Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: winterreise

Wochenblog 5/2023

Kaum hat das Jahr ange­fan­gen, ist auch schon der erste Monat rum. Diese Woche hat­te vor allem ekliges Wet­ter im Gepäck. Vor allem der Don­ner­stag war schlimm wie sel­ten, bei solch ver­rück­tem Wet­ter bin ich ver­mut­lich noch nie mit dem Rad zur Arbeit gefahren: Mor­gens ist ein­fach Schneematsch vom Him­mel gefall­en, in rauen Men­gen. Der sam­melte sich schön auf den Straßen, schmolz dort weit­er zu Wass­er und bildete riesige Seen. Die kon­nten die Aut­o­fahrer natür­lich nicht aufhal­ten, die sind da munter durchge­bret­ter ohne Rück­sicht auf Ver­luste bei (eher weni­gen) Rad­fahren­den und den zu Fuß Gehen­den. Dabei hat das Rad­fahren auch so schon wenig Spaß gemacht, von allen Seit­en Dreck und Nässe sind keine Freude.
Und dann noch die schö­nen Win­ter­di­en­ste, die zu blöd sind, Rad­wege (auch die benutzungspflichti­gen) vernün­ftig zu räu­men: Da ist dann plöt­zlich mit­ten drin nicht geräumt, weil der Schneep­flug auf den Bürgesteig gefahren ist. Und spätestens an jed­er Kreuzung liegen wieder hohe Wälle quer auf dem Rad­weg, weil die Straßen ja unbe­d­ingt sauber sein müssen.
Der Schneematsch hat­te dann noch eine Beson­der­heit: Er set­zt sich in den Ritzeln fest — am Ende meines Arbeitsweges musste ich auf die drei größten Gänge verzicht­en, da flup­pte die Kette ger­ade so drüber weg. Und genau die Gänge brauche ich eigentlich ;-). Zum Glück wurde es im Laufe des Tages ein wenig wärmer, so dass der Heimweg etwas unprob­lema­tis­ch­er war.
Am Fre­itag dann hat­te sich das ganze wieder etwas beruhigt, dafür bin ich am Abend fast vom Sturm beim Heim­fahren gehin­dert wor­den. Ver­rückt, das alles …
Dafür war das Woch­enende wet­tertech­nisch viel net­ter, sog­ar mit etwas Son­nen­schein — und viel Entspan­nung.

Text: Diese Woche habe ich nicht viel gele­sen, vor allem weit­er in Philipp Sarasins “1977”. Das ist ein sehr kluges Buch, das viel zu meinem Ver­ständ­nis der Welt beitra­gen wird, schätze ich momen­tan.

Ton: Freie Musik vom Fein­sten: “Ten­der Music” von Joëlle Léan­dre und Elis­a­beth Harnik, schon 2018 bei Trost erschienen, aber erst jet­zt bei mir erst­mals erk­lun­gen.
Und natür­lich bericht­enswert: Die “Win­ter­reise” mit Ben­jamin Appl und James Bailleou im Aure­li­um Lap­pers­dorf. Das war ein echt­es sic-et-non-Erleb­nis: Auf der einen Seite die großar­tige, meis­ter­hafte Beherrschung des Details, die vie­len Klang­far­ben (auch wenn Appls e‑s und i‑s durch­weg arg dunkel waren), die enorme Dynamik: Wahnsin­nig gut. Auf der anderen Seite: Jedes Lied wird hier auseinan­dergenom­men, die Tem­pi und die Agogik schwankt in ein­er ver­rück­ten Band­bre­ite (das klappt auch nicht immer per­fekt im Zusam­men­spiel), die Win­ter­reise als Zyk­lus funk­tion­iert nicht mehr, das sind nur einzelne (in sich immer wieder über­ra­gend fes­sel­nde) Momente der exzes­siv­en Expres­siv­ität — noch deut­lich­er und oft über­trieben­er als auf der Auf­nahme.

Draußen: Brav weit­er gelaufen, ohne beson­dere Vorkomm­nisse.

