Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: angelika meier

Aus-Lese #29

Dieses Mal eine lange, lange Liste, weil ich etwas nach­läs­sig war und deshalb einiges nach­tra­gen muss:

Hen­drik Rost: Licht für andere Augen. Göt­tin­gen: Wall­stein 2013. 80 Seit­en.

Rost, LichtSchon die Wid­mung hat mich für diesen Lyrik­band ein­genom­men: „Ein Wort hin, zwei Wörter her — viel mehr ist es oft nicht, aber das ist die Kun­st. Jamas!“ (4) heißt es dort. Genau, so ist es.

Und Rost gelingt es, die Kun­st der Dich­tung. Seine rhyth­misch freien, ungereimten Gedichte, alle einzeln und von über­schaubar­er Länge, haben eine leichte Anmut, eine schwebende Wehmut ist ihnen eigen — so unge­fähr lässt sich ihr Ton wohl fassen, vielle­icht auch als Ele­ganz des Flusses der Sprache und der Bilder. Leere Räume (d.h. frei von Men­schen, ver­lassen, aber nicht tot) scheinen ihn zu faszinieren, meint man am Anfang des Ban­des. Aber das täuscht, die Men­schen tauchen doch immer wieder auf, als Kind, auf Bildern, als Dialog­part­ner und als Tote/Geister aus der Ver­gan­gen­heit (Brecht, Celan, Kling und viele andere wer­den auch namentlich her­beigerufen).

Über­haupt der Tod und die Ver­gan­gen­heit: die ster­bende Klarheit, aber auch die Trauer der Dinger behaupten immer wieder ihren Platz. So heißt es zum Beispiel in “Platzver­weis”:

Manch­mal ist die Trau­rigkeit eines Stuhls / nicht die Trau­rigkeit, die der Stuhl / ausstrahlt, son­dern die / der­jeni­gen, die auf ihm gesessen haben / vor Tagen, Jahren oder länger. (21)/

Das Schöne an Ros­ts Gedichte ist immer wieder das Sehen und Schreiben mit anderen Augen. Der Ein­fall des All­t­ags in die Kun­st (und die (Lebens-)Philosophie), zugle­ich aber auch ganz deut­lich die Gegen­wart der — nicht nur lit­er­arischen — Vergangenheit(en): Das zeich­net sein Werk beson­ders aus.

Flo­ri­an Voß: Daten­schat­ten Daten­ströme Staub. Berlin: J. Frank 2011 (Quar­theft 28). 80 Seit­en.

Voß, DatenschattenDer Auf­takt ist gle­ich eine schöne Kon­trafak­tur oder Wieder­auf­nahme der Celan­schen „Todesfuge“ in “Verfugtes Meis­ter­stück”: Die Re-Grundierung im All­t­ag, die Ent­mys­ti­fizierung und Entza­uberung der total­en Meta­pher — das klappt hier ganz gut. Über­haupt find­et sich das in vie­len Gedicht­en von Voß: Die unter­schied­slose Gle­ich­w­er­tigkeit von All­t­ag mit seinen Banal­itäten und absoluter Phan­tasie. Manch­mal wen­det sich das etwas arg ins punkige und trashige (für meinen Geschmack). Aber die Dop­pel­gesichtigkeit — auf der einen Seite die hohe Sprache mit aus­ge­sucht phan­tasievollen Meta­phern und wilden Bildern, auf der anderen Seite aber auch (bewusste — nehme ich an) Plattheit­en und flache Wörter und Sätze — ste­hen nebeneinan­der oder wer­den einan­der kon­fron­tiert. Oft klingt das in meinen Ohren dann groß und leer zugle­ich, also etwas prä­ten­tiös. Manch­mal scheint das aber auch großar­tig — aber eher sel­ten, oft lässt mich das ein­fach kalt. Diese Gegen­sätze bilden oft schroffe, schar­fkantige Unfälle, aus denen ich aber keine Funken schla­gen kann und die mich — wie das meiste in diesem Band — rat­los und unbeteiligt lassen. (Und an die binär codierten Seit­en-/Buchteil-/Gedichtzahlen kann ich mich gar nicht gewöh­nen …)

Nur keine Panik, es ist nur / ein Vulkan der da raucht / nicht der Kopf, der ist leer (Über­all Kuscheltiere)

Dou­glas Cou­p­land: PlayerOne. What Is to Become of Us. A Nov­el in Five Hours. Lon­don: Heine­mann 2010. 248 Seit­en.

