ques­tion to ask these archives. A text always speaks to us; an archive does­n’t. Every­thing is there, but do we have good research ques­tions?
    […] The sec­ond rea­son for pos­si­ble opti­mism in dig­i­tal human­i­ties has to do with the algo­rithms that process the archives. The algo­rithms can orga­nize data in ways that are often very sur­pris­ing. […] There is some­thing that we oth­er­wise would have called intu­ition, which is not explic­it­ly for­mu­lat­ed in words, but it’s explic­it­ly for­mu­lat­ed through the oper­a­tions of the algo­rithms. This I find the most promis­ing aspect of dig­i­tal human­i­ties: the way of bring­ing new con­cepts into exis­tence, even though very often in a messy or cam­ou­flaged way.

  • Geschichte im Brei des Gefüh­li­gen – Wider das Reen­act­ment in his­torischen Doku­men­ta­tio­nen | geti­dan → umfan­gre­ich­er, per­sön­lich­er und kri­tis­ch­er blick von wern­er kröhne auf die rolle des reen­act­mens in his­torischen dokus

    Das Reen­act­ment, jen­er reißerisch insze­nierte Kurz­schluss zwis­chen den Ereignis­sen von gestern und den Gefühlen von heute.
    […] Was hier ver­stimmt und gle­ichzeit­ig die Wahrnehmung ein­schnürt, ist eine mehr oder weniger durch­scheinende Absicht: Geschichte wird ver­füg­bar gemacht in einem ästhetisieren­den Akt, in der Dis­tanzen von jet­zt zu damals eingeschmolzen wer­den und let­ztlich alle Katzen grau erscheinen. In Fil­men wie Ben Hur mochte das immer­hin ein illu­sion­is­tis­ches langes Epos ergeben, das auch der späteren Erin­nerung dien­lich sein kon­nte : in den heute so zahlre­ich gesende­ten His­to­rien-Dokus hinge­gen wird eine Verquir­lung und Ver­matschung von Gegen­wart und Ver­gan­gen­heit vol­l­zo­gen, aus der keine wirk­liche Erin­nerung erwach­sen kann. Vielmehr nähert sich diese Form der cli­par­ti­gen Zurich­tung von Geschichte und Geschicht­en dem Pornofilm an.

  • Pforzheim: Schuld oder selb­st schuld? | Zeit → valerie schön­ian in der “zeit” über die evan­ge­lis­che dekanin von pforzheim, die sich als christin erlaubt, poli­tisch zu sein — und auch an die “schat­ten­seit­en” der stadt­geschichte zu erin­nern
  • Wohnen der Zukun­ft: Fuss­gänger­städte und Genossen­schaften — wat­son → inter­es­santes inter­view mit hans wid­mer über städte, ihre möglichkeit­en und vorzüge, ihre entwick­lung etc (am beispiel der schweiz)

    Wer höher als im acht­en Stock wohnt, der lebt nicht mehr in ein­er Stadt, son­dern in einem Wolken-Kuck­ucks-Heim. In mein­er Ide­al­stadt muss die Kom­mu­nika­tion unter den Men­schen sehr inten­siv sein, eben­so die Koop­er­a­tion – und alles muss nah sein, span­nend und vielfältig

  • The Trans Move­ment Just Had Its “I Have a Dream” Moment → sehr gute rede der us-amerikanis­chen jus­tizmin­is­terin loret­ta lynch zur vertrei­di­gung der rechte von trans-per­so­n­en

    This is why none of us can stand by when a state enters the busi­ness of leg­is­lat­ing iden­ti­ty and insists that a per­son pre­tend to be some­thing they are not, or invents a prob­lem that doesn’t exist as a pre­text for dis­crim­i­na­tion and harass­ment.

Taglied 17.5.2016

May­be­bop hat noch ein­mal nachgelegt und ein nettes Video zu „Es war gut so“ gedreht:

Es war gut so — MAYBEBOP (2016)

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Aus-Lese #44

Nora Bossong: 36,9°. Berlin, München: Hanser 2015. 318 Seit­en.

bossong, 36,9°Das ist in meinen Augen ein sehr schwach­er Roman, der mich sehr ent­täuscht hat. Schon Gesellschaft mit beschränk­ter Haf­tung hat mich zwar auch nicht großar­tig begeis­tert, war aber doch deut­lich bess­er, was etwa die Kon­struk­tion und die stilis­tis­che Ausar­beitung ange­ht — bei­de Romane bestärken eigentlich nur meinen Wun­sch, von Bossong (wieder) mehr Lyrik zu lesen …

Der Text von 36,9° wirkt merk­würdig müde und erschöpft. Vielle­icht ist das ja eine beab­sichtigte Par­al­lele von Inhalt und Form (schließlich geht es um das aufzehrende, schwierige, harte Leben des Anto­nio Gram­c­si), aber mich hat das trotz­dem aus Grün­den, die ich nicht so genau benen­nen kann, eher abgestoßen. Erzählt wird in zwei Per­spek­tiv­en in zwei (groben) Zeit­ebe­nen das Leben Gram­c­sis und eine Art Forschungsaufen­thalt des Gram­c­si-Spezial­is­ten Anton Stöver, der in Rom nach einem ver­schol­lenen Manuskript sucht. Wieso es diese Dop­pelung von Erzäh­ler und Zeit­en eigentlich gibt, ist mir nicht so ganz klar gewor­den — nur um die Überzeitlichkeit zu beto­nen? Um nicht in den Ver­dacht zu ger­at­en, eine Gram­c­si-Biogra­phie zu schreiben? Und wozu ist dann der Man­skript-Kri­mi (der ja als solch­er über­haupt nicht funk­tion­iert, weil er nicht richtig erzählt wird, son­dern nur als Hil­f­s­mit­tel dient und ab und an her­vorge­holt wird …) gut? Oder sollen die Zeit­ebe­nen nur sig­nal­isieren, dass dies kein „nor­maler“ his­torisch­er Roman ist? (Der in den Gram­sci-Kapiteln als solch­er auch eher schlecht funk­tion­iert, aber das ja wiederum auch gar nicht sein will …)

Zur Poli­tik bleibt der Text dabei merk­würdig dis­tanziert, die Lei­den­schaft etwa Gram­c­si (im wahrsten Sinne, näm­lich mit all den Lei­den) wird vor allem behauptet, aber nicht eigentlich erzählt. Und das pri­vate fühlt sich oft auf­dringlich, etwas schmierig an (wie Boule­vard­jour­nal­is­mus). Das erschien mir oft als eine Art unge­wollte Nähe, ein intimes Stochern, von deren Notwendigkeit die Erzäh­ler selb­st nicht so ganz überzeugt schienen. Zumal Stöver ist ja auch ein aus­ge­sproch­en­er Unsym­pa­th — und auch Gram­c­si bleibt eine selt­same Fig­ur. Bei­de Charak­tere sind dabei selt­sam rück­sicht­s­los gegen sich selb­st und ihr pri­vates Umfeld. Und ger­ade das, was ja der Kern des Romans zu sein scheint, bleibt extrem blass, kaum motiviert — weil die Ideen, die diese Rück­sicht­slosigkeit erfordern, höch­stens angeris­sen wer­den.

Wenn die Ver­lagswer­bung das Ziel des Buch­es richtig beschreibt: „Nora Bossong erzählt vom Kon­flikt zwis­chen den großen Gefühlen und dem Kampf für die ganze Men­schheit“, dann funk­tion­iert 36,9° über­haupt nicht. Und das liegt unter anderem eben daran, dass der “Kampf für die ganze Men­schheit”, die Weltverbesserung eigentlich gar nicht vorkommt, der Text bleibt viel zu sehr im indi­vidu­ellen, biographis­chen Klein-klein steck­en. Dazu kommt dann noch eine für mich unklare Struk­tur — die Rei­hen­folge der Kapi­tel mit den Vor- und Rück­blenden sowie die Erzäh­ler­wech­sel erschließen sich mir ein­fach nicht. Ab und an funkelt mal ein schön­er Satz, ein gelun­gener Abschnitt. Aber der Rest ist ein grau zer­fließend Textbrei, der mich wed­er faszinieren noch überzeu­gen kann.