Wochenblog 4/2023

Eine gewöhn­liche Woche im Jan­u­ar. Wieder etwas viel gear­beit­et und tortz­dem mit dem Gefühl raus­ge­gan­gen, nicht viel geschafft zu haben. Aber das ist wohl ein­fach eine prinzip­ielle Täuschung ;-). Es bleibt kalt, aber zum Glück für den Fahrrad­pendler nur sehr wenig Schnee hier. Damit kann ich gut leben. Neben­bei war diese Woche auch noch ein wenig Web­seit­en­basteln ange­sagt — hier, bei Come­di­an Six­pack und noch ein paar andere Inter­ne­tauftritte mussten ein wenig gewartet und angepasst wer­den.

Text: Ich arbeite mich langsam (sehr langsam) durch meinen Stapel unge­le­sen­er Büch­er und habe mir deshalb ein Einkauf­s­mora­to­ri­um aufer­legt. Diese Woche aus­ge­le­sen habe ich Sla­ta Roschals kleinen Gedicht­band “Wir verzicht­en auf das gelobte Land”, 2019 bei Rei­necke & Voß in Leipzig erschienen. Der hat einige inter­es­sante Leseer­fahrun­gen zu bieten, aber auch ein biss­chen Leer­lauf. Für meinen Geschmack ist die Sprache der Gedichte oft etwas zu alltäglich, zu wenig kun­st-voll: Ich bevorzuge ja doch im all­ge­meinen Lyrik, die sich nicht nur for­mal, son­dern auch sprach­lich vom alltäglichen, “nor­malen” Sprachge­brauch deut­lich abhebt.

Außer­dem: Karen Ruoffs “Acad­e­mia”. Das ver­sucht in der Tra­di­tion (und öfters in recht enger Anlehnung an) David Lodges eine Satire des (amerikanis­chen) Uni­ver­sitäts­be­triebs der Gegen­wart, vor allem sein­er Finanzierung. Das ist aber hölz­ern in Form und Sprache, bleibt weit­ge­hend vorherse­hbar und lässt all die Ele­ganz und das Spielerische von Lodge lei­der völ­lig ver­mis­sen.
Und weit­erge­le­sen in Philipp Sarasins großer Geschichte des Jahres “1977” (oder der Gegen­wart, je nach­dem). Das ist wirk­lich sehr anre­gend: Wahnsinn, was da alles an Mate­r­i­al, Ideen und Beobach­tun­gen drin steckt. Und klasse, wie gut es geschrieben ist, wie gut es sich, trotz sein­er fach­lichen Bre­ite und Tiefe (bei­des zusam­men ist ja nicht sehr häu­fig), lesen lässt, auch in kleineren Por­tio­nen.

Ton: Zur Auf­frischung habe ich mehrmals die “Win­ter­reise” gehört. Das ist sozusagen Vor­bere­itung für das näch­ste Woch­enende, wenn ich Sie mal wieder live hören kann. Und in den let­zten Jahren habe ich sie eher sel­ten gehört, also war es mal wieder Zeit.

Draußen: In dieser Woche bin ich halb­wegs fleißig gelaufen. Denn die Läufe gestal­tete ich in dieser Woche als Crescen­do: Jeden Tag mehr als am Vortag. Das werde ich in der näch­sten Woche defin­i­tif nicht wieder­holen kön­nen. Jet­zt ging es, weil ich auf sehr niedrigem Niveau anf­ing. Und erstaunlicher­weise blieb das Tem­po der Läufe die ganze Woche über recht ordentlich. Eigentlich wartete ich jeden Tag darauf, dass meine Beine sagen: Mal langsam. Aber selb­st die 14 Kilo­me­ter mit eini­gen Höhen­metern am Son­ntag liefen doch gut. Vielle­icht kommt die Erschöp­fung ja auch erst noch.

Über Lieder von Liebe und Schmerz: Ian Bostridge erklärt Schuberts Winterreise

Es ist nicht mehr als ein klein­er Auss­chnitt der fort­dauern­den Erkun­dung des kom­plex­en und schö­nen Net­zes von Bedeu­tun­gen – musikalis­che und lit­er­arische, textuelle und meta­textuelle –, inner­halb dessen die Win­ter­reise ihren Zauber her­vor­bringt.S. 396

