Ad Blocking and the Future of the Web — Zeldman on Web & Interaction Design — guter text zur neuen welle des adblockings und den vermutlichen auswirkungen auf das web. leider schneidet er das problem der datensparsamkeit zwar an, verfolgt es aber nicht weiter — dabei ist das doch (auch) eines der wesentlichen momente, adblocker (oder eher: trackingblocker) einzusetzen …
Vorratsdatenspeicherung: Vorratsdaten doch für die Geheimdienste? | ZEIT ONLINE — kai biermann über das neue gesetz zur vorratsdatenspeicherung, dass sich offenbar nahtlos in den murks und unsinn dieser regierung einordnet .…Bug? Oder doch Feature? Im Regierungsentwurf des Gesetzes zu Vorratsdatenspeicherung ist eine gefährliche Lücke #vds
Kommentar — IAA-Besuchertage — WDR 5 — guter kommentar von lioba werrelmann zur iaa, dobrindt (“Der Mann ist nicht nur von gestern, er ist auch auf dem Holzweg.”) und dem Irrsinn Auto …
Soundtrack ǀ Yes. We. Can. — der Freitag — georg seeßlen hat das neue buch “deutschpop, halt’s maul” von frank apunkt schneider gelesen und fasst die darin erläuterte unmöglichkeit des deutchen pop für den “freitag” zusammen
Der Mainstream des Pop in Deutschland, ein paar Blicke auf die Charts belegen es, ist vollkommen nationalisiert. Unter den Top Ten befinden sich aktuell sieben deutschsprachige Alben – darunter Helene Fischers Farbenspiel und Von Liebe, Tod und Freiheit der Volksmusikerband Santiano – sowie ein Sampler von Xavier Naidoos Show Sing meinen Song. Eine Flucht in die Sphären des „ausländischen“ Pop ist nicht mehr so ohne Weiteres möglich; die einzige Ausweichmöglichkeit scheint ein musikalisches Nerd-Tum mit immer neuen und weiteren Verzweigungen.
Dorothee Oberlinger: Töne mit eigenem Atem | ZEIT ONLINE — wolfram goertz hat in der “zeit” ein schönes porträt der blockflötistin dorothee oberlinger — und ihres instrumentes — geschrieben. sehr lesenswert, sehr überzeugend (vor allem, wenn man weiß, dass er in seinem lob der musikerin überhaupt nicht übertreibt …)
All of Bach — Sehr cooles Projekt der Niederländischen Bachgesellschaft: Jeden Freitag wird hier online eine Video mit der Einspielung eines Werkes von Bach veröffentlicht — bis sie alle 1080 Kompositionen geschafft haben. Was bisher da ist, sieht sehr gut aus und klingt auch so. Für so etwas wurde das Internet erfunden ;-)
Vintage Alps — Vintage Alps — Alpen und Berglandschaften im Wandel der Zeit. Idyllische Zeitdokumente und Impressionen aus vorwiegend privaten Quellen, zusammengestellt von Michael Martinek, Daniela Horvath und Wolfgang Weihs.
Jonathan Safran Foer: Tree of Codes. London: Visual Edition 2011. 139 Seiten.
Die Idee hinter Tree of Codes ist ausgesprochen cool: Foer nahm einen vorhandenen Text — nämlich The Street of Crocodiles von Bruno Schulz — und schneidet einfach weg, was ihm im Weg ist oder nicht gefällt. Das Ergebnis, ein Cut-up sozusagen, ist dann ein neuer Text. Der Witz ist nun, dass nicht einfach der neue Text gedruckt wird, sondern der Prozess des Ausschneidens auch im Ergebnis, in Tree of Codes also, noch sichtbar ist. Denn die Seiten sind durchlöchert. Alles, was für neuen Text, die Überschreibung (Palimpsest!) nicht benötigt wird, wird weggeschnitten. Entsprechend löchrig sind die Seiten: Manchmal stehen vom “originalen” Text noch halbe Sätze oder einzelne Wortgruppen, manchmal auf einer halben Seite auch nur ein einzelnes Wort und sonst vor allem Luft, Nichts, die tatsächlich spürbare Abwesenheit des ursprünglichen/vorhandenen Textes. Das macht die Fragilität des Buches als Ding und als Text (Lücken!) ganz neu deutlich.
Man ist außerdem geneigt, dem Text eine gewisse Offenheit zuzusprechen: Durch die Lücken, die Löcher auf den Seiten, im Papier scheint ja immer das noch kommende schon durch, ist also schon präsent — als Wort, als Satzzeichen, als Splitter oder nur als Lücke. Das täuscht aber ziemlich. Auch die Idee des „Satzbildes“ bekommt eine ganz neue Bedeutung: Tatsächlich macht es irgendwie doch einen Unterschied, ob ein Satz mit wenigen Lücken geschnitten ist oder ob ein kleines Gebilde wie „I found myself lost.“ (80/81) sich über anderthalb Seiten — mit ensprechend viel Luft — erstreckt: Das Gewicht wird ein anderes (eher reziprok aber …)
Leere und Abwesenheiten spielen aber auch inhaltlich eine gewisse Rolle (oder meine Perspektive ist durch die Form verschoben). Der stehengebliebene Text ist dabei manchmal etwas schräg (wie die verrutschenden, absinkenden Häuser …), einen Tick surreal oder expressionistisch (in der Darstellung der Stadt). Auflösungserscheinungen, das Verschwinden, Verblassen und Verwandeln von Personen und Dingen spielen hier eine bedeutende Rolle.
The tree of codes was better than a paper imitation. (96)
Wolfgang Hilbig: Eine Übertragung. Frankfurt am Main: Fischer 2011 (Werke 4). 427 Seiten.
Eine Übertragung ist Hilbigs erster Roman und trotzdem gleich ein „echter“ und typischer Hilbig: Das Problem des Ichs wird hier durchdekliniert, insbesondere die Frage nach der Identität eines Schriftstellers. Die Identität der Hauptfigur, eines schriftstellernden Heizers (oder als Heizer arbeitenden Schriftstellers, das hängt von Stand- und Zeitpunkt ab), steht dabei nicht nur unter innerem Druck und Rechtfertigungszwang, sondern gerade auch unter äußerem Zwang, der sich in den staatlichen Repressalien der DDR-Institutionen (geheimdienstlich/polizeilich) äußert — was natürlich zusammenhängt und sich gegenseitig verstärkt.
Die ganze Übertragung ist deshalb eine Art “Selbstvernehmung”, in dem die erzählende Hauptfigur versucht, diesem Problem — also: Wer ist dieses Ich? Kann ich meinen Erinnerungen trauen? Und meinen Wahrnehmungen? — auf den Grund zu gehen. Der dabei reichhaltig konsumierte Alkohol hilft nicht unbedingt, Klarheit zu verschaffen. Nebenbei gibt es noch ein weiteres Problem, das der Untersuchung bedarf: Die Liebe — als Problem in einer Gesellschaft der Angst/Sicherheit/Unterdrückung). Das ist in Hilbigs typischer mächtiger, harter Sprache manchmal anstrengend, über die lange Strecke durchzuhalten. Aber es ist in seiner körperlichen Wucht eben auch immer wieder großartig und bereitet mir ausgesprochen großes Vergnügen …
Es war da ein Text, der auf seinen Verfasser wartete, aber andauernd griff das Leben ein und hinderte den Verfasser, indem es seine eigene Geschichte schrieb … […]. (107)
Luise F. Pusch: Das Deutsche als Männersprache. Aufsätze und Glossen zur feministischen Linguistik. Frankfurt: Suhrkamp 1984. 202 Seiten.
Manches von den hier versammelten, etwas disparaten (linguistischen) Aufsätzen und (journalistischen) sprachkritischen Glossen von Luise Pusch ist inzwischen etwas gealtert — vor allem in dem Sinn, dass man die Entstehungszeit der 1980er erkennt. Das meiste aber ist noch — erschreckend eigentlich — aktuell und gültig sowieso: Pusch zeigt einerseits, wie sehr die deutsche Sprache von patriachalischen Strukturen und Denkmustern geprägt ist und schlägt andererseits vor, wie man das ändern könnte — damit die Nicht-Männer nicht immer nur “mitgemeint” sind. Ihr Hauptvorschlag im titelgebenden Aufsatz ist letztlich so etwas wie eine Entgeschlechtlichung (wie sie z.B. im Englischen weit verbreitet ist): Aus “der Professor” und “die Professorin” wird “der Professor” und “die Professor”. Ihr ist natürlich klar, dass das ein recht radikaler Eingriff in die überlieferte Sprachstruktur ist und deshalb von vorneherein abgelehnt wird (auch wenn das Ergebnis keineswegs unsystematisch im Deuschen wäre). Als “kleine” Alternative bevorzugt sie dann wenigstens die Doppelnennung bzw. deren abgekürzte Form mit Binnen‑I.
Helmut Oehring: Mit anderen Augen. Vom Kind gehörloser Eltern zum Komponisten. Berlin: btb 2011. 256 Seiten.
Oehrings frühe Autobiographie ist als Text bzw. Buch ziemlich seltsam und lebt wohl nur von der schon im Untertitel verkündeten Besonderheit seines Lebensweges — die Lebensgeschichte eines “normalen” (im Sinne der standardisierten Erwartung) Komponisten hätte wohl nicht diesen Verlag gefunden. Ich empfand das textlich vor allem also als recht krude Mischung aus sehr persönlichem Erleben und Künstlerbiographie mit Betonung des Autodidaktentums und der Unwahrscheinlichkeit des Gelingens, dem Hängenbleiben im Dazwischen (zwischen Welten) sowie Erläuterung der Entstehungszusammenhänge und Bedeutung der eigenen Werke. Krude wirkt das vor allem, weil es so chaotisch erzählt ist, ohne erkennbare Abfolge oder Zusammenhänge, in Fetzen fast. Oehring betont dabei auch gerne und wiederholt die von ihm erlebte Wucht der Erfahrung von Neuem, insbesondere von Kunst — also Oper, Musik, Pop und so weiter. Das wird dann aber von ihm immer weider mit sehr allgemeinen Beobachtungen und künstlerischen Arbeiten (vor allem Ausschnitten aus den Texten seiner Kompositionen) gemischt. Und so ekkletizistisch Oehring sich im Hören gibt (von Schönberg bis Depeche Mode reichen ungefähr seine Vorlieben), so uneinheitlich ist auch seine Sprache — oft sehr hölzern, manchmal stilistisch ausgesprochen ungelenk, an anderen Stellen aber auch sprühend vor Begeisterung.
Richard Alewyn, Karl Sälzle: Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Fest in Dokument und Deutung. Hamburg: Rowohlt 1959. 134 Seiten.
Diese klassische Darstellung der Epoche des Barocks als Zeitalter des Festes wartete schon länger auf meine Lektüre. Im ersten Teil bietet Alewyn hier eine übersichtliche Morphologie des barocken Festes, die — so weit ich das überblicke — gelungen auf grundlegende Züge abstrahiert, aber das mit Beispielen reichhaltig demonstriert. Dem schließt er eine nähere Betrachtung der Elemente des Festes im Barock an (die vor allem das Theater ausführlich würdigt) und auch eine Situierung des barocken Festes im Leben & Geselllschaft. Hier spürt man vielleicht am deutlichsten das Alter des Textes. Bei der Abgrenzung zum „Volk“ etwa — davon hat Alewyn kaum einen Begriff, ihn interessieren die offensichtlichen Quellen — und die sind aus adligen Kreisen oder beschreiben zumindest vor allem den Adel. Dementsprechend konzentriert er sich ganz stark auf diese „wichtige“ Schicht — was sich in diesem Untersuchungszusammenhang sachlich ja auch weitgehend rechtfertigen lässt -, der Rest ist allenfalls Staffage.
Der zweite Teil des Taschenbuchs fügt dem dann noch einige Beschreibungen großer Feste des Barocks an, die leider nicht vorwiegend Quellen sind, sondern in der Hauptsache Quellenparaphrasen (was insofern verständlich ist, als die barocken Festbeschreibungen natürlich barock sind — d.h. unseren heutigen Lesegewohnheiten vielleicht ein wenig zu ausführlich …).
Die Geschichte des höfischen Festes, eines der glänzendsten Kapitel abendländischer Kulturgeschichte, wartet umgeschrieben und kaum gesehen der Auferstehung aus den Grüften unserer Archive und graphischen Sammlungen. Es fehlt nicht an der Sammlung und Katalogisierung dieser Schätze, aber es fehlt an jeder geistigen Ordnung und Deutung. (16)
Ein jedes Zeitalter schafft sich ein Gleichnis, durch das es im Bild seine Antwort gibt auf die Frage nach dem Sinn des Lebens und in dem es den Schlüssel ausliefert zu seinem Geheimnis. Die Antwort des Barock lautet: Die Welt ist ein Theater. Großartiger kann man vielleicht von der Welt, aber schwerlich vom Theater denken. Kein Zeitalter hat sich mit dem Theater tiefer eingelassen als das Barock, keines hat es tiefer verstanden. In keinem Stoff aber auch hat das Barock sich völliger offenbart als im Theater. Es hat das Theater zum vollständigen Abbild und zum vollkommenen Sinnbild der Welt gemacht. (48)
Andreas Altmann: Die lichten Lieder der Bäume liegen im Gras und scheinen nur so. Leipzig: Poetenladen 2014. 101 Seiten.
Das Motto stellt gleich wichtige Elemente des sehr faszinierenden Gedichtbandes von Altmann vor:
erinnerungen häuten sich. immer wieder / stellen sie mir ihre körper in die spiegel.
heißt es da: Erinnerungen, Körper, auch die Körperlichkeit der Erinnerung(en) sowie Spiegel und Selbstbetrachtungen durchziehen als Motive viele der Gedichte. Gerade der Aspekt des Zusammenhangs von Erinnerung und Geschichte schlägt sich bei Altmann oft nieder. Das sind konkrete (teilweise sogar sehr konkrete!), streng ökonomisch „erzählte“ Szenen und kleine Geschichten, die mit sparsamen Hinweisen auf ihre geschichtliche Situierung über das eigentlich Erzählte gerne hinausweisen. Dafür reicht manchmal schon ein einzelnes Wort — “Grenzweg” zum Beispiel situiert das Gedicht zeitlich und örtlich an der innerdeutschen Grenze. Trotzdem neigt Altmann dazu, seine Lyrik präsentisch zu präsentierten, als ob sie ohne Zeit wäre: “… aus der zeit fällt. die wunden sind leer.“ heißt es einmal. (11)
Seine konkrete, auf der Ebene der Lexik geradezu alltägliche Sprache verbindet sich zu starken Bildern, die gerade durch ihre Genauigkeit und Schlichtheit wirkmächtig sind. Dabei fühlen sich viele seiner Gedichte, die auch immer wieder die Natur an den Kulturrändern, an den Schnittstellen zwischen menschlichen Artefakten und “reiner” Natur evozieren, sehr menschenleer an, obwohl das “Ich” — allerdings bevorzugt im spiegel — durchaus vorkommt. Prägender sind allerdings die (Natur-)Räume mit Schnee (auch Regen) und ihrem speziellen Licht, die „geschichte im landschaftspark“ (16) oder die „anatomie der erinnerung“ (22).
In den oft stillen, unaufgeregten Gedichten schwingt immer eine gewisse, starke Leichtigkeit mit, eine scheinbare Natürlichkeit der Sprache, wie sie im immer wieder vorkommenden Bild der Feder sich typisch manifestiert. Die Feder ist auch inhaltlich ganz treffend: Als Rest eines Lebenwesens, als Stellvertreter, zugleich aber auch eine Wunde (hinterlassend), dabei sich schwebend fortbewegend (kein eigentliches fliegen …), ziellos, ungesteuert und unregel-/steuerbar, zugleich Teil der Landschaft (der Natur) und der/ihrer Geschöpfe.
… die geräusche in der landschaft / sind blind. ich tast mich an worten durch / die gedächtnisräume. … (26)
Nina Bußmann: Große Ferien. Berlin: Suhrkamp 2012. 200 Seiten.
Bußmanns Roman ist ein schönes, intensives Kammerspiel der Moral. Der Text lebt stark von seiner geschickten Informationsvergabe, der allmählichen, immer wieder durch Abschweifungen, Ablenkungen und Sprünge unterbrochenen Aufklärung des Lesers — die übrigens bis zum Schluss nicht vollständig geschieht. Aber wie immer gilt ja: Der Prozess ist meistens interessanter als das Ergebenis. Hier geht es um einen älteren Lehrer und sein Verhältnis zu einem begabten Schüler, das zu einem Eklat — dem “Vorfall” — sich steigert und darin aber auch, gemeinsam mit der Sicherheit des Gewissens, der Wahrnehmung (und der Anstellung) des Lehrers, der keinen Vornamen hat, seinen Schluss findet. Entweder ist das ein gewaltiger Klimax, der sich in einer Ohrfeige entlädt — oder eben nicht, weil die Ohrfeige ausbleibt, mit ihr aber eben auch die Orientierung im Leben und der Moral, im Wissen um Gut und Böse, Falsch und Richtig. Und das ist eben das zentrale Scheitern Schramms, der Hauptfigur:
Sie sind Lehrer, Sie müssen die Dinge klären und nicht ein Geheimnis daraus machen. (129)
Bußmann erzählt das in einem sehr schönen, ständig fließenden Wechsel im Hin und Her zwischen der Gegenwart (dem Sorgen um den Garten, die Befreiung der Auffahrt vom Unkraut — wunderbar, wie genau und präzise Bußmann das schildern kann!) und der Vorgeschichte, dem Herantasten an den „Vorfall“. Die genaue Beobachtung und Wahrnehmung der Umgebung (der Umwelt) durch die Augen Schramms spielt eine wesentliche Rolle gerade weil sie in der erzählten Zeit, die brutal verlangsamt erscheint, kontrastiert mit der Ungewissheit in im weitesten Sinne moralischen Frage.
Gefallen hat mir aber auch die Vielfalt der erzählten Aspekte. Eine Rolle spielen unter anderem auch noch das memento mori für die Mutter, der Vater als Problemfigur der Vergangenheit und Vikktor als undurchschaubarer Bruder (der einmal sogar als Terrorist vermutet wird) … Auch stilistisch hat Bußmann mit ihren gestapelten Sätze eine passende Form gefunden: Die Sätze sind einfach nie fertig, nie abgeschlossen, immer wieder gibt es wie nachträglich eingefügte, eingeschobene Ergänzungen, Präzisierungen, Erweiterungen, die als solche eben überdeutlich kenntlich bleiben, was zu einer fragmentierten Syntax, einer permanenten Stockung und Unterbrechung führt (und das Lesen dadurch bewusst verlangsamt …):
Zwanzig Jahre oder länger hatte er dort verbracht, im Hinterland, in einem von allen Verkehrswegen abgeschiedenen Bergdorf, und auch wenn es darum für einen Doktor nie gereicht hatte, war er jedenfalls, entgegen allen Erwartungen, Arzt geworden, ein richtiger, wahrscheinlich nicht einmal ein schlechter Arzt. (145)
Ein sehr kluges, schönes und lesenwertes Buch.
Alexander Schimmelbusch: Die Murau Identität. Berlin: Metrolit 2014. 206 Seiten.
Die Murau Identität (sic, der Autor schreibt das — wohl in Anlehnung an die “Bourne Identity” — ohne notwendigen Bindestrich) ist leider doch ein ziemlich langweiliges Buch. Hinter der “Murau-Identität” verbirgt sich ein untoter Thomas Bernhard, der einfach weiter lebt (warum, wird nicht so recht klar), was wir aus “Reiseberichten” seines Verlegers, die dem Erzähler zugespielt werden, erfahren. Das ist natürlich eine Stilkopie Thomas Bernhards, auch in den Rants, die versuchen, Bernhard zu imitieren — aber leider nur eine mäßige, in der Regel bleibt es flach, niveaulos und vor allem völlig banal. Wahrscheinlich ist das Bernhard-Imitat immer nur bein ersten Mal überhaupt interessant … Manchmal blitzt immerhin etwas Witz (und ganz selten auch Esprit) hindurch, einige schöne Absurditäten hat zusammen mit viel Leerlauf auch eingestreut. Irgendwie scheint mir das Ziel eine Mischung aus gewesen zu sein. Leider bleibt der Text aber eine bloß notdürftige zusammengestoppelte Rahmenhandlung für die fünf Berichte des „Verlegers“ zum Untoten Thomas Bernhard (und seinem Romanprojekt Ànima Negra über die positiven Seiten der Ehe & Familie) — viel mehr als diese Idee ist in den 200 Seiten einfach nicht drin.
Das erste Trauerspiel / das ihm Verdruß erweckt / Hegt das verhaßte Haus / das man die Schule nennet / Wo Kunst und Tugend ihm ein weites Ziel aussteckt / Wol dem! der hier mit Lust und hurtig darnach rennet! Denn der erreicht es nicht / der ihm zur Zentner-Last Der Weißheit Lehren macht / sie spielende nicht fasst.
— Daniel Caspar von Lohenstein, Sophonisbe (Widmungsvorrede)
Ein kleines Arsenal an Lauten und die bereit liegende Viola da gamba vor dem Altar verraten selbst dem zufälligen Besucher der Seminarkirche, das hier etwas Besonderes stattfindet. Und in der Tat, das vorletzte Konzert des diesjährigen Musiksommers ist noch einmal ein echtes Highlight. Hille Perl, Lee Santana und Dorothee Mields sind mit ihrem „Loves Alchymie“ betitelten Programm in Mainz zu Gast. Die Sammlung verschiedener Lauten, die Lee Santana bereit gelegt hat, ist symptomatisch. Denn keiner der drei gibt sich mit einfachen Lösungen zufrieden. Extensive und intensive Vielfalt ist stattdessen angesagt.
Dabei ist es scheinbar ein ganz eingeschränktes, monothematisches Programm, diese „Loves Alchymie“. Vertonungen der sogenannten metaphysischen Dichtung aus dem barocken England des 17. Jahrhunderts haben sich die drei Musiker ausgesucht. Und die kreisen immer wieder um Liebe und Tod, viel mehr gibt es da nicht. Aber das ist bei anderen Barockdichtern ja ähnlich. Doch schon die Vertonungen brechen aus dieser scheinbaren Einöde aus: Airs, Grounds, Fantasien, Variationen, Lautenlieder von bekannten Komponisten wie John Dowland und Henry Purcell stehen neben solchen von vergessenen Meistern wie John Wilson, Tobias Hume oder John Jenkins. Aber sie alle wenden die Melancholie, die gedrückte Stimmung von Todesnähe und Liebesschmerz (die oft genug zusammen hängen) in erbauliche und unterhaltende Musik – Unterhaltung freilich, die von feinen Differenzierungen lebt. Und dafür sind die drei ohrenscheinlich Spezialisten. Jeder einzelne weiß in der Augustinerkirche zu begeistern – und das Zusammenspiel in nahtloser Harmonie sowieso. Hille Perl fasziniert mit ihrer lebendigen Dynamik, Lee Santana mit feingliedrigem Tiefsinn. Und dann ist da schließlich Dorothee Mields, die dem ganzen Stimme verleiht. Denn die Sopranistin ist nicht nur wunderbar verständlich, sondern auch wunderbar facettenreich, weich und so reich an Klangfarben, dass bei ihr keine zwei Wörter gleich klingen.
Mal nachdenklich und sinnierend, mal intim, dann wieder entrückt und ganz versonnen – kaum eine emotionale Bewegung bleibt bei diesem Trio außen vor. Ganz besonders noch einmal im Schluss, der mit süßer Verzückung eingeläutet wird: „Sweetest Love, I doe not goe“ ist Verführung pur, die mit einer zart-figurativ versponnen Lautenfantasie von Lee Santana zurückhaltend präzise fortgeführt wird und im grandioses Schluss mündet: „The Expiration“, das „Aushauchen“ eines anonymen Komponisten. „So brich doch diesen letzten Kuss ab, der so klagt“, heißt es dort, und die Sängerin schließt mit dem simplen Wörtchen „fort“ — da möchte man wirklich geradewegs mit ihr gehen, das muss der Weg ins Paradies sein, so rein und verführerisch singt Mields das über der Begleitung von Santana und Perl. Stattdessen zwingt der stürmische Applaus aber alle wieder gnadenlos zurück in die Welt und den Alltag.
Eigentlich schon ein Vorgriff auf morgen (aber am “richtigen” Tag kann man ja nicht all die tollen Passions-Musiken hören …) — Gottfried Heinrich Stölzels “Brockes-Passion”:
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Nein, viel Spaß verstehen diese vier nicht. Dafür ist ihnen die Sache viel zu ernst. Schließlich geht es um große Musik. Und das erfordert nicht nur Ernst, sondern auch volle Hingabe. Eines wird nämlich schnell klar in der St. Antoniuskapelle: Für „La Beata Olanda“ gibt es keine halben Wege. Alles oder Nichts heißt die Devise für das Spezialistenensemble – trotz des Namens übrigens eine ziemlich deutsche Sache. Und das heißt wiederum: Sie geben alles. Denn Scheitern steht nicht auf dem Programm. Dafür aber eine kleine Rundreise durch den deutschen und österreichischen Barock – mit deutlichem Schwerpunkt auf dem Alpenland. Sowohl Bach als auch Händel, beide mit einer Violinsonate vertreten, werden da eher zur Nebensache. Viel spannender und viel vitaler auch gelingt dem Quartett die Auswahl aus den Sonaten von Johann Heinrich Schmelzer und Heinrich Ignaz Franz von Biber. Die können beide ein reiches Oeuvre vorweisen – nicht nur quantitativ. Und vor allem für Violinisten. Schmelzer, Hofkapellmeister im Wien Kaiser Leopolds, war als Komponist genauso angesehen wie als Violinist. Und für den Salzburger Hofmusikus Biber gilt nur zwanzig Jahre später das gleiche: Gefeierter Tonsetzer und europaweit berühmter Virtuose auf der Geige. Entsprechend anspruchsvoll sind viele seiner Sonaten. Für Claudia Hoffmann scheint die technische Herausforderung aber nicht besonders hoch zu sein. Fast gelassen und ohne Furcht wählen sie und ihre Mitstreiter forsche Tempi, forcieren die Kontraste zwischen ruhigen Abschnitten und wild-brausenden Passagen noch zusätzlich. Ihre technischen Fähigkeiten stellen sie dabei genauso wenig heraus wie sich selbst. Egal ob in Schmelzer Duosonaten für Diskantgambe und Violine (aus der Sammlung „Duodena selectarum sonatarum“) oder seiner dritten Sonate aus den großen „Sonatae unarum fidium“, ganz gleich ob in Tanzsätzen oder Ostinati – immer macht „La Beata Olanda“ das Material zu absoluter, ganz und gar reiner Musik. Da wird dann auch nichts mehr historisiert – das Wissen um die zeitgenössische Aufführungspraxis ist auch nur noch ein Mittel, dieser Musik zu ihrer vollständigen, unparteiischen Materialisierung zu verhelfen. Und das funktioniert blendend. Vielleicht auch deshalb, weil der kleine Raum der St. Antoniuskapelle das gut unterstützt: Mitten im musikalischen Geschehen wähnt man sich als Publikum, so direkt und unmittelbar umfangen einen die reichhaltigen Klänge. Und direkt ist schließlich auch der Zugriff des Ensembles: Mit voller Kraft werfen sie sich etwa in die Kontraste und Spannungen der Sonaten. Da gibt es keine Beschönigungen, aber auch keine übertriebenen Dramatisierungen, sondern einfach nur Musik – mal entspannend, mal spannungsgeladener als jeder Krimi. Und wenn sie dann das Konzert mit Bibers c‑Moll-Sonate enden lassen, zeigen sie nicht nur großen Mut, sondern auch unbarmherzige Härte: So ein Cliffhanger ist ziemlich gemein. Aber auch ganz schön gut.
(konzert des mainzer musiksommers, geschrieben für die mainzer rhein-zeitung)
Der arme Steven Devine. Der Cembalist muss am Schluss einen ziemlich steifen Hals gehabt haben. Denn mehr als in seine Noten blickte er beim Konzert in der Augustinerkirche zu seinen Ensemblekollegen von London Baroque. Und dafür musste er ständig schrägt über seine rechte Schulter schauen. Die Verrenkungen haben sich aber gelohnt. Zumindest für das Publikum, das so Erstklassiges zu hören bekam.
Die permanente visuelle Kommunikation des Quartetts, die nicht nur vom Cembalo ausging, sondern den Gambisten Charles Medlam genauso einbezog wie die beiden Geigerinnen Ingrid Seifert und Hannah Medlam, diese ständige gegenseitige Kontrolle und Vergewisserung der Gemeinsamkeiten führt zu einem starken, wunderbar konzentrierten Klangbild. Die Erfahrung aus über dreißig Jahren gemeinsamen Musizierens hilft da natürlich auch noch. Jedenfalls gab es einiges zu sehen: Nicht nur aufmerksame, hellwache und kommunikative Musiker, deren Blicke sich öfter kreuzten als ihre Melodien, sondern auch ganz viel Bewegung: Da tanzten die Bögen munter über die Saiten und die Finger wirbelten die Griffbretter hoch und runter – Langeweile hatte keine Chance in der Augustinerkirche.
Nur der Bach-Notenband auf dem Pult vor Devine blieb stummes, unbewegliches Requisit – ganz der englischen Musik hatten die Londoner sich gewidmet. Natürlich, würde man sagen, wüsste man nicht, dass die Londoner auch ganz ausgezeichnet deutsche und italienische Barockmusik spielen können. Aber davon gab es dieses Mal nur in der Zugabe eine klitzekleine Kostprobe.
Englische Musik des 17. Jahrhundert also – das ist vieles, was kaum noch jemand wirklich kennt: Kammermusik von Komponisten wie John Jenkins, Christopher Simpson, William Lawes oder Matthew Locke ist heute nicht mehr sehr verbreitet. Zu ihrer Zeit waren das in und um London aber alles ausgewiesene, geschätzte Meister. Die Formen reichen von empfindsamen Tanzsätzen – großartig etwa das Cembalosolo „A sad Pavan for these distracted times“, in der Thomas Tomkins die Wirren nach der Hinrichtung des Königs Charles in eine für das 17. Jahrhundert extrem emotionale Musik fasst – bis zur typischen englischen Gattung der Grounds. Von diesen freien Variationen über ein wiederholtes Bassthema hatte das Ensemble einige dabei, etwa Christopher Simpsons “Ground Divisions“, die dem Gambisten Charles Medlam viel Möglichkeiten gab, nicht nur seine Fingerfertigkeit, sondern auch seinen Einfallsreichtum vorzuführen.
Die abschließende Händel-Sonate – in England gilt George Frederic Handel ja genauso selbstverständlich als Engländer wie hier als Deutscher – allerdings war dann nicht mehr ganz so typisch englisch. Aber London Baroque ist kosmpolitisch genug, auch das zu meistern: Mit ihrer typischen Einfühlungskraft und der wunderbar wachsamen, reaktionsfreudigen Gemeinsamkeit ihres energischen Spiels machten sie sich Händel genauso zu eigen wie den Rest des Programms.
Georg Friedrich Händel, der große Jubilar dieses Jahres, ist schon in jungen Jahren weit herumgekommen in Europa. Und er hat sich von vielem, was er dabei gehört hat, inspiereren lassen. Manchmal auch etwas mehr – das „Ausleihen“ gelungener Melodien beispielsweise war zu seinen Zeiten noch keineswegs so verpönt wie heute. Wer sich also ein bisschen intensiver mit Händels Musik beschäftigt, muss sich auch mit ganz viel anderen Werken befassen. Zum Beispiel mit Musik von Dietrich Buxtehude, dem Händel in Lübeck einen Besuch abstattete. Oder mit Johann Heinrich Schmelzer, der in Wien Karriere machte. Und natürlich auch mit Händels Rivalen in London, Giovanni Bononcini. