Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: barock

Ins Netz gegangen (22.9.)

Ins Netz gegan­gen am 22.9.:

Ins Netz gegangen (8.5.)

Ins Netz gegan­gen am 8.5.:

Aus-Lese #30

Jona­than Safran Foer: Tree of Codes. Lon­don: Visu­al Edi­ti­on 2011. 139 Seiten. 

Foer, Tree of CodesDie Idee hin­ter Tree of Codes ist aus­ge­spro­chen cool: Foer nahm einen vor­han­de­nen Text – näm­lich The Street of Cro­co­di­les von Bru­no Schulz – und schnei­det ein­fach weg, was ihm im Weg ist oder nicht gefällt. Das Ergeb­nis, ein Cut-up sozu­sa­gen, ist dann ein neu­er Text. Der Witz ist nun, dass nicht ein­fach der neue Text gedruckt wird, son­dern der Pro­zess des Aus­schnei­dens auch im Ergeb­nis, in Tree of Codes also, noch sicht­bar ist. Denn die Sei­ten sind durch­lö­chert. Alles, was für neu­en Text, die Über­schrei­bung (Palim­psest!) nicht benö­tigt wird, wird weg­ge­schnit­ten. Ent­spre­chend löch­rig sind die Sei­ten: Manch­mal ste­hen vom „ori­gi­na­len“ Text noch hal­be Sät­ze oder ein­zel­ne Wort­grup­pen, manch­mal auf einer hal­ben Sei­te auch nur ein ein­zel­nes Wort und sonst vor allem Luft, Nichts, die tat­säch­lich spür­ba­re Abwe­sen­heit des ursprünglichen/​vorhandenen Tex­tes. Das macht die Fra­gi­li­tät des Buches als Ding und als Text (Lücken!) ganz neu deutlich.

Man ist außer­dem geneigt, dem Text eine gewis­se Offen­heit zuzu­spre­chen: Durch die Lücken, die Löcher auf den Sei­ten, im Papier scheint ja immer das noch kom­men­de schon durch, ist also schon prä­sent – als Wort, als Satz­zei­chen, als Split­ter oder nur als Lücke. Das täuscht aber ziem­lich. Auch die Idee des „Satz­bil­des“ bekommt eine ganz neue Bedeu­tung: Tat­säch­lich macht es irgend­wie doch einen Unter­schied, ob ein Satz mit weni­gen Lücken geschnit­ten ist oder ob ein klei­nes Gebil­de wie „I found mys­elf lost.“ (80÷81) sich über andert­halb Sei­ten – mit enspre­chend viel Luft – erstreckt: Das Gewicht wird ein ande­res (eher rezi­prok aber …)

Lee­re und Abwe­sen­hei­ten spie­len aber auch inhalt­lich eine gewis­se Rol­le (oder mei­ne Per­spek­ti­ve ist durch die Form ver­scho­ben). Der ste­hen­ge­blie­be­ne Text ist dabei manch­mal etwas schräg (wie die ver­rut­schen­den, absin­ken­den Häu­ser …), einen Tick sur­re­al oder expres­sio­nis­tisch (in der Dar­stel­lung der Stadt). Auf­lö­sungs­er­schei­nun­gen, das Ver­schwin­den, Ver­blas­sen und Ver­wan­deln von Per­so­nen und Din­gen spie­len hier eine bedeu­ten­de Rolle.

The tree of codes was bet­ter than a paper imi­ta­ti­on. (96)

Wolf­gang Hil­big: Eine Über­tra­gung. Frank­furt am Main: Fischer 2011 (Wer­ke 4). 427 Seiten. 

hilbig, eine übertragungEine Über­tra­gung ist Hil­bigs ers­ter Roman und trotz­dem gleich ein „ech­ter“ und typi­scher Hil­big: Das Pro­blem des Ichs wird hier durch­de­kli­niert, ins­be­son­de­re die Fra­ge nach der Iden­ti­tät eines Schrift­stel­lers. Die Iden­ti­tät der Haupt­fi­gur, eines schrift­stel­lern­den Hei­zers (oder als Hei­zer arbei­ten­den Schrift­stel­lers, das hängt von Stand- und Zeit­punkt ab), steht dabei nicht nur unter inne­rem Druck und Recht­fer­ti­gungs­zwang, son­dern gera­de auch unter äuße­rem Zwang, der sich in den staat­li­chen Repres­sa­li­en der DDR-Insti­tu­tio­nen (geheimdienstlich/​polizeilich) äußert – was natür­lich zusam­men­hängt und sich gegen­sei­tig verstärkt.

Die gan­ze Über­tra­gung ist des­halb eine Art „Selbst­ver­neh­mung“, in dem die erzäh­len­de Haupt­fi­gur ver­sucht, die­sem Pro­blem – also: Wer ist die­ses Ich? Kann ich mei­nen Erin­ne­run­gen trau­en? Und mei­nen Wahr­neh­mun­gen? – auf den Grund zu gehen. Der dabei reich­hal­tig kon­su­mier­te Alko­hol hilft nicht unbe­dingt, Klar­heit zu ver­schaf­fen. Neben­bei gibt es noch ein wei­te­res Pro­blem, das der Unter­su­chung bedarf: Die Lie­be – als Pro­blem in einer Gesell­schaft der Angst/​Sicherheit/​Unterdrückung). Das ist in Hil­bigs typi­scher mäch­ti­ger, har­ter Spra­che manch­mal anstren­gend, über die lan­ge Stre­cke durch­zu­hal­ten. Aber es ist in sei­ner kör­per­li­chen Wucht eben auch immer wie­der groß­ar­tig und berei­tet mir aus­ge­spro­chen gro­ßes Vergnügen …

Es war da ein Text, der auf sei­nen Ver­fas­ser war­te­te, aber andau­ernd griff das Leben ein und hin­der­te den Ver­fas­ser, indem es sei­ne eige­ne Geschich­te schrieb … […]. (107)

Lui­se F. Pusch: Das Deut­sche als Män­ner­spra­che. Auf­sät­ze und Glos­sen zur femi­nis­ti­schen Lin­gu­is­tik. Frank­furt: Suhr­kamp 1984. 202 Seiten. 