bostridge, schuberts winterreise (cover)– Mit diesem Schluss endet der britis­che Tenor Ian Bostridge (übri­gens ein aus­ge­bilde­ter His­torik­er) sein großes, faszinieren­des und in sein­er bere­ich­ern­den Klugheit aus­ge­sprochen lesenswertes Buch über Schu­berts Win­ter­reise. Aber es ist ein Satz, der das, was auf den knapp vier­hun­dert Seit­en zuvor passiert ist, sehr gut auf den Punkt bringt. Lieder von Liebe und Schmerz hat der deutsche Ver­lag Bostridges Buch im Unter­ti­tel benan­nt. Das englis­che Orig­i­nal finde ich passender: Anato­my of an Obses­sion. Denn bei­des, das sezierende Unter­suchen als auch die obses­sive Beschäf­ti­gung mit dem Kunst­werk, bringt das Ver­hält­nis von Bostridge zur Win­ter­reise sehr gut auf den Punkt. Und bei­des, die Analyse und die emo­tionale Bindung, merkt man dem Text eigentlich auf jed­er Seite an: Jede Seite dieses großar­ti­gen Buch­es, das Lied für Lied die Win­ter­reise unter die Lupe nimmt, lässt die obses­sive Liebe und die jahrzehn­te­lange Beschäf­ti­gung mit Musik und Text, mit Dichter und Kom­pon­ist, mit Hin­ter­grün­den und Bedeu­tun­gen spüren.

Lied für Lied – diese Gliederung greift das gut gemachte (ich habe – abge­se­hen von der prinzip­iell etwas unsin­ni­gen Über­set­zung englis­ch­er Über­set­zun­gen deutsch­er Texte – nur einen Über­set­zungs­fehler bemerkt – der ist allerd­ings etwas pein­lich, weil er das englis­che b‑minor mit b‑moll statt h‑moll über­set­zt und auf der sel­ben Seite auch noch richtig vorkommt …) und schön aus­ges­tat­tete Buch auch äußer­lich auf. Bostridge fol­gt damit zwar der Dra­maturgie Schu­berts (die ja, wie er mehrfach dar­legt, von der Rei­hen­folge Müllers abwe­icht), ges­tat­tet sich aber auch Frei­heit­en: Manche Kapi­tel sind auf­fal­l­end kurz, andere etwas auss­chweifend. Manche bieten eine sehr konzen­tri­erte Analyse von Text und Musik, andere liefern vor allem geschichtliche, poli­tis­che, wirtschaftliche, sozi­ol­o­gis­che Hin­ter­gründe. Wie er prinzip­ielle Beobach­tun­gen und Anmerkun­gen über die einzel­nen Lied­kapi­tel verteilt, das ist sehr geschickt. Die sind dadurch näm­lich immer mehr als bloße Kom­mentare oder Erläuterun­gen, das Buch wird nicht zu ein­er seriell-schema­tis­chen Analyse, son­dern zu einem großen Ganzen: Alles in allem ist das eine großar­tige Samm­lung von Wis­sen aus allen Bere­ichen zu den 1820er Jahren. Da liegt aber auch schon eines der Prob­leme, die ich damit hat­te (neben der meist fehlen­den Ref­eren­zierung des ange­sam­melten Wis­sens): Bei Bostridge wer­den die 1820er in Tech­nik, Ökonomie, Gesellschaft und Poli­tik zu einem frühen Höhep­unkt der Mod­ernisierung. Ich bin mir nicht so recht sich­er, ob das stimmt (und ob es hil­fre­ich wäre). Für ein endgültiges Urteil fehlt mir da freilich etwas Wis­sen, mir scheinen diese Jahre aber doch mehr Durch­gang als Gipfel zu sein.