Coupland, PlayerEine “real-time nov­el” hat Cou­p­land PlayerOne genan­nt, das als eine Art Vor­lesung in fünf Stun­den ent­standen ist und dementsprechend auch fünf Teile aufweist. Es geht, wenig über­raschend bei Cou­p­land, um die Zukun­ft der Men­schheit: Eine Gruppe zufäl­lig zusam­mengewür­fel­ter Men­schen gerät in ein­er Flughafen­bar in ein apoka­lyp­tis­ches Szenario, hier der Zusam­men­bruch der Ölver­sorgung (und damit der gesamten Energie) von einem Moment auf den anderen, mit den entsprechen­den anar­chis­chen und gewalt­täti­gen Fol­gen, die noch durch ein paar andere Erzählstränge, die ihre eigene Dynamik und teil­weise Gewalt bergen, über­lagert wer­den. Das dient Cou­p­land dann dazu, sich seinen Lieblings­the­men zu wid­men: Wie sieht die Zukun­ft der Men­schheit aus, wie die der Gesellschaft? Er erzählt das hier mit per­spek­tivis­chem Fokus auf den einzel­nen Per­so­n­en, dek­lin­iert also immer, in jed­er “Stunde”, das vorhan­dene Per­son­al durch — erweit­ert um den “Play­er One”, so etwas wie eine tech­nisch-pro­gram­mierte Iden­tität ein­er der Charak­tere. Außer­dem ver­han­delt wer­den: Lebenswege, psy­ch­an­a­lytis­che Deu­tun­gen und ganz stark das Prob­lem der Zeit, ihr Tem­po, ihre Lin­ear­ität, ihr Fortschre­it­en und Anhal­ten …

Luke once thought time was like a riv­er, and that it always flowed at the same speed, no mat­ter what. But now he believes that time has floods, too — it sim­ply isn’t a con­stant any­more. (70)
Those bod­ies bind us to the future. They’re time-frozen. Tomor­row = yes­ter­day = today = the same thing, always. (110)

Wal­ter Höllerer: Sys­teme. Neue Gedichte. Berlin: Lit­er­arisches Col­lo­qui­um 1969. 56 Seit­en.

Höllerer, SystemeÜber einen Beitrag von Dieter M. Gräf (Erkun­dun­gen inner­halb und außer­halb der Mas­chine ja und nein. Neue und neu gebliebene Gedichte Wal­ter Höllerers aus der Zeit der “Sys­teme”. In: Sprache im tech­nis­chen Zeital­ter, H. 203 (2012), S. 264–269) bin ich auf diesen Gedicht­band Höllerers aufmerk­sam gewor­den — den ich als Lyrik­er bish­er noch kaum kan­nte, son­dern vor allem als The­o­retik­er, Inter­pret und Ver­mit­tler von Gedichtetem. Und das ist eine Schande, denn hier ver­sam­meln sich einige, sog­ar ziem­lich viele aus­ge­sprochen gute Gedichte — auch wenn man ihnen ihre Entste­hungszeit, die 1960er Jahre, (inzwis­chen) in manchen Gedanken und For­mulierun­gen sehr deut­lich anmerkt. Aber das muss ja auch gar nicht schlecht sein …

Schon beim titel­geben­den Gedicht “Sys­teme” kann man wun­der­bar das Moment sehen und erfahren, das ich an Gedicht­en so schätze: wie die Sig­nifikan­ten ins Tanzen kom­men. Höllerer erre­icht das hier oft durch das Mit­tel der extremen syn­tak­tis­chen Verkürzung: Tei­weise nur Wort­brock­en, einzelne Worte ohne unmit­tel­baren syn­tak­tis­chen Zusam­men­hang, die — auch in der räum­lichen Anord­nung auf dem Papi­er — miteinan­der in Beziehung treten und Sinn her­vor­brin­gen.

Da steckt auch viel Technik(kritik) und Tech­niz­ität drin, nicht nur im Inhalt, son­dern auch in der Sprache und der Form (das ist wohl wenig über­raschend beim Grün­der der Sprache im tech­nis­chen Zeital­ter …). Manch­es scheint aber auch — aus heutiger Sicht — sehr zeit­ge­bun­den bzw. typ­isch für die Sit­u­a­tion und Stim­mung der Bun­desre­pub­lik am Ende der Sechziger. Etwa die poli­tis­chen Ele­mente, das Moment der poli­tisch-gesellschaftlichen Sys­temkri­tik aus/in der Mitte der Gesellschaft (na gut, vielle­icht nicht ganz die dama­lige Mitte). Heute scheint mir das nur noch im Bere­ich der Kap­i­tal­is­muskri­tik gängig zu sein — oder in kleineren, extremeren Rand­bere­ichen, die dann aber eher sel­ten in so „elitären“ For­men wie dieser Lyrik (und ihrer Veror­tung durch das Erscheinen als „LCB-Edi­tio­nen“ im (Literatur-)Betrieb) sich zeigen.