Man­ches von den hier ver­sam­mel­ten, etwas dis­pa­ra­ten (lin­gu­is­ti­schen) Auf­sät­zen und (jour­na­lis­ti­schen) sprach­kri­ti­schen Glos­sen von Lui­se Pusch ist inzwi­schen etwas geal­tert – vor allem in dem Sinn, dass man die Ent­ste­hungs­zeit der 1980er erkennt. Das meis­te aber ist noch – erschre­ckend eigent­lich – aktu­ell und gül­tig sowie­so: Pusch zeigt einer­seits, wie sehr die deut­sche Spra­che von patriacha­li­schen Struk­tu­ren und Denk­mus­tern geprägt ist und schlägt ande­rer­seits vor, wie man das ändern könn­te – damit die Nicht-Män­ner nicht immer nur „mit­ge­meint“ sind. Ihr Haupt­vor­schlag im titel­ge­ben­den Auf­satz ist letzt­lich so etwas wie eine Ent­ge­schlecht­li­chung (wie sie z.B. im Eng­li­schen weit ver­brei­tet ist): Aus „der Pro­fes­sor“ und „die Pro­fes­so­rin“ wird „der Pro­fes­sor“ und „die Pro­fes­sor“. Ihr ist natür­lich klar, dass das ein recht radi­ka­ler Ein­griff in die über­lie­fer­te Sprach­struk­tur ist und des­halb von vor­ne­her­ein abge­lehnt wird (auch wenn das Ergeb­nis kei­nes­wegs unsys­te­ma­tisch im Deu­schen wäre). Als „klei­ne“ Alter­na­ti­ve bevor­zugt sie dann wenigs­tens die Dop­pel­nen­nung bzw. deren abge­kürz­te Form mit Binnen‑I.

Hel­mut Oeh­ring: Mit ande­ren Augen. Vom Kind gehör­lo­ser Eltern zum Kom­po­nis­ten. Ber­lin: btb 2011. 256 Seiten. 

Oehring, Mit anderen AugenOeh­rings frü­he Auto­bio­gra­phie ist als Text bzw. Buch ziem­lich selt­sam und lebt wohl nur von der schon im Unter­ti­tel ver­kün­de­ten Beson­der­heit sei­nes Lebens­we­ges – die Lebens­ge­schich­te eines „nor­ma­len“ (im Sin­ne der stan­dar­di­sier­ten Erwar­tung) Kom­po­nis­ten hät­te wohl nicht die­sen Ver­lag gefun­den. Ich emp­fand das text­lich vor allem also als recht kru­de Mischung aus sehr per­sön­li­chem Erle­ben und Künst­ler­bio­gra­phie mit Beto­nung des Auto­di­dak­ten­tums und der Unwahr­schein­lich­keit des Gelin­gens, dem Hän­gen­blei­ben im Dazwi­schen (zwi­schen Wel­ten) sowie Erläu­te­rung der Ent­ste­hungs­zu­sam­men­hän­ge und Bedeu­tung der eige­nen Wer­ke. Kru­de wirkt das vor allem, weil es so chao­tisch erzählt ist, ohne erkenn­ba­re Abfol­ge oder Zusam­men­hän­ge, in Fet­zen fast. Oeh­ring betont dabei auch ger­ne und wie­der­holt die von ihm erleb­te Wucht der Erfah­rung von Neu­em, ins­be­son­de­re von Kunst – also Oper, Musik, Pop und so wei­ter. Das wird dann aber von ihm immer wei­der mit sehr all­ge­mei­nen Beob­ach­tun­gen und künst­le­ri­schen Arbei­ten (vor allem Aus­schnit­ten aus den Tex­ten sei­ner Kom­po­si­tio­nen) gemischt. Und so ekkle­ti­zis­tisch Oeh­ring sich im Hören gibt (von Schön­berg bis Depe­che Mode rei­chen unge­fähr sei­ne Vor­lie­ben), so unein­heit­lich ist auch sei­ne Spra­che – oft sehr höl­zern, manch­mal sti­lis­tisch aus­ge­spro­chen unge­lenk, an ande­ren Stel­len aber auch sprü­hend vor Begeisterung.

Richard Ale­wyn, Karl Sälz­le: Das gro­ße Welt­thea­ter. Die Epo­che der höfi­schen Fest in Doku­ment und Deu­tung. Ham­burg: Rowohlt 1959. 134 Seiten. 