Ein ander­er Punkt, bei dem ich Bostridge immer wieder wider­sprechen möchte, ist die Ironie. Die find­et er in der Win­ter­reise näm­lich wesentlich häu­figer und stärk­er als ich das immer nachvol­lziehen kann. Ähn­lich geht es mir mit der poli­tis­chen Dimen­sion von Text und Musik. In bei­den Fällen möchte ich Bostridges Deu­tun­gen gar nicht von vorn­here­in ver­w­er­fen, sie scheinen mir in diesen Aspek­ten aber etwas über­spitzt. Deut­lich wird das etwa bei seinen Aus­führun­gen zum „Köh­ler“, der (bzw. dessen Hütte, er selb­st ja ger­ade nicht) in der Win­ter­reise genau ein­mal vorkommt: Das kann man als mögliche poli­tis­che Chiffre lesen, so zwin­gend, wie Bostridge das darstellt, ist diese Lesart aber meines Eracht­ens nicht. Über­haupt hat mich seine poli­tis­che Lesart viel­er Lieder (bzw. eigentlich nur ihrer Texte, in diesem Deu­tungszusam­men­hang spielt die Musik keine Rolle) nicht so sehr befriedigt, zumal sie ja doch erstaunlich indif­fer­ent bleibt. Ähn­lich ist es übri­gens um Schu­bert selb­st hier bestellt: Zum einen wird er als poli­tis­ch­er Kün­stler, der extrem unter den harten Bedin­gun­gen der vor­mär­zlichen Zen­sur litt, dargestellt. Zugle­ich ist er für Bostridge aber auch ein Kom­pon­ist, der ganz unbe­d­ingt ein Ide­al des reinen, tran­szen­den­ten Kün­stler­tums ver­fol­gt – zwei Lesarten, die hier fast naht­los ineinan­der überge­hen, die ich aber nicht so recht zusam­men bekomme.

Das alles macht aber wenig bis nicht. Denn Bostridge zu lesen, ja eigentlich: zu schmök­ern, ist auf jeden Fall ein großer Gewinn. Zumal das Buch auch, ich sagte es schon, ein­fach schön ist und auch mit Abbil­dun­gen nicht geizt. Schade fand ich allerd­ings, um das Lob gle­ich wieder ein biss­chen einzuschränken, dass Bostridge so wenig über die Musik und ihre Details spricht. Mein Ein­druck war da, dass dieses Ele­ment in der Fülle der Zugänge und Mate­ri­alien, die er zur Win­ter­reise zusam­menge­tra­gen hat, etwas unterge­ht. Von einem Sänger hätte ich mir ger­ade auf diesem Gebi­et mehr musikol­o­gis­che Analyse und Beschrei­bung gewün­scht. Aber das wäre dann vielle­icht ein anderes Buch gewor­den.

Es ist näm­lich wirk­lich selt­sam mit diesem Buch: Als Ganzes finde ich es immer noch ziem­lich großar­tig, es ist ein (über)reiches Buch, das dem Ver­ständ­nis der Win­ter­reise auf jeden Fall in großem Maße dient und das Hören (oder Musizieren) unge­mein bere­ich­ern kann. Im Detail finde ich aber vieles frag­würdig und würde oft wider­sprechen. Ein paar kleine, fast willkür­liche Beispiele: Den Nation­al­sozial­is­mus und den Zweit­en Weltkrieg aus ein­er typ­isch deutschen „roman­tis­chen Todes­be­sessen­heit“ (118) zu erk­lären wollen – das ist ein­fach Quatsch. Oder wenn ein Fer­maten­ze­ichen zu einem „allesse­hen­den Auge“ (178) wird. Manch­mal ist es auch vor allem eine große Fleißleis­tung, wenn er etwa zum „Früh­lingstraum“ über mehrere Seit­en das Vorkom­men von Eis­blu­men in der Kun­st- und Lit­er­aturgeschichte referiert, was aber wed­er mit Müller noch mit Schu­bert in Verbindung ste­ht. Da erschließt sich mir dann nicht so ganz der Zweck, den das für eine Analyse oder Inter­pre­ta­tion dieses Kunst­werkes haben soll.

Aber: Die Welt von Schu­berts Win­ter­reise kann der über­aus gebildete Bostridge mit seinem gesam­meltem Wis­sen und seinen genauen, vielfälti­gen, emphatis­chen Beobach­tun­gen eben doch ganz toll ent­fal­ten und wun­der­bar ver­mit­teln. Es ist übri­gens kein Verse­hen, wenn ich von Schu­berts Win­ter­reise sprach: Der Schw­er­punkt sein­er Betra­ch­tun­gen liegt auf Schu­bert und sein­er Musik, auch wenn der Text und sein Autor, Wil­helm Müller, nicht ganz außen vor bleiben. Auch die Rezep­tion der Win­ter­reise wird nicht vergessen. Und seine intime Ver­trautheit en detail & en gros mit dem Werk sowie seine dop­pelte Autorität als ausüben­der Sänger und forschen­der His­torik­er tun dem Buch sehr gut: Er weiß, wovon er redet. Und nach der Lek­türe seine Buch­es weiß man auch, was man da eigentlich hört (oder: hören kann!), wenn man der Win­ter­reise lauscht.

Ian Bostridge: Schu­berts Win­ter­reise. Lieder von Liebe und Schmerz. 2. Auflage. München: Beck 2015. 405 Seit­en. ISBN 978–3‑406–68248‑3.

“Was fragen sie nach meinen Schmerzen?” — Schäfer/Schneider mit der “Winterreise”

Karge Klarheit bes­timmt die “Win­ter­reise”, die Chris­tine Schäfer und Eric Schnei­der im Mozart-Saal der Frank­furter Alten Oper auf­führen. Diese Inter­pre­ta­tion des Schu­bertschen Liedzyk­lus, das wird eigentlich schon mit dem ersten Lied, ja, fast schon mit den ersten Tönen, deut­lich, diese Inter­pre­ta­tion wird ganz stark vom Intellekt bes­timmt. Chris­tine Schäfer singt das ganz stark vom Kopf aus — und immer schon mit der Katas­tro­phe im Blick: Schärfe in der Gestal­tung — nicht im Ton! — bes­timmt diese meis­ter­hafte Auf­führung.

Diese Inter­pre­ta­tion gewin­nt aber auch durch einen fan­tastis­chen Pianis­ten, der wun­der­bar ins Konzept passt: Eric Schnei­der spielt präzise wie kaum ein ander­er Lied­be­gleit­er in der “Win­ter­reise”: Sel­ten hört man so genau jeden Ton des Klavier­satzes genau so, wie er in den Noten ste­ht, mit jedem Akkzent und jedem fortepi­ano. Ganz sel­ten nur spürt man einen Hauch Ped­al, dafür sind die Klänge trock­en und abge­set­zt, dabei nicht lieb­los, son­dern abso­lut detail­ver­liebt. Mit “Roman­tik” hat das auf den ersten Ton gar nicht mehr viel zu tun, das ist eigentlich exis­ten­tal­is­tis­che Musik (auch wenn sie in der Alten Oper im Rah­men von “Impuls Roman­tik” erklingt). Chris­tine Schäfer macht das grun­sät­zlich ähn­lich wie ihr Pianist (auch wenn die bei­den manch­mal min­i­mal­ste Dif­feren­zen zeigten), zum Beispiel in “Gute Nacht”: Da sind es oft nebeneinan­der­ste­hende Einzeltöne, keine durchge­sun­gene Lin­ie. Grandios die leb­hafteren, etwas drama­tis­cheren Lieder: Mit welche klaren Schwung sie die “Wet­ter­fahne” singt und wie wun­der­bar schwank­end “Die Post” oder wie kon­turi­ert bei ihr “Die Krähe” auf­scheint — das ist wirk­lich große Kun­st. Was mir nicht so gut gefall­en hat bei ihr: Die Phrasen klin­gen oft sehr früh und sehr stark aus, so dass die Enden fast ver­schwinden. Das kann ein sehr inter­es­san­ter Effekt sein, auf Dauer fand ich das aber etwas über­trieben. Auch ihre Tedenz, gle­iche Vokale unter­schiedlich zu tönen, hat einen leicht­en Hang zum Manieris­mus. Dabei ist das aber, um kein Missver­ständ­nis aufkom­men zu lassen, von ihr in jedem Einzelfall unge­heuer kon­se­quent umge­set­zt und auch hör­bar durchgedacht und durchge­führt.

Gegenüber der Auf­nahme — die ist ja auch schon 2006 erschienen — scheint mir das noch ein­mal etwas gereifter: Die Stimme klingt etwas kräftiger, nicht ganz so leicht und schwebend, alles hört sich etwas schw­er­er und bedachter/bedächtiger an, nicht mehr ganz so cool, dafür abgek­lärter und erfahren­er. Vielle­icht ist das auch der Live-Sit­u­a­tion geschuldet, zumal wir im Mozart-Saal fast ganz hin­ten saßen und so schon in merk­bar­er Ent­fer­nung …