[…] ich wollte die Dinger nicht mehr bis zum Grund durch­schauen, denn was lag dort? Nur Steine und Kiesel, nur Fußnoten und Quel­lenangaben. (25)
Ulf Stolter­fo­ht: Wurl­itzer Juke­box Lyric FL — über Musik, Euphorie und schwierige Gedichte. München: Stiftung Lyrik Kabi­nett 2015. 32 Seit­en.

stolterfoht, wurlitzer jukebox lyric flDer Titel der Münch­n­er Rede zur Poe­sie von Ulf Stolter­fo­ht, dem Autor so vorzüglich­er Zyklen wie den Fach­sprachen und jet­zt Ver­leger der Brue­terich-Press (der selb­st viel zu wenig veröf­fentlicht …) sagt eigentlich schon alles: „Über Musik, Euphorie und schwierige Gedichte“ spricht er. Stolter­fo­ht, der sich als „Experte für Euphorie“ (7) vorstellt und „Ahnung“ von „der“ Lyrik erst ein­mal kat­e­gorisch verneint, führt anhand ein­er rei­he Gedichte exem­plar­isch vor, was Lyrik ist und kann, was Sprache im Gedicht aus­macht und natür­lich auch, was „schwierige Lyrik“ (heutzu­tage ja fast ein Pejo­ra­tivum) eigentlich ist. Und er betont, dass das „Nicht-ver­ste­hen-müssen“ dieser Gedichte eine großar­tige Erfahrung ist — für Leser und Schreiber. Für bei­de Seit­en ist das eine Befreiung, die einen uner­schöpflichen Reigen an Möglichkeit­en eröffnet.

Neben­bei weist er darauf hin, dass das — heute vielle­icht mehr als je zuvor vorhan­dene — Wis­sen und Kön­nen im Umgang mit Sprache und Gedicht­en noch lange keine Exper­i­men­tier­freudigkeit ist. Stolter­fo­ht bedauert aus­drück­lich, dass „die Bere­itschaft stark abgenom­men hat, ein höheres ästhetis­ches Risiko einzuge­hen“ (29). Auch wenn er dann das Gelin­gen eines Gedicht­es eher tra­di­tionell als „Regel“-Erfüllung beschreibt, oder bess­er als: „dass ein zuvor gefasster Plan, sei er for­maler und / oder inhaltlich­er Art, glück­haft erfüllt wurde“ (29), sollte für Stolter­fo­ht, das macht er unter anderem mit mehrfachen Bezü­gen auf Diedrich Diederich­sen deut­lich, aber zumin­d­est ergänzt wer­den um so etwas wie Authen­tiz­ität, einen Moment des Kairos vielle­icht. Trotz des deut­lich beton­ten Emphatik­er-Stand­punk­tes (Lyrik kann alles und ermöglicht Leben erst!) ste­ht dahin­ter aber genaueste Lek­türe und Analyse fremder und eigen­er Gedichte, ohne die Euphorie des erken­nen­den (und iden­ti­fizieren­den) Lesens dadurch zu verneinen oder auszuschal­ten, son­dern ger­adezu zu ver­stärken.

Und wie kon­nte es sein, dass ich kein Wort, keinen Satz ver­stand, und doch genau wusste, dass ich genau das immer hat­te lesen wollen, und dass ich es jet­zt gefun­den hat­te, und dass ich nie mehr etwas anderes würde lesen wollen. Das Gefühl, eine Mauer durch­brochen zu haben, ein­fach so, ganz leicht, ohne jede Anstren­gung, und hin­ter dieser Mauer tat sich etwas auf, ein Raum, ein wirk­lich­er Raum, in dem man würde leben kön­nen. (11)

Franz Richard Behrens: Erschossenes Licht. Her­aus­gegeben von Michael Lentz. Wiesen­burg: hochroth 2015. 36 Seit­en.

Es ist für mich immer wieder erstaunlich, welch große und großar­tige Gedichte die Expres­sion­is­ten in den Jahre während und um den Ersten Weltkrieg schrieben. Und ich ent­decke immer wieder, dass ich viel zu wenige davon kenne. Auch Franz Richard Behrens gehört zu diesen Dichtern. Er war eigentlich genau nur in dieser engen Zeitspanne über­haupt dich­ter­isch tätig: Ein einziger Band Lyrik — Blut­blüte — ist von ihm 1917 erschienen. Während des Nation­al­sozial­is­mus kann man ihn vielle­icht zur „Inneren Emi­gra­tion“ zählen, 1961 über­siedelte er dann nach Ost­ber­lin. Aber die ganzen Jahre bis zu seinem Tod 1977 blieben ohne weit­ere lit­er­arische Veröf­fentlichun­gen. Offenkundig war der Weltkrieg da so eine Art Katalysator, der die Lyrikpro­duk­tion auslösten/vorantrieb.