Das große WelttheaterDie­se klas­si­sche Dar­stel­lung der Epo­che des Barocks als Zeit­al­ter des Fes­tes war­te­te schon län­ger auf mei­ne Lek­tü­re. Im ers­ten Teil bie­tet Ale­wyn hier eine über­sicht­li­che Mor­pho­lo­gie des baro­cken Fes­tes, die – so weit ich das über­bli­cke – gelun­gen auf grund­le­gen­de Züge abs­tra­hiert, aber das mit Bei­spie­len reich­hal­tig demons­triert. Dem schließt er eine nähe­re Betrach­tung der Ele­men­te des Fes­tes im Barock an (die vor allem das Thea­ter aus­führ­lich wür­digt) und auch eine Situ­ie­rung des baro­cken Fes­tes im Leben & Geselll­schaft. Hier spürt man viel­leicht am deut­lichs­ten das Alter des Tex­tes. Bei der Abgren­zung zum „Volk“ etwa – davon hat Ale­wyn kaum einen Begriff, ihn inter­es­sie­ren die offen­sicht­li­chen Quel­len – und die sind aus adli­gen Krei­sen oder beschrei­ben zumin­dest vor allem den Adel. Dem­entspre­chend kon­zen­triert er sich ganz stark auf die­se „wich­ti­ge“ Schicht – was sich in die­sem Unter­su­chungs­zu­sam­men­hang sach­lich ja auch weit­ge­hend recht­fer­ti­gen lässt -, der Rest ist allen­falls Staffage. 

Der zwei­te Teil des Taschen­buchs fügt dem dann noch eini­ge Beschrei­bun­gen gro­ßer Fes­te des Barocks an, die lei­der nicht vor­wie­gend Quel­len sind, son­dern in der Haupt­sa­che Quel­len­pa­ra­phra­sen (was inso­fern ver­ständ­lich ist, als die baro­cken Fest­be­schrei­bun­gen natür­lich barock sind – d.h. unse­ren heu­ti­gen Lese­ge­wohn­hei­ten viel­leicht ein wenig zu ausführlich …).

Die Geschich­te des höfi­schen Fes­tes, eines der glän­zends­ten Kapi­tel abend­län­di­scher Kul­tur­ge­schich­te, war­tet umge­schrie­ben und kaum gese­hen der Auf­er­ste­hung aus den Grüf­ten unse­rer Archi­ve und gra­phi­schen Samm­lun­gen. Es fehlt nicht an der Samm­lung und Kata­lo­gi­sie­rung die­ser Schät­ze, aber es fehlt an jeder geis­ti­gen Ord­nung und Deu­tung. (16)

Ein jedes Zeit­al­ter schafft sich ein Gleich­nis, durch das es im Bild sei­ne Ant­wort gibt auf die Fra­ge nach dem Sinn des Lebens und in dem es den Schlüs­sel aus­lie­fert zu sei­nem Geheim­nis. Die Ant­wort des Barock lau­tet: Die Welt ist ein Thea­ter. Groß­ar­ti­ger kann man viel­leicht von der Welt, aber schwer­lich vom Thea­ter den­ken. Kein Zeit­al­ter hat sich mit dem Thea­ter tie­fer ein­ge­las­sen als das Barock, kei­nes hat es tie­fer ver­stan­den. In kei­nem Stoff aber auch hat das Barock sich völ­li­ger offen­bart als im Thea­ter. Es hat das Thea­ter zum voll­stän­di­gen Abbild und zum voll­kom­me­nen Sinn­bild der Welt gemacht. (48)

Andre­as Alt­mann: Die lich­ten Lie­der der Bäu­me lie­gen im Gras und schei­nen nur so. Leip­zig: Poe­ten­la­den 2014. 101 Seiten. 

Altmann, Die lichten LiederDas Mot­to stellt gleich wich­ti­ge Ele­men­te des sehr fas­zi­nie­ren­den Gedicht­ban­des von Alt­mann vor: 

erin­ne­run­gen häu­ten sich. immer wie­der /​stel­len sie mir ihre kör­per in die spiegel.

heißt es da: Erin­ne­run­gen, Kör­per, auch die Kör­per­lich­keit der Erinnerung(en) sowie Spie­gel und Selbst­be­trach­tun­gen durch­zie­hen als Moti­ve vie­le der Gedich­te. Gera­de der Aspekt des Zusam­men­hangs von Erin­ne­rung und Geschich­te schlägt sich bei Alt­mann oft nie­der. Das sind kon­kre­te (teil­wei­se sogar sehr kon­kre­te!), streng öko­no­misch „erzähl­te“ Sze­nen und klei­ne Geschich­ten, die mit spar­sa­men Hin­wei­sen auf ihre geschicht­li­che Situ­ie­rung über das eigent­lich Erzähl­te ger­ne hin­aus­wei­sen. Dafür reicht manch­mal schon ein ein­zel­nes Wort – „Grenz­weg“ zum Bei­spiel situ­iert das Gedicht zeit­lich und ört­lich an der inner­deut­schen Gren­ze. Trotz­dem neigt Alt­mann dazu, sei­ne Lyrik prä­sen­tisch zu prä­sen­tier­ten, als ob sie ohne Zeit wäre: „… aus der zeit fällt. die wun­den sind leer.“ heißt es ein­mal. (11)

Sei­ne kon­kre­te, auf der Ebe­ne der Lexik gera­de­zu all­täg­li­che Spra­che ver­bin­det sich zu star­ken Bil­dern, die gera­de durch ihre Genau­ig­keit und Schlicht­heit wirk­mäch­tig sind. Dabei füh­len sich vie­le sei­ner Gedich­te, die auch immer wie­der die Natur an den Kul­tur­rän­dern, an den Schnitt­stel­len zwi­schen mensch­li­chen Arte­fak­ten und „rei­ner“ Natur evo­zie­ren, sehr men­schen­leer an, obwohl das „Ich“ – aller­dings bevor­zugt im spie­gel – durch­aus vor­kommt. Prä­gen­der sind aller­dings die (Natur-)Räume mit Schnee (auch Regen) und ihrem spe­zi­el­len Licht, die „geschich­te im land­schafts­park“ (16) oder die „ana­to­mie der erin­ne­rung“ (22).

