Die Idee hinter Tree of Codes ist ausgesprochen cool: Foer nahm einen vorhandenen Text — nämlich The Street of Crocodiles von Bruno Schulz — und schneidet einfach weg, was ihm im Weg ist oder nicht gefällt. Das Ergebnis, ein Cut-up sozusagen, ist dann ein neuer Text. Der Witz ist nun, dass nicht einfach der neue Text gedruckt wird, sondern der Prozess des Ausschneidens auch im Ergebnis, in Tree of Codes also, noch sichtbar ist. Denn die Seiten sind durchlöchert. Alles, was für neuen Text, die Überschreibung (Palimpsest!) nicht benötigt wird, wird weggeschnitten. Entsprechend löchrig sind die Seiten: Manchmal stehen vom “originalen” Text noch halbe Sätze oder einzelne Wortgruppen, manchmal auf einer halben Seite auch nur ein einzelnes Wort und sonst vor allem Luft, Nichts, die tatsächlich spürbare Abwesenheit des ursprünglichen/vorhandenen Textes. Das macht die Fragilität des Buches als Ding und als Text (Lücken!) ganz neu deutlich.
Man ist außerdem geneigt, dem Text eine gewisse Offenheit zuzusprechen: Durch die Lücken, die Löcher auf den Seiten, im Papier scheint ja immer das noch kommende schon durch, ist also schon präsent — als Wort, als Satzzeichen, als Splitter oder nur als Lücke. Das täuscht aber ziemlich. Auch die Idee des „Satzbildes“ bekommt eine ganz neue Bedeutung: Tatsächlich macht es irgendwie doch einen Unterschied, ob ein Satz mit wenigen Lücken geschnitten ist oder ob ein kleines Gebilde wie „I found myself lost.“ (80/81) sich über anderthalb Seiten — mit ensprechend viel Luft — erstreckt: Das Gewicht wird ein anderes (eher reziprok aber …)
Leere und Abwesenheiten spielen aber auch inhaltlich eine gewisse Rolle (oder meine Perspektive ist durch die Form verschoben). Der stehengebliebene Text ist dabei manchmal etwas schräg (wie die verrutschenden, absinkenden Häuser …), einen Tick surreal oder expressionistisch (in der Darstellung der Stadt). Auflösungserscheinungen, das Verschwinden, Verblassen und Verwandeln von Personen und Dingen spielen hier eine bedeutende Rolle.
The tree of codes was better than a paper imitation. (96)
Eine Übertragung ist Hilbigs erster Roman und trotzdem gleich ein „echter“ und typischer Hilbig: Das Problem des Ichs wird hier durchdekliniert, insbesondere die Frage nach der Identität eines Schriftstellers. Die Identität der Hauptfigur, eines schriftstellernden Heizers (oder als Heizer arbeitenden Schriftstellers, das hängt von Stand- und Zeitpunkt ab), steht dabei nicht nur unter innerem Druck und Rechtfertigungszwang, sondern gerade auch unter äußerem Zwang, der sich in den staatlichen Repressalien der DDR-Institutionen (geheimdienstlich/polizeilich) äußert — was natürlich zusammenhängt und sich gegenseitig verstärkt.