Die durch­weg aus­ge­sprochen hohen Grundtem­pi, mit sehr starken, fast über­triebene­nen (aber nur fast!) Verzögerun­gen, die manch­mal sog­ar fast Lück­en in dem Lied­text aufreißen: Effek­tvoll ist das, ganz ohne Frage. Und sehr konzen­tri­ert und gefasst, in ein­er span­nen­den Mis­chung von Intellek­tu­al­ität und Emo­tion­al­ität, einem sehr genau aus­bal­ancierten Ver­hält­nis von Dis­tanz und Aneig­nung, von Iden­ti­fika­tion und außen­ste­hen­der Beobach­tung (der eige­nen Seele, des emo­tionalen Weltlei­des der Sänger­fig­ur …). Es gab und gibt Sänger (meis­tens sind es eben doch Män­ner), die das rühren­der und berühren­der, also über­wälti­gen­der, sin­gen. Aber kaum

Winterreise-Eintrittskarte

Ein­trittskarte zu einem beson­deren Erleb­nis

welche, die den eigentlichen Kern jedes Liedes so klar und deut­lich, so unver­stellt und unüber­hör­bar her­aus­prä­pari­eren. Ja, das Wort passt hier, denn manch­er Ansatz erscheint wie im Lab­o­ra­to­ri­um entwick­elt — oder das Ergeb­nis aus der Patholo­gie, wo der Noten­text zunächst ein­mal seziert wurde, bevor er zum Klang wer­den durfte und kon­nte. Im Zusam­men­hang, im Laufe des kurzen Abends, zeigt sich aber, dass das keine ana­lytis­che Kälte ist, son­dern das Schauern und Schaud­ern der emo­tionalen Win­ter­land­schaft, durch die der Sänger/die Sän­gerin irrt. Dadurch entste­ht eine ganz eson­dere Sit­u­a­tion: Im Saal merk­te man schon vor dem Beginn, ja schon im Foy­er, eine erhöhte Span­nung. Alle erwarteten etwas Beson­deres. Und wer­den anders befriedigt, als sie erwarteten. Denn — so war zumin­d­est mein Ein­druck — nicht allen wurde klar, wie beson­ders das, was dann zu hören war, wirk­lich war. Weil es anders war, weil es nicht so recht der tra­di­tionellen Gestal­tung der “Win­ter­reise” entsprach. Und weil es nicht so sehr auf affek­tuös-emo­tionaler Ebene begeis­tern kon­nte, son­dern stärk­er auf ein­er intellek­tuellen, fast ratio­nalen Ebene. Das ist eigentlich ein sehr kluger Ansatz, die “Win­ter­reise” so zu sin­gen — kaum ein Lied­w­erk ist schließlich so bekan­nt, kaum ein Zyk­lus so aus­geschöpft und erschöpft durch unzäh­lige, sich oft genug nur noch in Details und Stimm­fär­bung unter­schei­den­den Inter­pre­ta­tion im Konz­ert­saal und auf der Kon­serve.

Fragend in die kalten Unendlichkeit: Schubert/Zender

Kalt ist es, bit­ter kalt. Frierend und ein­sam irrt der Sänger kurz vor Wei­h­nacht­en durch die Dör­fer, ver­lassen und ver­loren. Sel­ten hört man den Sänger der Schu­bertschen “Win­ter­reise” so weltver­loren wie Daniel Kirch im Staat­sthe­ater. Das ist aber kein Wun­der. Denn im Großen Haus erklingt ja gar nicht Schu­berts Win­ter­reise: Auf dem Pro­gramm ste­ht eine “kom­ponierte Inter­pre­ta­tion” dieser Win­ter­reise. So hat Hans Zen­der seine Bear­beitung genan­nt: Das Klavier wird durch ein genial instru­men­tiertes kleines Orch­ester erset­zt, von Stre­ich­ern über die Gitarre und das Akko­rdeon bis zum großen Schlag­w­erk ist es so reich beset­zt, dass es Far­ben ohne Ende bietet. Dabei bleibt die Musik doch trübe: Denn Zen­der macht in sein­er inter­pretieren­den Instru­men­ta­tion des Schu­bertschen Orig­i­nals die Aus­sicht­slosigkeit, die Ver­lassen­heit des Lied­sängers noch viel deut­lich­er. Der Tenor Daniel Kirch, am Anfang noch etwas unaus­geglichen, aber zunehmend überzeu­gen­der, navigierte sehr sich­er durch das win­ter­liche Ter­rain. Selb­st in den zer­ris­se­nen Par­tien des “stür­mis­chen Mor­gens” oder den ver­schobe­nen Tem­pi der drei “Neben­son­nen” blieb er beson­nen – fast zu behut­sam und sou­verän angesichts der exis­ten­ziellen Not.

Auch das Phil­har­monis­che Orch­ester kam mit der unge­wohn­ten Beset­zung und dem sel­te­nen Instru­men­tar­i­um von Melod­i­ca bis Wind­mas­chine gut zurecht, wan­derte dabei in Teilen auch noch vor und hin­ter die Bühne. Doch Gen­eral­musikdi­rek­tor Her­rmann Bäumer hat­te das alles fest im Griff. Der Schauer kehrte damit in die Schu­bertsche Musik zurück — der Schauer, den schon Schu­bert und seine Zeitgenossen bei diesen Liedern über­lief. Hier wurde er noch ein­mal lebendig, indem Zen­der die Lieder aus ihrer erstar­rten Kün­stlichkeit löst und die Struk­turen ganz behut­sam auf­bricht. Ganz stark wurde das am Ende des Zyk­lus, der in ein­er Auflö­sung der Welt mün­det — aber nicht in Wohlk­lang, son­dern ins Ungewisse.

Eine ähn­liche Öff­nung hat­te Bäumer zuvor schon mit Schu­berts siebter Sin­fonie, der Unvol­len­de­ten, unter­nom­men. Die bei­den Sätze reicht­en, um das Haus des Wohlk­langs zu ver­lassen — das ist hier allerd­ings auch eher ein Gefäng­nis. Dessen Stäbe zer­brachen schon ganz früh, bere­its die ersten Tak­te der in den tiefen Stre­ich­ern anset­zen­den Melodie drängten ins Freie, aus dem Gefäng­nis der Form und der Tra­di­tion weit hin­aus ins unbekan­nte Gebi­et. Bäumer machte diese Bewe­gung wun­der­bar deut­lich und entwick­elte daraus eine bestechende Schön­heit der Frei­heit und der Offen­heit. Das Phil­har­monis­che Orch­ester spielte das nicht nur hochkonzen­tri­ert, son­dern ger­adezu leicht­füßig, fast tanzend. In schweben­der Unentsch­ieden­heit bal­anciert Bäumer zum her­rlichen Klang. Eine Idylle, möchte man meinen — wären da nicht die Ein­brüche, die harten Schläge der Wirk­lichkeit, die immer wieder die himm­lis­chen Län­gen der Unvol­len­de­ten heim­suchen und deren ätherische Schön­heit zer­stören. Aber selb­st die erk­lan­gen hier mit einem Frageze­ichen: Trock­en und hart fuhren sie hinein — und zogen sich geschwind wieder zurück. Antworten bietet diese Musik nicht mehr, da sind nur noch Fra­gen. Aber was für Fra­gen! — Und doch: Selb­st diese Offen­heit verblasste dann etwas angesichts der schau­rig-erschüt­tern­den Kälte, mit der Bäumer und Kirch die Zen­der-Ver­sion der Win­ter­reise zu ihrem unbarmherzi­gen und ganz unwei­h­nachtlichen Ende bracht­en.

(etwas kürz­er für die Mainz­er Rhein-Zeitung geschrieben.)

Taglied 1.12.2012

Kür­zlich bin ich — in einem alten Aus­riss aus der “Zeit” — über Zizeks Preis der Win­ter­reise-Ein­spielung von Hans Hot­ter mit Michael Raucheisen gestolpert. Und ich muss sagen, ich teile seine Begeis­terung …

Und das gibt es sog­ar kom­plett auf YouTube:

Beim Klick­en auf das und beim Abspie­len des von YouTube einge­bet­teten Videos wer­den (u. U. per­so­n­en­be­zo­gene) Dat­en wie die IP-Adresse an YouTube über­tra­gen.

Taglied 10.11.2012

aus Grün­den — näm­lich dem Besuch der unge­mein span­nen­den, anre­gen­den, begeis­tern­den “Win­ter­reise” von Jelinek hier im Mainz­er The­ater heute:

Schu­bert / Zen­der: Der Leier­mann — Pregardien/Cambreling*

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