Auf­fäl­lig ist nun, finde ich, wie avanciert diese weni­gen Gedichte waren und sind — und wie zeit­gemäß und zeit­genös­sisch sie heute noch erscheinen. Aus allen Gedicht­en, die Michael Lentz in dieser kleinen Auswahlaus­gabe für den feinen hochroth-Ver­lag zusam­mengestellt hat, spricht eine beein­druck­ende Inten­sität und auch eine große Frei­heit: Sie sind frei von for­malen Zwän­gen und Tra­di­tio­nen, lassen so ziem­lich alle Kon­ven­tio­nen hin­ter sich. Hier erscheint Sprache als rein­er Aus­druck, hier spürt man, wie ein Dichter um Aus­drucksmöglichkeit für ganz neue und neuar­tige Erleb­nisse — vor allem die Gewalt und Sinnlosigkeit eines mech­a­nisierten Krieges — ringt. Und wie er sie auch find­et und den Vol­lzug des Erlebens am und im Wort fix­iert und nachvol­lzieht. Ein Moment der Seri­atl­ität gehört dazu, mit min­i­mal­is­tis­chen Ele­menten, etwa in „Preußisch“ oder „Quer durch Ost­preußen“. Aber auch gle­ich das eröff­nende „Expres­sion­ist Artillerist“ zeigt das, mit der Ver­schränkung einzel­ner Gedichtzeilen und einem kon­tinuier­lichen Zählen (ich lese das “Ein-und-zwanzig” etc. als das Abzählen von Sekun­den, etwa bis zum Ein­schlag der Granate …), das ganz geschickt ins Hinken gerät bzw. einzelne Zahlen über­springt, wenn die geschilderte Wahrnehmungs­dichte sozusagen steigt und das nicht mehr in einen Vers passt:

[…] Neun-und-zwanzig
die Luft stinkt Mil­lio­nen Schwe­fel, Kohle
Blutab­sinth
die Luft ist stahl und rein
Ein-und-dreis­sig
die Granat­trichter tüpfeln gar­nich har­monisch
Zwei-und-dreis­sig
[…]

Die kun­stvoll hergestellte Unmit­tel­barkeit dieser Lyrik ist, denke ich, kaum zu überse­hen. Ein anderes, von Behrens bevorzugtes Ele­ment, ist etwa die ver­bale Nutzung von Adjek­tiv­en. Bei aller Direk­theit und Leben­snähe sind die Gedichte, das zeigt etwa das titel­gebende „Erschossenes Licht“ oder das wun­der­bare „Ital­ien“, sowohl inhaltlich als auch stilis­tisch und for­mal sehr sorgsam kon­stru­iert. (Und außer­dem ist das wieder hochroth-typ­isch ein sehr fein und schön gemacht­es Heftlein …)

[…] Schnei­den das
Land
in
Streifen.
Begreifen kann das mal
Die Gen­er­al­stab­skarte. Vor­marsch im Regen (14)

Geor­gi Gospodi­nov: 8 Minuten und 19 Sekun­den. Graz, Wien: Droschl 2016. 143 Seit­en.

Hier wäre der Ort, zu sagen, dass ich vol­lkom­men nor­mal bin, auch wenn ich Erzäh­lun­gen schreibe. Ich weiß, dass dies die Dinge erschw­ert, aber alles andere an mir ist abso­lut in Ord­nung. (78f.)

„Ver­spielt, ele­gant und mit allen Wassern der Post­mod­erne gewaschen“ behauptet der Klap­pen­text — und hat tat­säch­lich mal recht. Denn Gospodi­nov ist ein wahrer Geschicht­en­erzäh­ler: Es geht ihm wirk­lich darum, „Geschicht­en“ zu erzählen, nicht Erzäh­lun­gen zu schreiben. Der Band ist dann auch richtig inter­es­sant und kurzweilig-unter­halt­sam, weil Gospodi­nov dabei ein viel­seit­iger und vielfältiger, tech­nisch sehr ver­siert­er Erzäh­ler ist, was die Fig­uren und die Sto­rys ange­ht.