Die ganze Übertragung ist deshalb eine Art “Selbstvernehmung”, in dem die erzählende Hauptfigur versucht, diesem Problem — also: Wer ist dieses Ich? Kann ich meinen Erinnerungen trauen? Und meinen Wahrnehmungen? — auf den Grund zu gehen. Der dabei reichhaltig konsumierte Alkohol hilft nicht unbedingt, Klarheit zu verschaffen. Nebenbei gibt es noch ein weiteres Problem, das der Untersuchung bedarf: Die Liebe — als Problem in einer Gesellschaft der Angst/Sicherheit/Unterdrückung). Das ist in Hilbigs typischer mächtiger, harter Sprache manchmal anstrengend, über die lange Strecke durchzuhalten. Aber es ist in seiner körperlichen Wucht eben auch immer wieder großartig und bereitet mir ausgesprochen großes Vergnügen …
Es war da ein Text, der auf seinen Verfasser wartete, aber andauernd griff das Leben ein und hinderte den Verfasser, indem es seine eigene Geschichte schrieb … […]. (107)
Manches von den hier versammelten, etwas disparaten (linguistischen) Aufsätzen und (journalistischen) sprachkritischen Glossen von Luise Pusch ist inzwischen etwas gealtert — vor allem in dem Sinn, dass man die Entstehungszeit der 1980er erkennt. Das meiste aber ist noch — erschreckend eigentlich — aktuell und gültig sowieso: Pusch zeigt einerseits, wie sehr die deutsche Sprache von patriachalischen Strukturen und Denkmustern geprägt ist und schlägt andererseits vor, wie man das ändern könnte — damit die Nicht-Männer nicht immer nur “mitgemeint” sind. Ihr Hauptvorschlag im titelgebenden Aufsatz ist letztlich so etwas wie eine Entgeschlechtlichung (wie sie z.B. im Englischen weit verbreitet ist): Aus “der Professor” und “die Professorin” wird “der Professor” und “die Professor”. Ihr ist natürlich klar, dass das ein recht radikaler Eingriff in die überlieferte Sprachstruktur ist und deshalb von vorneherein abgelehnt wird (auch wenn das Ergebnis keineswegs unsystematisch im Deuschen wäre). Als “kleine” Alternative bevorzugt sie dann wenigstens die Doppelnennung bzw. deren abgekürzte Form mit Binnen‑I.
Oehrings frühe Autobiographie ist als Text bzw. Buch ziemlich seltsam und lebt wohl nur von der schon im Untertitel verkündeten Besonderheit seines Lebensweges — die Lebensgeschichte eines “normalen” (im Sinne der standardisierten Erwartung) Komponisten hätte wohl nicht diesen Verlag gefunden. Ich empfand das textlich vor allem also als recht krude Mischung aus sehr persönlichem Erleben und Künstlerbiographie mit Betonung des Autodidaktentums und der Unwahrscheinlichkeit des Gelingens, dem Hängenbleiben im Dazwischen (zwischen Welten) sowie Erläuterung der Entstehungszusammenhänge und Bedeutung der eigenen Werke. Krude wirkt das vor allem, weil es so chaotisch erzählt ist, ohne erkennbare Abfolge oder Zusammenhänge, in Fetzen fast. Oehring betont dabei auch gerne und wiederholt die von ihm erlebte Wucht der Erfahrung von Neuem, insbesondere von Kunst — also Oper, Musik, Pop und so weiter. Das wird dann aber von ihm immer weider mit sehr allgemeinen Beobachtungen und künstlerischen Arbeiten (vor allem Ausschnitten aus den Texten seiner Kompositionen) gemischt. Und so ekkletizistisch Oehring sich im Hören gibt (von Schönberg bis Depeche Mode reichen ungefähr seine Vorlieben), so uneinheitlich ist auch seine Sprache — oft sehr hölzern, manchmal stilistisch ausgesprochen ungelenk, an anderen Stellen aber auch sprühend vor Begeisterung.
Diese klassische Darstellung der Epoche des Barocks als Zeitalter des Festes wartete schon länger auf meine Lektüre. Im ersten Teil bietet Alewyn hier eine übersichtliche Morphologie des barocken Festes, die — so weit ich das überblicke — gelungen auf grundlegende Züge abstrahiert, aber das mit Beispielen reichhaltig demonstriert. Dem schließt er eine nähere Betrachtung der Elemente des Festes im Barock an (die vor allem das Theater ausführlich würdigt) und auch eine Situierung des barocken Festes im Leben & Geselllschaft. Hier spürt man vielleicht am deutlichsten das Alter des Textes. Bei der Abgrenzung zum „Volk“ etwa — davon hat Alewyn kaum einen Begriff, ihn interessieren die offensichtlichen Quellen — und die sind aus adligen Kreisen oder beschreiben zumindest vor allem den Adel. Dementsprechend konzentriert er sich ganz stark auf diese „wichtige“ Schicht — was sich in diesem Untersuchungszusammenhang sachlich ja auch weitgehend rechtfertigen lässt -, der Rest ist allenfalls Staffage.
Der zweite Teil des Taschenbuchs fügt dem dann noch einige Beschreibungen großer Feste des Barocks an, die leider nicht vorwiegend Quellen sind, sondern in der Hauptsache Quellenparaphrasen (was insofern verständlich ist, als die barocken Festbeschreibungen natürlich barock sind — d.h. unseren heutigen Lesegewohnheiten vielleicht ein wenig zu ausführlich …).
Die Geschichte des höfischen Festes, eines der glänzendsten Kapitel abendländischer Kulturgeschichte, wartet umgeschrieben und kaum gesehen der Auferstehung aus den Grüften unserer Archive und graphischen Sammlungen. Es fehlt nicht an der Sammlung und Katalogisierung dieser Schätze, aber es fehlt an jeder geistigen Ordnung und Deutung. (16)
Ein jedes Zeitalter schafft sich ein Gleichnis, durch das es im Bild seine Antwort gibt auf die Frage nach dem Sinn des Lebens und in dem es den Schlüssel ausliefert zu seinem Geheimnis. Die Antwort des Barock lautet: Die Welt ist ein Theater. Großartiger kann man vielleicht von der Welt, aber schwerlich vom Theater denken. Kein Zeitalter hat sich mit dem Theater tiefer eingelassen als das Barock, keines hat es tiefer verstanden. In keinem Stoff aber auch hat das Barock sich völliger offenbart als im Theater. Es hat das Theater zum vollständigen Abbild und zum vollkommenen Sinnbild der Welt gemacht. (48)
Das Motto stellt gleich wichtige Elemente des sehr faszinierenden Gedichtbandes von Altmann vor:
erinnerungen häuten sich. immer wieder / stellen sie mir ihre körper in die spiegel.
heißt es da: Erinnerungen, Körper, auch die Körperlichkeit der Erinnerung(en) sowie Spiegel und Selbstbetrachtungen durchziehen als Motive viele der Gedichte. Gerade der Aspekt des Zusammenhangs von Erinnerung und Geschichte schlägt sich bei Altmann oft nieder. Das sind konkrete (teilweise sogar sehr konkrete!), streng ökonomisch „erzählte“ Szenen und kleine Geschichten, die mit sparsamen Hinweisen auf ihre geschichtliche Situierung über das eigentlich Erzählte gerne hinausweisen. Dafür reicht manchmal schon ein einzelnes Wort — “Grenzweg” zum Beispiel situiert das Gedicht zeitlich und örtlich an der innerdeutschen Grenze. Trotzdem neigt Altmann dazu, seine Lyrik präsentisch zu präsentierten, als ob sie ohne Zeit wäre: “… aus der zeit fällt. die wunden sind leer.“ heißt es einmal. (11)
Seine konkrete, auf der Ebene der Lexik geradezu alltägliche Sprache verbindet sich zu starken Bildern, die gerade durch ihre Genauigkeit und Schlichtheit wirkmächtig sind. Dabei fühlen sich viele seiner Gedichte, die auch immer wieder die Natur an den Kulturrändern, an den Schnittstellen zwischen menschlichen Artefakten und “reiner” Natur evozieren, sehr menschenleer an, obwohl das “Ich” — allerdings bevorzugt im spiegel — durchaus vorkommt. Prägender sind allerdings die (Natur-)Räume mit Schnee (auch Regen) und ihrem speziellen Licht, die „geschichte im landschaftspark“ (16) oder die „anatomie der erinnerung“ (22).
In den oft stillen, unaufgeregten Gedichten schwingt immer eine gewisse, starke Leichtigkeit mit, eine scheinbare Natürlichkeit der Sprache, wie sie im immer wieder vorkommenden Bild der Feder sich typisch manifestiert. Die Feder ist auch inhaltlich ganz treffend: Als Rest eines Lebenwesens, als Stellvertreter, zugleich aber auch eine Wunde (hinterlassend), dabei sich schwebend fortbewegend (kein eigentliches fliegen …), ziellos, ungesteuert und unregel-/steuerbar, zugleich Teil der Landschaft (der Natur) und der/ihrer Geschöpfe.
… die geräusche in der landschaft / sind blind. ich tast mich an worten durch / die gedächtnisräume. … (26)
Bußmanns Roman ist ein schönes, intensives Kammerspiel der Moral. Der Text lebt stark von seiner geschickten Informationsvergabe, der allmählichen, immer wieder durch Abschweifungen, Ablenkungen und Sprünge unterbrochenen Aufklärung des Lesers — die übrigens bis zum Schluss nicht vollständig geschieht. Aber wie immer gilt ja: Der Prozess ist meistens interessanter als das Ergebenis. Hier geht es um einen älteren Lehrer und sein Verhältnis zu einem begabten Schüler, das zu einem Eklat — dem “Vorfall” — sich steigert und darin aber auch, gemeinsam mit der Sicherheit des Gewissens, der Wahrnehmung (und der Anstellung) des Lehrers, der keinen Vornamen hat, seinen Schluss findet. Entweder ist das ein gewaltiger Klimax, der sich in einer Ohrfeige entlädt — oder eben nicht, weil die Ohrfeige ausbleibt, mit ihr aber eben auch die Orientierung im Leben und der Moral, im Wissen um Gut und Böse, Falsch und Richtig. Und das ist eben das zentrale Scheitern Schramms, der Hauptfigur:
Sie sind Lehrer, Sie müssen die Dinge klären und nicht ein Geheimnis daraus machen. (129)
Bußmann erzählt das in einem sehr schönen, ständig fließenden Wechsel im Hin und Her zwischen der Gegenwart (dem Sorgen um den Garten, die Befreiung der Auffahrt vom Unkraut — wunderbar, wie genau und präzise Bußmann das schildern kann!) und der Vorgeschichte, dem Herantasten an den „Vorfall“. Die genaue Beobachtung und Wahrnehmung der Umgebung (der Umwelt) durch die Augen Schramms spielt eine wesentliche Rolle gerade weil sie in der erzählten Zeit, die brutal verlangsamt erscheint, kontrastiert mit der Ungewissheit in im weitesten Sinne moralischen Frage.
Gefallen hat mir aber auch die Vielfalt der erzählten Aspekte. Eine Rolle spielen unter anderem auch noch das memento mori für die Mutter, der Vater als Problemfigur der Vergangenheit und Vikktor als undurchschaubarer Bruder (der einmal sogar als Terrorist vermutet wird) … Auch stilistisch hat Bußmann mit ihren gestapelten Sätze eine passende Form gefunden: Die Sätze sind einfach nie fertig, nie abgeschlossen, immer wieder gibt es wie nachträglich eingefügte, eingeschobene Ergänzungen, Präzisierungen, Erweiterungen, die als solche eben überdeutlich kenntlich bleiben, was zu einer fragmentierten Syntax, einer permanenten Stockung und Unterbrechung führt (und das Lesen dadurch bewusst verlangsamt …):
Zwanzig Jahre oder länger hatte er dort verbracht, im Hinterland, in einem von allen Verkehrswegen abgeschiedenen Bergdorf, und auch wenn es darum für einen Doktor nie gereicht hatte, war er jedenfalls, entgegen allen Erwartungen, Arzt geworden, ein richtiger, wahrscheinlich nicht einmal ein schlechter Arzt. (145)
Ein sehr kluges, schönes und lesenwertes Buch.
Die Murau Identität (sic, der Autor schreibt das — wohl in Anlehnung an die “Bourne Identity” — ohne notwendigen Bindestrich) ist leider doch ein ziemlich langweiliges Buch. Hinter der “Murau-Identität” verbirgt sich ein untoter Thomas Bernhard, der einfach weiter lebt (warum, wird nicht so recht klar), was wir aus “Reiseberichten” seines Verlegers, die dem Erzähler zugespielt werden, erfahren. Das ist natürlich eine Stilkopie Thomas Bernhards, auch in den Rants, die versuchen, Bernhard zu imitieren — aber leider nur eine mäßige, in der Regel bleibt es flach, niveaulos und vor allem völlig banal. Wahrscheinlich ist das Bernhard-Imitat immer nur bein ersten Mal überhaupt interessant … Manchmal blitzt immerhin etwas Witz (und ganz selten auch Esprit) hindurch, einige schöne Absurditäten hat zusammen mit viel Leerlauf auch eingestreut. Irgendwie scheint mir das Ziel eine Mischung aus gewesen zu sein. Leider bleibt der Text aber eine bloß notdürftige zusammengestoppelte Rahmenhandlung für die fünf Berichte des „Verlegers“ zum Untoten Thomas Bernhard (und seinem Romanprojekt Ànima Negra über die positiven Seiten der Ehe & Familie) — viel mehr als diese Idee ist in den 200 Seiten einfach nicht drin.
matthias mader (@matthias_mader)
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