Volk­er Braun: Trotzde­stonichts oder Der Wen­de­hals. Frank­furt: Suhrkamp 2000. 147 Seit­en.

Ich mag Volk­er Brauns Prosa eigentlich sehr gerne. Dieser schmale Band hat mich allerd­ings nicht wirk­lich überzeu­gen oder begeis­tern kön­nen. Der titel­gebende Dia­log (der auch den meis­ten Umfang beansprucht) ist ziem­lich schnell ziem­lich lahm und lang­weilig. Vor allem lese ich da haupt­säch­lich Banal­itäten und Phrasen aus Brauns BRD- und Wende-Kri­tik-Reper­toire. Dafür sind die die kurzen Anek­doten, Erzäh­lun­gen aus Teil III inter­es­san­ter. In typ­is­ch­er Braun-Manier zeigen sie mit ihrer Konzen­tra­tion auf eine Begeben­heit, eine charak­ter­is­tis­che Beobach­tung noch ein­mal sein stilis­tis­ches Kön­nen. Aber auch hier bleibt mir das inhaltlich etwas arg rückschauend, verangen­heit­sori­en­tiert: In/an der Gegen­wart — der Wende/dem Umbruch (wie es bei Braun heißt) — wer­den nur die neg­a­tiv­en Seit­en gezeigt und dargestellt, es weht immer etwas Wehmut über das Scheit­ern des Exper­i­mentes DDR durch die Sätze, ohne dass sich pos­i­ti­vere Ziele oder Utopi­en zeigen wür­den.

Nach der soge­nan­nten Wende sah ich nur die Wen­dun­gen, und zwar der willfährig­sten Leute, die sich also gle­ich blieben. (135)

Bernd Cail­loux: Gut­geschriebene Ver­luste. Roman mémoire. Berlin: Suhrkamp 2012. 271 Seit­en.

Bernd Cailloux, Gutgeschriebene VerlusteIch habe hier am Anfang einen Moment gebraucht, bis mir klar wurde, warum mir einiges bekan­nt vorkam: Weil es in Fig­uren und Geschehen gewisse Ähn­lichkeit­en mit Das Geschäft­s­jahr 1968/69 von Cail­loux gibt. Unab­hängig von der Frage, ob hier ein altern­der Autor auto­bi­ographisch erzählt (das scheint aber eines der Haupt­in­ter­essen der Rezensen­ten zu sein, die Decodierung, Entschlüs­selung der auf­tauchen­den Charak­tere und Ereignisse) geht es in dieser rück­blick­ender Verge­gen­wär­ti­gung eines alte(rnde)n 68er (der damit aber auch wieder nur am Rande zusam­men­hängt, weil ihn an der Bewe­gung vor allem die Dro­gen, der Sex und die Geschäfte inter­essierten) vor allem um das Prob­lem der frag­men­tierten Erin­nerung, die sich auch im Text so nieder­schlägt. Manch­mal fand ich das etwas müh­sam, manch­mal ist es span­nend, manch­mal aber auch etwas bemüht, doch meist aber lock­er und humorig par­lierend erzählt. Altern und Erin­nern — an bessere/beste Zeit­en — sind also das The­ma, angere­ichert mit Pop-/lit­er­aturhis­torischen Arte­fak­ten. Aber so richtig reinge­fun­den habe ich nicht, mir schien, das Cail­loux hier doch arg viel Leer­lauf pro­duziert.

Was in er im Eigenbe­darf ver­braucht­en Zeit passierte, war nur bed­ingt erzäh­lenswert — in Filme reinkuck­en, Tabellen studieren, im Netz rumk­lichen, mal was lesen, denken, ins­beson­dere denken, eine Primär­tu­gend. (145)

Elke Naters: Lügen. München: List 1999. 192 Seit­en.

Naters, LügenNaters zweit­er Roman ist im Grunde eine Vari­a­tion des ersten (König­in­nen), aber ohne dessen for­male Stärken. Wieder geht es um Fre­und­schaft zwis­chen Frauen und um Beziehungs­dra­men. Das wird nun aber hier deut­lich eindi­men­sion­aler erzählt. Die absichtlich beschränk­te Sprache, der schlichte Stil — das bringt hier kaum mehr Schön­heit oder Wahrheit her­vor. Vorherrschend ist dage­gen das Plätsch­ern: Harm­lose Ober­flächen wer­den erzählt — natür­lich absichtlich, das schlägt sich ja auch deut­lich in Sprache und Form nieder -, die aber auch auf nichts (mehr) zu ver­weisen zu wollen scheinen und nur noch dem reinen Selb­stzweck dienen. Das ist wenig, vor allem weil die Fig­uren blass bleiben und eigentlich — so weit ich das wahrnehme — lang­weilig sind. Man kann dem natür­lich zugute hal­ten, dass genau das gezeigt wer­den sollte: Dass es keine indi­vidu­ellen, “span­nen­den” Lebensen­twürfe mehr gibt und dass sie sich auch nicht mehr nach den klas­sis­chen Kri­te­rien schön oder span­nend erzählen lassen. Aber das ist eine zwar wahre, aber sehr trock­ene Ein­sicht, die hier irgend­wie den Text nicht mehr trägt und recht­fer­tigt.

Das Leben ist banal. Mein Leben ist banal. Ich bin banal.
Das gibt mir noch eine Weile zu denken, obwohl mir gar nicht danach ist. (180)

Ange­li­ka Meier: Eng­land. Zürich: Diaphanes 2010. 329 Seit­en.

Meier, EnglandAnge­li­ka Meiers erster Roman ist nicht ganz so großar­tig wie Heim­lich heim­lich mich ver­giss, aber trotz­dem ein sehr gutes Buch. Es geht in ein­er reich­lich ver­rück­ten Geschichte um eine Philosophin, der Wittgen­stein erschienen ist und die dadurch auf die vergesse­nen und ver­schol­lenen Manuskripte eines Philosophen des 17. Jahrhun­derts namens Man­zanil­la stößt, die in der Folge ihre Leben­sauf­gabe und ihr Lebenswerk wer­den — allerd­ings mit dem Prob­lem, dass sie natür­lich eine vol­lkom­men offenkundi­ge Fälschung sind.

Wahnsinn und Real­ität ver­schwim­men in dieser Fabel vol­lkom­men, die Fra­gen, was ist wirk­lich, was ist eing­bildet? braucht man sich kaum mehr zu stellen — beant­worten lassen sie sich sowieso nicht mehr. Schlaf, Geheim­nis, Traum/Alptraum — alles geht durcheinander/ineinander und überkreuzt sich ständig in den Bee­in­flus­sun­gen udn Hand­lun­gen der Per­so­n­en. Vor allem ist diese Geschichte zwis­chen Wittgen­stein und Man­zanil­la, zwis­chen Vergangenheit(en) und Gegen­warten aber sehr unter­halt­sam, vor allem wegen der skuril, aber sehr genau und liebevolle geze­ich­neten Fig­uren und Charak­teren.
Über­haupt ist Meiers Roman sehr geistre­ich und oft mit schwarzem Humor gespickt, die Absur­ditäten und Ver­rück­theit­en des (insti­tu­tion­al­isierten) Denkens (und ins­beson­dere des Denkens über Sprache) gewitzt und geschickt auf­spießend: Wun­der­bar unter­hal­tend dabei, wahrschein­lich ger­ade wegen der Häu­fung der Skuril­itäten, die sich selb­st so abso­lut ernst nehmen kön­nen.

Sehen Sie, manche Philosophen — oder wie man sie nen­nen soll — lei­den an dem, was man Prob­lemver­lust nen­nen kann. Es scheint Ihnen dann alles ganz ein­fach, und es scheinen keine tief­er­en Prob­leme mehr zu existieren, die Welt wird weit und flach und ver­liert jede Tiefe; und was sie schreiben, wird unendlich seicht und triv­ial. (91)

Aus-Lese #15

Wolf­gang Fröm­berg: Etwas Besseres als die Frei­heit. Luh­mar: Hablizel 2013. 202 Seit­en.