gosporidov, 8 minuten und 19 sekundenAbwech­slungsre­ich pen­deln die meist sehr kurzen Texte (auf den 140 Seit­en find­en sich immer­hin 19 Erzäh­lun­gen) zwis­chen ein­er sym­pa­this­chen Weltof­fen­heit, die sich aus­drück­lich auch aufs Phan­tastis­che, das eigentlich sowieso nor­mal ist, erstreckt, und ein­er spür­baren Leichtigkeit — ein­er Lock­er­heit des Erzäh­lens, des Lebens, des Wahrnehmens. Gospodi­nov, der sich bzw. seine Erzäh­ler gerne als Geschicht­en­samm­ler bzw. ‑auf­schreiber, nicht als Geschicht­en­erfind­er insze­niert — vom „Anlock­en von Geschicht­en“ (84) schreibt er an ein­er Stelle — schafft es dabei, zugle­ich kos­mopoli­tisch und heimatver­bun­den zu wirken, zugle­ich witzig (im Sinne von komisch) und trau­rig (im Sinne von tiefernst) zu sein. Immer wieder spie­len die let­zten Tage, die let­zten Momente, das endgültige Ende, die Apoka­lypse als eigentlich ganz schelmis­ches, gewitztes Unternehmen eine große Rolle in seinen Erzäh­lun­gen. Das ist schon in der eröff­nen­den (und titel­geben­den) Geschichte „8 Minuten und 19 Sekun­den“ so, die die Zeit, die das Licht von der Sonne zur Erde braucht beschreibt — also die Zeit, die bleibt, bis die Erde nach dem Ende der Sonne im Dunkel versinkt. Immer, wenn das nicht passiert, weiß man also, dass noch 8 Minuten 19 Sekun­den bleiben … Die Imp­lika­tio­nen dieser glei­t­en­den Apoka­lypse spielt die Geschichte sehr schön und dabei dur­chaus knapp durch.

Außer­dem ist auch eine der „schön­sten“ Geschicht­en zum 11. Sep­tem­ber hier zu find­en: „Do not dis­turb“. Die erzählt von einem just für diesen Moment als Sprung aus dem Hochhaus­fen­ster eines New York­er Hotels geplanten Selb­st­mord. Und da Gospodi­nov ein schwarz­er Erzäh­ler ist, gibt es natür­lich kein Hap­py End — der Selb­st­mord find­et dann zwar nicht statt, wird aber natür­lich später nachge­holt. Das klingt in der knap­pen Nacherzäh­lung etwas banal — aber darum geht es Gospodi­nov ja nicht nur. Zwar sind seine Erzäh­lun­gen ohne ihre Hand­lung nicht zu denken, ihre Wirkung erlan­gen sie aber nicht zulet­zt durch die geschick­te und gelassen-ver­spielte erzäh­lerische Insze­nierung, die das zu ein­er sehr kurzweili­gen Lek­türe wer­den lässt.

Außer­dem kam es mir so vor, als fin­ge Z. an, die Geschichte zu ruinieren, indem er ihr mehr Pathos und Lit­er­ariz­ität ver­lieh als notwendig. Und ich war immer­hin der Käufer dieser Erzäh­lung. (54)

außer­dem gele­sen:

  • Judith Zan­der: Man­u­al numerale. München: dtv 2014.
  • Michael Braun, Michael Buselmeier: Der gelbe Akro­bat 2. 50 deutsche Gedichte der Gegen­wart, kom­men­tiert. Neue Folge (2009–2014). Leipzig: Poet­en­laden 2016. 18 Seit­en.
  • Roland Barthes: Das Neu­trum. Vor­lesung am Col­lège de France 1977–1978, hrsg. v. Eric Mar­ty, übers. von. Horst Brüh­mann. Frank­furt am Main: Suhrkamp 2005. 346 Seit­en.
  • Dieter Hein: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhun­dert. München: Beck 2015. 132 Seit­en.
  • Christoph Kleß­mann: Arbeit­er im ‘Arbeit­er­staat’ DDR. Erfurt: Lan­deszen­trale für poli­tis­che Bil­dung Thürin­gen 2014. 141 Seit­en.

Taglied 13.5.2016

Amok Amor in einem Mitschnitt von „Jazz geht Baden“ (hier mein Bericht von ihrem Besuch in Rüs­selsheim):

Amok Amor at Jazz Geht Baden 2016

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