In den oft stil­len, unauf­ge­reg­ten Gedich­ten schwingt immer eine gewis­se, star­ke Leich­tig­keit mit, eine schein­ba­re Natür­lich­keit der Spra­che, wie sie im immer wie­der vor­kom­men­den Bild der Feder sich typisch mani­fes­tiert. Die Feder ist auch inhalt­lich ganz tref­fend: Als Rest eines Leben­we­sens, als Stell­ver­tre­ter, zugleich aber auch eine Wun­de (hin­ter­las­send), dabei sich schwe­bend fort­be­we­gend (kein eigent­li­ches flie­gen …), ziel­los, unge­steu­ert und unre­gel-/steu­er­bar, zugleich Teil der Land­schaft (der Natur) und der/​ihrer Geschöpfe.

… die geräu­sche in der land­schaft /​sind blind. ich tast mich an wor­ten durch /​die gedächt­nis­räu­me. … (26)

Nina Buß­mann: Gro­ße Feri­en. Ber­lin: Suhr­kamp 2012. 200 Seiten. 

Bußmann, Große FerienBuß­manns Roman ist ein schö­nes, inten­si­ves Kam­mer­spiel der Moral. Der Text lebt stark von sei­ner geschick­ten Infor­ma­ti­ons­ver­ga­be, der all­mäh­li­chen, immer wie­der durch Abschwei­fun­gen, Ablen­kun­gen und Sprün­ge unter­bro­che­nen Auf­klä­rung des Lesers – die übri­gens bis zum Schluss nicht voll­stän­dig geschieht. Aber wie immer gilt ja: Der Pro­zess ist meis­tens inter­es­san­ter als das Erge­benis. Hier geht es um einen älte­ren Leh­rer und sein Ver­hält­nis zu einem begab­ten Schü­ler, das zu einem Eklat – dem „Vor­fall“ – sich stei­gert und dar­in aber auch, gemein­sam mit der Sicher­heit des Gewis­sens, der Wahr­neh­mung (und der Anstel­lung) des Leh­rers, der kei­nen Vor­na­men hat, sei­nen Schluss fin­det. Ent­we­der ist das ein gewal­ti­ger Kli­max, der sich in einer Ohr­fei­ge ent­lädt – oder eben nicht, weil die Ohr­fei­ge aus­bleibt, mit ihr aber eben auch die Ori­en­tie­rung im Leben und der Moral, im Wis­sen um Gut und Böse, Falsch und Rich­tig. Und das ist eben das zen­tra­le Schei­tern Schramms, der Hauptfigur: 

Sie sind Leh­rer, Sie müs­sen die Din­ge klä­ren und nicht ein Geheim­nis dar­aus machen. (129)

Buß­mann erzählt das in einem sehr schö­nen, stän­dig flie­ßen­den Wech­sel im Hin und Her zwi­schen der Gegen­wart (dem Sor­gen um den Gar­ten, die Befrei­ung der Auf­fahrt vom Unkraut – wun­der­bar, wie genau und prä­zi­se Buß­mann das schil­dern kann!) und der Vor­ge­schich­te, dem Her­an­tas­ten an den „Vor­fall“. Die genaue Beob­ach­tung und Wahr­neh­mung der Umge­bung (der Umwelt) durch die Augen Schramms spielt eine wesent­li­che Rol­le gera­de weil sie in der erzähl­ten Zeit, die bru­tal ver­lang­samt erscheint, kon­tras­tiert mit der Unge­wiss­heit in im wei­tes­ten Sin­ne mora­li­schen Frage.

Gefal­len hat mir aber auch die Viel­falt der erzähl­ten Aspek­te. Eine Rol­le spie­len unter ande­rem auch noch das memen­to mori für die Mut­ter, der Vater als Pro­blem­fi­gur der Ver­gan­gen­heit und Vikk­tor als undurch­schau­ba­rer Bru­der (der ein­mal sogar als Ter­ro­rist ver­mu­tet wird) … Auch sti­lis­tisch hat Buß­mann mit ihren gesta­pel­ten Sät­ze eine pas­sen­de Form gefun­den: Die Sät­ze sind ein­fach nie fer­tig, nie abge­schlos­sen, immer wie­der gibt es wie nach­träg­lich ein­ge­füg­te, ein­ge­scho­be­ne Ergän­zun­gen, Prä­zi­sie­run­gen, Erwei­te­run­gen, die als sol­che eben über­deut­lich kennt­lich blei­ben, was zu einer frag­men­tier­ten Syn­tax, einer per­ma­nen­ten Sto­ckung und Unter­bre­chung führt (und das Lesen dadurch bewusst verlangsamt …): 

Zwan­zig Jah­re oder län­ger hat­te er dort ver­bracht, im Hin­ter­land, in einem von allen Ver­kehrs­we­gen abge­schie­de­nen Berg­dorf, und auch wenn es dar­um für einen Dok­tor nie gereicht hat­te, war er jeden­falls, ent­ge­gen allen Erwar­tun­gen, Arzt gewor­den, ein rich­ti­ger, wahr­schein­lich nicht ein­mal ein schlech­ter Arzt. (145)

Ein sehr klu­ges, schö­nes und lesen­wer­tes Buch.

Alex­an­der Schim­mel­busch: Die Murau Iden­ti­tät. Ber­lin: Metro­lit 2014. 206 Seiten. 

Schimmelbusch, Murau IdentitätDie Murau Iden­ti­tät (sic, der Autor schreibt das – wohl in Anleh­nung an die „Bourne Iden­ti­ty“ – ohne not­wen­di­gen Bin­de­strich) ist lei­der doch ein ziem­lich lang­wei­li­ges Buch. Hin­ter der „Murau-Iden­ti­tät“ ver­birgt sich ein unto­ter Tho­mas Bern­hard, der ein­fach wei­ter lebt (war­um, wird nicht so recht klar), was wir aus „Rei­se­be­rich­ten“ sei­nes Ver­le­gers, die dem Erzäh­ler zuge­spielt wer­den, erfah­ren. Das ist natür­lich eine Stil­ko­pie Tho­mas Bern­hards, auch in den Rants, die ver­su­chen, Bern­hard zu imi­tie­ren – aber lei­der nur eine mäßi­ge, in der Regel bleibt es flach, niveau­los und vor allem völ­lig banal. Wahr­schein­lich ist das Bern­hard-Imi­tat immer nur bein ers­ten Mal über­haupt inter­es­sant … Manch­mal blitzt immer­hin etwas Witz (und ganz sel­ten auch Esprit) hin­durch, eini­ge schö­ne Absur­di­tä­ten hat zusam­men mit viel Leer­lauf auch ein­ge­streut. Irgend­wie scheint mir das Ziel eine Mischung aus gewe­sen zu sein. Lei­der bleibt der Text aber eine bloß not­dürf­ti­ge zusam­men­ge­stop­pel­te Rah­men­hand­lung für die fünf Berich­te des „Ver­le­gers“ zum Unto­ten Tho­mas Bern­hard (und sei­nem Roman­pro­jekt Àni­ma Negra über die posi­ti­ven Sei­ten der Ehe & Fami­lie) – viel mehr als die­se Idee ist in den 200 Sei­ten ein­fach nicht drin.

Das verhaßte Haus

Das ers­te Trau­er­spiel /​das ihm Ver­druß erweckt /
Hegt das ver­haß­te Haus /​das man die Schu­le nennet /
Wo Kunst und Tugend ihm ein wei­tes Ziel aussteckt /
Wol dem! der hier mit Lust und hur­tig dar­nach rennet!
Denn der erreicht es nicht /​der ihm zur Zentner-Last
Der Weiß­heit Leh­ren macht /​sie spie­len­de nicht fasst. 

— Dani­el Cas­par von Lohen­stein, Sopho­nis­be (Wid­mungs­vor­re­de)

Liebe, Leiden und Alchimie

Ein klei­nes Arse­nal an Lau­ten und die bereit lie­gen­de Vio­la da gam­ba vor dem Altar ver­ra­ten selbst dem zufäl­li­gen Besu­cher der Semi­nar­kir­che, das hier etwas Beson­de­res statt­fin­det. Und in der Tat, das vor­letz­te Kon­zert des dies­jäh­ri­gen Musik­som­mers ist noch ein­mal ein ech­tes High­light. Hil­le Perl, Lee San­ta­na und Doro­thee Mields sind mit ihrem „Loves Alchy­mie“ beti­tel­ten Pro­gramm in Mainz zu Gast. Die Samm­lung ver­schie­de­ner Lau­ten, die Lee San­ta­na bereit gelegt hat, ist sym­pto­ma­tisch. Denn kei­ner der drei gibt sich mit ein­fa­chen Lösun­gen zufrie­den. Exten­si­ve und inten­si­ve Viel­falt ist statt­des­sen angesagt.

Dabei ist es schein­bar ein ganz ein­ge­schränk­tes, mono­the­ma­ti­sches Pro­gramm, die­se „Loves Alchy­mie“. Ver­to­nun­gen der soge­nann­ten meta­phy­si­schen Dich­tung aus dem baro­cken Eng­land des 17. Jahr­hun­derts haben sich die drei Musi­ker aus­ge­sucht. Und die krei­sen immer wie­der um Lie­be und Tod, viel mehr gibt es da nicht. Aber das ist bei ande­ren Barock­dich­tern ja ähn­lich. Doch schon die Ver­to­nun­gen bre­chen aus die­ser schein­ba­ren Ein­öde aus: Airs, Grounds, Fan­ta­sien, Varia­tio­nen, Lau­ten­lie­der von bekann­ten Kom­po­nis­ten wie John Dow­land und Hen­ry Pur­cell ste­hen neben sol­chen von ver­ges­se­nen Meis­tern wie John Wil­son, Tobi­as Hume oder John Jenk­ins. Aber sie alle wen­den die Melan­cho­lie, die gedrück­te Stim­mung von Todes­nä­he und Lie­bes­schmerz (die oft genug zusam­men hän­gen) in erbau­li­che und unter­hal­ten­de Musik – Unter­hal­tung frei­lich, die von fei­nen Dif­fe­ren­zie­run­gen lebt. Und dafür sind die drei ohren­schein­lich Spe­zia­lis­ten. Jeder ein­zel­ne weiß in der Augus­ti­ner­kir­che zu begeis­tern – und das Zusam­men­spiel in naht­lo­ser Har­mo­nie sowie­so. Hil­le Perl fas­zi­niert mit ihrer leben­di­gen Dyna­mik, Lee San­ta­na mit fein­glied­ri­gem Tief­sinn. Und dann ist da schließ­lich Doro­thee Mields, die dem gan­zen Stim­me ver­leiht. Denn die Sopra­nis­tin ist nicht nur wun­der­bar ver­ständ­lich, son­dern auch wun­der­bar facet­ten­reich, weich und so reich an Klang­far­ben, dass bei ihr kei­ne zwei Wör­ter gleich klingen. 

Mal nach­denk­lich und sin­nie­rend, mal intim, dann wie­der ent­rückt und ganz ver­son­nen – kaum eine emo­tio­na­le Bewe­gung bleibt bei die­sem Trio außen vor. Ganz beson­ders noch ein­mal im Schluss, der mit süßer Ver­zü­ckung ein­ge­läu­tet wird: „Swee­test Love, I doe not goe“ ist Ver­füh­rung pur, die mit einer zart-figu­ra­tiv ver­spon­nen Lau­ten­fan­ta­sie von Lee San­ta­na zurück­hal­tend prä­zi­se fort­ge­führt wird und im gran­dio­ses Schluss mün­det: „The Expi­ra­ti­on“, das „Aus­hau­chen“ eines anony­men Kom­po­nis­ten. „So brich doch die­sen letz­ten Kuss ab, der so klagt“, heißt es dort, und die Sän­ge­rin schließt mit dem simp­len Wört­chen „fort“ – da möch­te man wirk­lich gera­de­wegs mit ihr gehen, das muss der Weg ins Para­dies sein, so rein und ver­füh­re­risch singt Mields das über der Beglei­tung von San­ta­na und Perl. Statt­des­sen zwingt der stür­mi­sche Applaus aber alle wie­der gna­den­los zurück in die Welt und den Alltag.

(geschrie­ben für die Main­zer Rhein-Zeitung.) 

Taglied 5.4.2012

Eigent­lich schon ein Vor­griff auf mor­gen (aber am „rich­ti­gen“ Tag kann man ja nicht all die tol­len Pas­si­ons-Musi­ken hören …) – Gott­fried Hein­rich Stöl­zels „Bro­ckes-Pas­si­on“:


Beim Kli­cken auf das und beim Abspie­len des von You­Tube ein­ge­bet­te­ten Vide­os wer­den (u. U. per­so­nen­be­zo­ge­ne) Daten wie die IP-Adres­se an You­Tube übertragen.

felix austria mit beata olanda (und deutschen zuhörern)

Nein, viel Spaß ver­ste­hen die­se vier nicht. Dafür ist ihnen die Sache viel zu ernst. Schließ­lich geht es um gro­ße Musik. Und das erfor­dert nicht nur Ernst, son­dern auch vol­le Hin­ga­be. Eines wird näm­lich schnell klar in der St. Anto­ni­us­ka­pel­le: Für „La Bea­ta Olan­da“ gibt es kei­ne hal­ben Wege. Alles oder Nichts heißt die Devi­se für das Spe­zia­lis­ten­en­sem­ble – trotz des Namens übri­gens eine ziem­lich deut­sche Sache. Und das heißt wie­der­um: Sie geben alles. Denn Schei­tern steht nicht auf dem Pro­gramm. Dafür aber eine klei­ne Rund­rei­se durch den deut­schen und öster­rei­chi­schen Barock – mit deut­li­chem Schwer­punkt auf dem Alpen­land. Sowohl Bach als auch Hän­del, bei­de mit einer Vio­lin­so­na­te ver­tre­ten, wer­den da eher zur Neben­sa­che. Viel span­nen­der und viel vita­ler auch gelingt dem Quar­tett die Aus­wahl aus den Sona­ten von Johann Hein­rich Schmel­zer und Hein­rich Ignaz Franz von Biber. Die kön­nen bei­de ein rei­ches Oeu­vre vor­wei­sen – nicht nur quan­ti­ta­tiv. Und vor allem für Vio­li­nis­ten. Schmel­zer, Hof­ka­pell­meis­ter im Wien Kai­ser Leo­polds, war als Kom­po­nist genau­so ange­se­hen wie als Vio­li­nist. Und für den Salz­bur­ger Hof­mu­si­kus Biber gilt nur zwan­zig Jah­re spä­ter das glei­che: Gefei­er­ter Ton­set­zer und euro­pa­weit berühm­ter Vir­tuo­se auf der Gei­ge. Ent­spre­chend anspruchs­voll sind vie­le sei­ner Sonaten.
Für Clau­dia Hoff­mann scheint die tech­ni­sche Her­aus­for­de­rung aber nicht beson­ders hoch zu sein. Fast gelas­sen und ohne Furcht wäh­len sie und ihre Mit­strei­ter for­sche Tem­pi, for­cie­ren die Kon­tras­te zwi­schen ruhi­gen Abschnit­ten und wild-brau­sen­den Pas­sa­gen noch zusätzlich.
Ihre tech­ni­schen Fähig­kei­ten stel­len sie dabei genau­so wenig her­aus wie sich selbst. Egal ob in Schmel­zer Duo­so­na­ten für Dis­kant­gam­be und Vio­li­ne (aus der Samm­lung „Duo­de­na sel­ec­ta­rum sona­ta­rum“) oder sei­ner drit­ten Sona­te aus den gro­ßen „Sona­tae una­rum fidi­um“, ganz gleich ob in Tanz­sät­zen oder Osti­na­ti – immer macht „La Bea­ta Olan­da“ das Mate­ri­al zu abso­lu­ter, ganz und gar rei­ner Musik. Da wird dann auch nichts mehr his­to­ri­siert – das Wis­sen um die zeit­ge­nös­si­sche Auf­füh­rungs­pra­xis ist auch nur noch ein Mit­tel, die­ser Musik zu ihrer voll­stän­di­gen, unpar­tei­ischen Mate­ria­li­sie­rung zu ver­hel­fen. Und das funk­tio­niert blen­dend. Viel­leicht auch des­halb, weil der klei­ne Raum der St. Anto­ni­us­ka­pel­le das gut unter­stützt: Mit­ten im musi­ka­li­schen Gesche­hen wähnt man sich als Publi­kum, so direkt und unmit­tel­bar umfan­gen einen die reich­hal­ti­gen Klänge.
Und direkt ist schließ­lich auch der Zugriff des Ensem­bles: Mit vol­ler Kraft wer­fen sie sich etwa in die Kon­tras­te und Span­nun­gen der Sona­ten. Da gibt es kei­ne Beschö­ni­gun­gen, aber auch kei­ne über­trie­be­nen Dra­ma­ti­sie­run­gen, son­dern ein­fach nur Musik – mal ent­span­nend, mal span­nungs­ge­la­de­ner als jeder Kri­mi. Und wenn sie dann das Kon­zert mit Bibers c‑Moll-Sona­te enden las­sen, zei­gen sie nicht nur gro­ßen Mut, son­dern auch unbarm­her­zi­ge Här­te: So ein Cliff­han­ger ist ziem­lich gemein. Aber auch ganz schön gut.

(kon­zert des main­zer musik­som­mers, geschrie­ben für die main­zer rhein-zeitung)

oh, merry england!

Der arme Ste­ven Devi­ne. Der Cem­ba­list muss am Schluss einen ziem­lich stei­fen Hals gehabt haben. Denn mehr als in sei­ne Noten blick­te er beim Kon­zert in der Augus­ti­ner­kir­che zu sei­nen Ensem­ble­kol­le­gen von Lon­don Baro­que. Und dafür muss­te er stän­dig schrägt über sei­ne rech­te Schul­ter schau­en. Die Ver­ren­kun­gen haben sich aber gelohnt. Zumin­dest für das Publi­kum, das so Erst­klas­si­ges zu hören bekam.

Die per­ma­nen­te visu­el­le Kom­mu­ni­ka­ti­on des Quar­tetts, die nicht nur vom Cem­ba­lo aus­ging, son­dern den Gam­bis­ten Charles Med­lam genau­so ein­be­zog wie die bei­den Gei­ge­rin­nen Ingrid Sei­fert und Han­nah Med­lam, die­se stän­di­ge gegen­sei­ti­ge Kon­trol­le und Ver­ge­wis­se­rung der Gemein­sam­kei­ten führt zu einem star­ken, wun­der­bar kon­zen­trier­ten Klang­bild. Die Erfah­rung aus über drei­ßig Jah­ren gemein­sa­men Musi­zie­rens hilft da natür­lich auch noch. Jeden­falls gab es eini­ges zu sehen: Nicht nur auf­merk­sa­me, hell­wa­che und kom­mu­ni­ka­ti­ve Musi­ker, deren Bli­cke sich öfter kreuz­ten als ihre Melo­dien, son­dern auch ganz viel Bewe­gung: Da tanz­ten die Bögen mun­ter über die Sai­ten und die Fin­ger wir­bel­ten die Griff­bret­ter hoch und run­ter – Lan­ge­wei­le hat­te kei­ne Chan­ce in der Augustinerkirche.

Nur der Bach-Noten­band auf dem Pult vor Devi­ne blieb stum­mes, unbe­weg­li­ches Requi­sit – ganz der eng­li­schen Musik hat­ten die Lon­do­ner sich gewid­met. Natür­lich, wür­de man sagen, wüss­te man nicht, dass die Lon­do­ner auch ganz aus­ge­zeich­net deut­sche und ita­lie­ni­sche Barock­mu­sik spie­len kön­nen. Aber davon gab es die­ses Mal nur in der Zuga­be eine klit­ze­klei­ne Kostprobe.

Eng­li­sche Musik des 17. Jahr­hun­dert also – das ist vie­les, was kaum noch jemand wirk­lich kennt: Kam­mer­mu­sik von Kom­po­nis­ten wie John Jenk­ins, Chris­to­pher Simpson, Wil­liam Lawes oder Matthew Locke ist heu­te nicht mehr sehr ver­brei­tet. Zu ihrer Zeit waren das in und um Lon­don aber alles aus­ge­wie­se­ne, geschätz­te Meis­ter. Die For­men rei­chen von emp­find­sa­men Tanz­sät­zen – groß­ar­tig etwa das Cem­ba­lo­so­lo „A sad Pavan for the­se dis­trac­ted times“, in der Tho­mas Tom­kins die Wir­ren nach der Hin­rich­tung des Königs Charles in eine für das 17. Jahr­hun­dert extrem emo­tio­na­le Musik fasst – bis zur typi­schen eng­li­schen Gat­tung der Grounds. Von die­sen frei­en Varia­tio­nen über ein wie­der­hol­tes Bass­the­ma hat­te das Ensem­ble eini­ge dabei, etwa Chris­to­pher Simpsons “Ground Divi­si­ons“, die dem Gam­bis­ten Charles Med­lam viel Mög­lich­kei­ten gab, nicht nur sei­ne Fin­ger­fer­tig­keit, son­dern auch sei­nen Ein­falls­reich­tum vorzuführen.

Die abschlie­ßen­de Hän­del-Sona­te – in Eng­land gilt Geor­ge Fre­de­ric Han­del ja genau­so selbst­ver­ständ­lich als Eng­län­der wie hier als Deut­scher – aller­dings war dann nicht mehr ganz so typisch eng­lisch. Aber Lon­don Baro­que ist kosm­po­li­tisch genug, auch das zu meis­tern: Mit ihrer typi­schen Ein­füh­lungs­kraft und der wun­der­bar wach­sa­men, reak­ti­ons­freu­di­gen Gemein­sam­keit ihres ener­gi­schen Spiels mach­ten sie sich Hän­del genau­so zu eigen wie den Rest des Programms.

(gechrie­ben für die main­zer rhein-zeitung)

mit musik & händel durch europa

Georg Fried­rich Hän­del, der gro­ße Jubi­lar die­ses Jah­res, ist schon in jun­gen Jah­ren weit her­um­ge­kom­men in Euro­pa. Und er hat sich von vie­lem, was er dabei gehört hat, inspie­re­ren las­sen. Manch­mal auch etwas mehr – das „Aus­lei­hen“ gelun­ge­ner Melo­dien bei­spiels­wei­se war zu sei­nen Zei­ten noch kei­nes­wegs so ver­pönt wie heu­te. Wer sich also ein biss­chen inten­si­ver mit Hän­dels Musik beschäf­tigt, muss sich auch mit ganz viel ande­ren Wer­ken befas­sen. Zum Bei­spiel mit Musik von Diet­rich Bux­te­hu­de, dem Hän­del in Lübeck einen Besuch abstat­te­te. Oder mit Johann Hein­rich Schmel­zer, der in Wien Kar­rie­re mach­te. Und natür­lich auch mit Hän­dels Riva­len in Lon­don, Gio­van­ni Bononcini.
Die Vil­la Musi­ca hat all das in ein schö­nes Pro­gramm mit dem Tele­mann-Quar­tett gepackt und im Ertha­ler Hof auch einen sehr pas­sen­den Saal für die­se viel­fäl­ti­ge, fili­gra­ne und dra­ma­ti­sche Musik gefun­den. Die Hit­ze dort hat das Publi­kum ger­ne aus­ge­hal­ten, denn die vier Spe­zia­lis­ten des Tele­mann-Quar­tetts boten zwar nicht unbe­dingt gro­ße Über­ra­schun­gen, aber hohe bis höchs­te Qua­li­tät. Und zwar in allen Dimensionen.
Das Fun­da­ment leg­te, das ist bei baro­cker Musik unver­zicht­bar, der Gene­ral­bass. Flo­ri­an Heye­rick am Cem­ba­lo und Rai­ner Zip­per­ling mit Gam­be und Cel­lo begnüg­ten sich aber nicht mit dem Hin­ter­grund. Mit viel Fan­ta­sie, mit Prä­zi­si­on und span­nungs­ge­la­de­nen Lini­en mach­ten sie sich zu einem unver­zicht­ba­ren, ele­men­ta­ren Teil der Musik. Und was die­se bei­den aus­zeich­ne­te, galt auch für die Gei­ge­rin Swant­je Hoff­mann und den Altis­ten Yose­meh Adjei: Genau­ig­keit in allen Situa­tio­nen und Hin­ga­be an die Aus­drucks­viel­falt und die Kraft der Musik. Dazu kam dann noch ein rei­bungs­lo­ses Mit­ein­an­der, ein echt gemein­sa­mes Musi­zie­ren, bei dem jeder mit jedem agier­te, auf­ein­an­der reagier­te und zusam­men eine fes­te Ein­heit bil­de­te. Unab­läs­sig flo­gen die Bli­cke kreuz und quer, ver­ge­wis­ser­ten sich Sän­ger und Cem­ba­list, Gei­ge­rin und Cel­list der Gemein­sam­kei­ten. Über­haupt war hier alles immer in Bewe­gung, kam kei­ner der Musi­ker zum Still­stand. Und das war ein gutes Zei­chen: Denn die­se Rast­lo­sig­keit über­trug sich auf die Musik. So wur­den dann auch eher eph­eme­re Wer­ke wie die Vio­lin­so­na­te von Isa­bel­la Leo­nar­da oder die Cel­lo­so­na­te von Gio­van­ni Bonon­ci­ni zu span­nen­den Aus­flü­gen in die baro­cke Klang­welt. Aber die Höhe­punket lagen woan­ders. Schon die bei­den Psalm­ver­to­nun­gen Bux­te­hu­des lie­ßen das erah­nen: Das wah­re Dra­ma kam in den Ari­en Hän­dels zum Vor­schein. Hier konn­te sich der famo­se Alt­us Yose­meh Adjei voll aus­le­ben. Mit sei­ner leicht­fü­ßig über alle Schwie­rig­kei­ten hin­weg­ei­len­den, klar und pein­lichst genau geführ­ten Stim­me wur­de er Rinal­do oder Cesa­re, koket­tier­te mit der die Vogel­ru­fe imi­tie­ren­den Vio­li­ne, ließ den Zorn brau­sen, den Herz­schmerz seh­nend schluch­zen und die Tugend prei­sen – ohne jede Spur von Zurück­hal­tung ver­leib­te er sich sei­ne Par­tien ein und führ­te gemein­sam mit dem Rest des Quar­tet­tes die Hän­del-Rei­se weit über die tat­säch­li­chen Sta­tio­nen in das unend­li­che Reich der Fan­ta­sie hinaus.

(geschrie­ben für die main­zer rhein-zeitung)

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