Der Rezensent der taz war von Fröm­bergs zweit­em Roman ziem­lich begeis­tert, ich nicht so sehr. Es fiel mir schw­er, da über­haupt reinzukom­men, in den Text über den Text über den Text: Die (Erzähl-)Ebenen ver­schwim­men hier per­ma­nent (im Roman gibt es z.B. einen Roman, der heißt wie der Roman). Das wäre ja noch kein Prob­lem (eher ein Plus­punkt), aber Fröm­bergs spröder Stil, seine trock­ene Sprache macht­en es mir schw­er, den ver­schiede­nen Hand­lungssträn­gen und Fig­urenkon­stel­la­tio­nen, die lose immer mal wieder mit einan­der verknüpft wer­den, ohne dass das beson­ders deut­lich wird, zu fol­gen — dazu kom­men noch ver­schiedene Zeit-Hand­lungs-Ebe­nen und Träume und Erin­nerun­gen. Vielle­icht lag’s auch an mein­er Lesesi­t­u­a­tion — aber ich sehe nicht recht, was Fröm­berg hier eigentlich will. Es geht irgend­wie um die Alt-68er und deren Kinder. Der Sohn zweier 68er und Kom­mu­nar­den, Leo, ist so etwas wie die Zen­tral­fig­ur. Er beschäftigt sich ablehnend mit der Geschichte seine Eltern, das als “Kün­stler” ver­ar­bei­t­end, seine Frau/Ex, die als „Detek­tivin“ zu den 68ern unter­wegs ist/war, die aber auch schon tot sind, spielt auch eine Rolle. Und dazu kommt noch die gesamte neueste Geschichte Deutsch­lands und der Welt, vom Anfang des 20. Jahrhun­derts bis in die Gegen­wart, die unbe­d­ingt ind en Text hinein gepackt wer­den musste. Das führt zu entsprechend lan­gen Erk­lärun­gen und Abschwei­fun­gen, trock­en und zäh macht es den Text. Und wieder mal schreiben alle Fig­uren: Wern­er und sein Sohn Leo, Ursu­la und auch der extrim­istis­che Aktivist Andreas, selb­st die „Geolo­gin“ Vic­to­ria — da kann man schön immer daraus zitieren, ohne sich die Zitate zu eigen machen zu müssen. Deshalb ist Etwas Besseres als die Frei­heit auch voller gewichtiger Sätze, die als philosophis­che Erkenntnisse/Sätze/Wahrheiten daherkom­men, meist aber Platitü­den sind. Und natür­lich endet das wieder im Schreiben: “Vic­to­ria schloss die Augen, set­zte den Stift aufs Papi­er, öffnete die Tür und stürzte sich in eine neue Welt.” (196)

Außer­dem ist das Buch ganz schlecht geset­zt: ungün­stiger Seit­en­spiegel, schlechter Block­satz (teil­weise richtige Löch­er in den Zeilen) — das sind handw­erk­liche Fehler, die beim Lesen ermü­den, vor allem weil der Text selb­st nur sehr grob gegliedert ist.

Ange­li­ka Meier: Stürzen, drüber schlafen. Kleine Geschicht­en und Stücke. Zürich: Diaphanes 2013. 194 Seit­en.

Skuriles und Absur­des mis­cht sich in Meiers kleinen Geschicht­en mit Groteskem und auch Lustigem: Das sind Minia­turen, die unsere ach-so-bekan­nte Welt ein­fach auf den Kopf stellen und mögliche Wel­ten erzählen. Da sich oft nur eine kleine Bedin­gung oder Begeben­heit ändert, kann man wun­der­bar sehen, was dann passiert — und hat erzählte Wel­ten, die der “Real­ität” unwahrschein­lich gle­ichen und doch ganz anders sind.

Wun­der­bar ist auch die Erzähltech­nik Meiers, die ich schon in Heim­lich, heim­lich mich ver­giss bewun­derte. Zum Beispiel die Raf­fi­nesse der Infor­ma­tionsver­gabe, die (meis­tens) sehr zurück­hal­tend, unauf­dringlich, fast unmerk­lich geschieht. So kann Meier etwa lange offen lassen kann, ob die Erzäh­ler­stimme weib­lich oder männlich ist (wenn es eben keine Rolle spielt). Eine sou­veräne Erzähltech­nik, die hier oft im Dienst des Wun­derns und Ver­wun­derns ste­ht, des Aufmerk­sam­machen auf die Gestalt der Welt, die wir immer wieder als gegeben und “nor­mal” hin­nehmen, die ja aber oft auch ganz kontin­gent ist und dur­chaus auch (ganz) anders sein kön­nte — zum Beispiel so, wie Meier es uns hier mal vor­führt und worüber wir dann staunen dür­fen oder rat­los und per­plex sein dür­fen. “Ihre Minia­turen sind vergnüglich zu lesende Etü­den in Sarkas­mus, alle­samt dazu geeignet, die Zumu­tun­gen der Wirk­lichkeit auf Dis­tanz zu hal­ten” hat Jörg Mage­nau das in sein­er Kri­tik genan­nt — und das stimmt. Auch wenn manch­mal — etwa und vor allem in den bei­den The­ater­stück­en am Ende des Ban­des das Moment der Fin­gerübung etwas arg deut­lich wird — die bei­den Texte hin­ter­lassen mich etwas rat­los, vor allem Wass­er! Ele­ment! Penthe­silea liest Kleist scheint mir in erster Lin­ie eine solche (stilis­tis­che) Fin­gerübung — aber vielle­icht überse­he ich ein­fach den entschei­den­den Punkt …

Berthold Seliger: Das Geschäft mit der Musik. Ein Insider­bericht. Berlin: Edi­tion Tia­mat 2013. 352 Seit­en.

Der Konz­erver­anstal­ter Seliger schreibt, warum das Musikgeschäft (wom­it er in erster Lin­ie das des Pop & Rock meint) so ist, wie es ist: Verkom­men, kor­rupt, unbe­friedi­gend. Eine “Stre­itschrift für eine andere Kul­tur” (so nen­nt der Klap­pen­text das) ist dieser Bericht. Und er ist zunächst mal ernüchternd und desil­lu­sion­ierend: Seliger hat vieles zusam­menge­tra­gen zum Zus­tand der Kul­turindus­trie, des “Geschäfts mit der Musik” — vieles, das dem aufmerk­samen Zeitgenossen dur­chaus schon bekan­nt sein dürfte (GEMA, Einkom­men, Konzen­tra­tionsprozesse im Label- & Ver­lagswe­sen, Musik­er­ga­gen, Spon­sor­ing & Wer­bung), hier aber noch mal geballt und zusam­menge­führt, detail­liert an vie­len Beispie­len aufgezeigt. Beson­ders beschäfti­gen ihn die vielfälti­gen Konzen­tra­tionsprozesse im Geschäft rund um die Musik und die Frage: “Doch was bedeutet das [die oli­garische Konzen­tra­tion] für die Kul­tur, was bedeutet das für unsere Gesellschaft? Was bringt unsere Gesellschaft voran? Ist es die Quote, die zählen soll, oder ist es die Qual­ität von Kul­tur?” (14). Das ist nicht nur ein Vor­wurf an den ver­sagen­den Markt — auch wenn dessen Neuau­rich­tung (share­hold­er-val­ue statt stake­hold­er-val­ue) seit den 1980er wesentlich­er Antrieb für den “Ver­fall” ist, son­dern auch eine Anklage an die diese Prozesse unter­stützende willfährige Poli­tik, die dem Ausverkauf der Kul­tur nicht nur nichts ent­ge­genset­zt, son­dern ihn auch vorantreibt und finanziell unter­stützt. Seliger prag­n­ert das als Ver­lust der Vielfalt an — und zwar eben nicht nur musikalisch, musik-intrin­sisch sozusagen, son­dern auch auf gesellschaftlich­er Ebene.

Stattdessen wün­scht Seliger sich eine Kul­tur der Dis­si­denz — mark­tkon­form ist aber immer nur der Gehor­sam, weshalb die reine Mark­to­ri­en­tierung der Kul­tur (als ganzes) schaden muss, weil das Moment des Gegen­läu­fi­gen weg­fall­en muss (dazu gezwun­gen wird …): “Heute dage­gen beherrscht der Quo­ten­ter­ror unser kul­turelles Leben, ob beim öffentlich-rechtlichen Rund­funk und Fernse­hen, bei der staatlichen Film­förderung oder bei unseren musikalis­chen Freizeitvergnü­gen. Wir leis­ten uns ein hochsub­ven­tion­iertes Kul­tursys­tem, unter­w­er­fen es allerd­ings frei­willig dem Dik­tat der Quote. Es zählt nur, was verkauft.” (20), oder: “Dis­si­denz ist in den mod­er­nen Geschäftsmod­ellen der Kul­turindus­trie nicht als Möglichkeit vorge­se­hen.” (21). Das ist keine neue oder über­raschende Erken­nt­nis — nicht ohne Grund ist Adorno (mit seinen Arbeit­en über die Kul­turindus­trie) sein Kro­nzeuge -, aber weil Seliger viel aus seinen langjähri­gen Erfahrun­gen mit den ver­schieden­sten Musik­ern, Ver­anstal­tern etc. erzählt, — manch­mal hat das auch ein biss­chen etwas von “Opa erzählt von früher” … — ist das eine dur­chaus span­nende und anre­gende Lek­türe. Er klagt dabei auch so ziem­lich alle Beteiligten an, von der Musik­erin bis zum Hörer/Konsumenten, vom Label über Konz­ern­ver­anstal­ter, Wer­bende bis zu Jour­nal­istin­nen oder Medi­en­ar­beit­er. Und natür­lich auch die Poli­tik (Urhe­ber­recht! Fördergelder!). Er sieht das Prob­lem aber immer als eines des Sys­tems, nicht des Indi­vidu­ums — ohne diesem allerd­ings Hand­lungsmöglichkeit und Ver­ant­wor­tung abzunehmen oder abzus­prechen (dafür führt er ja auch Gegen­beispiele an, die sich dem Zwang zur absoluten Unter­w­er­fung unter den Markt und seine (schein­baren) Geset­ze ver­weigern). Let­zlich hängt auch für ihn alles an der “Hal­tung” des Indi­vidu­ums: “In ein­er Zeit, in der das Men­schen­recht auf kul­turelle Teil­habe weltweit durch multi­na­tionale Konz­erne mas­siv gefährdert ist, kommt es mehr denn je darauf an, Hal­tung zu zeigen.” (348) — das ist so etwas wie der Kern, Aus­gangs- und End­punkt des Buch­es.

Chris­t­ian Hwakey: Sonette mit elis­a­bethanis­chem Maulwurf. Über­tra­gen von Uljana Wolf. Berlin: hochroth 2010. 38 Seit­en.

Eigentlich ganz span­nende und vielfältige Gedichte, die Sonette von Hawkey. Die Über­tra­gung von Wolf ist eigentlich eine Über­set­zung, die fast eine inter­lin­eare ist — extrem nah an dem Orig­i­nal. Das ist mal derb und ver­spielt, mal hochge­mut und ordinär zugle­ich — ein selt­sames sic-et-non, ein Pen­deln zwis­chen den Wel­ten und Sprachen macht die Sonette Hawkeys aus — und im Umschlag des Pen­dels passiert die Kun­st, dort, wo die Sprache glitzert und glänzt und funkelt …

& they slept, sound­ly. sleep was a sound & / they float­ed into it — sie legten sich aufs ohr & schlaf war ein laut. / sie schwebten hinein (36/37)

Heimlich vergessen und bewusst werden

Angelika Meier, Heimlich, heimlich mich vergiss

Ange­li­ka Meier, Heim­lich, heim­lich mich ver­giss

Heim­lich, heim­lich mich ver­giss ist ein Traum­ro­man, ein wun­der­bar­er und oft auch wun­der­lich­er Text. Ich will hier gar nicht eine Deu­tung dieses Buch­es ver­suchen. Der Witz an Ange­li­ka Meiers Roman ist ja in meinen Augen ger­ade, dass er sich ein­deuti­gen Lesarten ein­deutig ver­schließt: Alles — und wirk­lich so ziem­lich alles, vom Anfang bis Ende — kann, darf und soll man (also der Leser) immer auch anders ver­ste­hen. Gle­ich unge­heuer begeis­tert hat mich schon unmit­tel­bar während der Lek­türe die Art, wie Meier hier die Infor­ma­tionsver­mit­tlung gestal­tet. Sie stopft näm­lich nicht alles lehrbuch­mäßig in die Expo­si­tion, son­dern verteilt wesentliche Mit­teilun­gen zu Fig­uren, Kon­stel­la­tio­nen, Umstän­den, Set­ting und Hand­lung wun­der­bar ökonomisch und qua­si-natür­lich über die ganzen 300 Seit­en. Oder eben auch nicht: Die Autorin unter­liegt näm­lich nicht dem Wahn, alles zu sagen und erk­lären zu müssen, der die aktuelle Bel­letris­tik oft so lang­weilig macht. Hier ist der Leser/die Leserin noch selb­st gefragt. Solch ein Text hat naturgemäß viele offene Stellen, die man — denke ich — ein­fach mal so ste­hen lassen und aushal­ten muss. Oder als Leser selb­st füllt.

Aber worum geht es hier eigentlich? Das ist eine Frage, die über­haupt nicht ein­fach und abschließend zu beant­worten ist. Klar wird aber: Wir befind­en uns in ein­er zukün­fti­gen Gesellschaft, die wesentlich auf der Unter­schei­dung gesund vs. krank auf­baut. Im Mit­telpunkt des Textes ste­ht so etwas wie ein Arzt, der allerd­ings eine Art Men­sch-Mas­chine ist, ohne Herz am recht­en Fleck (das Herz wird mit dem Solarplexus irgend­wie oper­a­tiv vere­inigt bei den Ärzten), dafür mit zusät­zlichen Hirnka­paz­itäten und ein­er Art zweit­en, kon­trol­lieren­den Per­sön­lichkeit, dem Medi­a­tor. Dieser Arzt arbeit­et in einem Art Sana­to­ri­um, gegen das jenes aus dem Zauber­berg ein Kinder­spiel ist — hier kommt nie­mand rein und raus, es gibt keine Ein- oder Aus­gänge. Aber dann taucht doch irgend­wie eine ambu­lante Pati­entin auf, die sich als ehe­ma­lige Ehe­frau des Arztes ent­pup­pt, die ihn und seinen Sohn — der als Waise auch in diesem Institut/Komplex/Geflecht lebt — dazu bringt, eine Art “Aus­bruch” zu ver­suchen, der aber irgend­wie auch wieder scheit­ert und im Phan­tas­ma endet — wie man über­haupt den ganzen Text als eine Art Traum lesen kann, dessen Traum­charak­ter mit fortschre­i­t­en­der Seiten­zahl deut­lich­er wird, ohne jedoch je expliz­it als solch­er iden­ti­fizier­bar zu wer­den. Klar ist aber bald: Das ist keine Real­ität, die hier beschrieben wird. Der Traum­charak­ter wird aber erst ganz kurz vor Schluss aufgelöst, mit dem Aufwachen. Und davor gibt es auch nur wenige direk­te Hin­weise — vor allem die Unwirk­lichkeit des Erzählten selb­st drängt meine Lek­türe in diese Rich­tung …

Das schlägt sich auch in der Sprache wieder — zunächst hielt ich das für Manieris­mus, der Wech­sel zwis­chen Innen- und Außen­per­spek­tive der Haupt­fig­ur zwis­chen zwei Sätzen hin und her — aber das hat dann doch alles seinen guten Grund in der Instanz des “Medi­a­tors”. Und auch die Klarheit, ja Unkom­pliziertheit der Syn­tax ist ein schön­er Gegen­satz zur Fremd­heit der erzählten Welt (die auch nicht wirk­lich ver­traut wird — nicht wer­den kann und soll — hof­fentlich ) …

Ich kann meine Fasz­i­na­tion hier ger­ade nur schw­er begrün­den und/oder in Worte fassen — vielle­icht auch, weil mir erst im Laufe der Lek­türe aufge­gan­gen ist, wie gut das eigentlich ist. Wahrschein­lich müsste ich es gle­ich noch ein­mal lesen. Die Kri­tik­er — die das meis­tens auch (recht) gut fan­den — sind sich auch nicht so ganz einig, worum es in “Heim­lich, heim­lich mich ver­giss” eigentlich geht. Und das ist oft ein gutes Zeichen (denn wer will schon Büch­er lesen, die von Anfang an allen klar sind und alles klar machen? — Das sind in der Regel die lang­weili­gen Texte …). Oliv­er Jun­gen kon­sta­tiert zum Beispiel in der FAZ:

Das Zen­tralthe­ma Meiers ist die Neu­for­matierung des psy­chis­chen Sys­tems, wodurch auch Ver­gan­gen­heit und Zukun­ft, nichts als diskur­sive Kon­struk­te, neu aufge­set­zt wer­den. Ob sich die ver­schiede­nen Bewusst­sein­sebe­nen, welche dem Leser präsen­tiert wer­den, in erken­nt­nis­the­o­retis­ch­er Hin­sicht hier­ar­chisieren lassen, ob also ein Zus­tand der Wahrheit entspricht oder ob es gar kein Außen gibt, bleibt selb­stre­dend offen (Oliv­er Jun­gen, FAZ)

Ulrich Rüde­nauer in der Zeit set­zt andere Schw­er­punk­te:

Die Kör­p­er sind hier zu Diskurs­ge­gen­stän­den gewor­den, aus­ge­lagerte Objek­te, über die in einem fremd anmu­ten­den Jar­gon gere­det, gerichtet wird. Hier, in dieser zukün­fti­gen Klinik, die natür­lich auf unsere immer trans­par­entere, ver­wal­tete Gegen­wart ver­weist, hat alles seine Ord­nung.

Ange­li­ka Meier jeden­falls hat eine hochkom­plexe lit­er­arische Welt ent­wor­fen, eine kün­stliche, vom Erzäh­ler möglicher­weise nur fan­tasierte Par­al­lelord­nung, die deshalb gespen­stisch und ver­wirrend wirkt, weil sie so fern von unseren eige­nen Zukun­ft­säng­sten gar nicht ist. (Ulrich Rüde­nauer, Zeit)

Ange­li­ka Meier: Heim­lich, heim­lich mich ver­giss. Berlin: Diaphanes 2012. 336 Seit­en. ISBN 978–3‑03734–184‑1. 22,90 Euro.

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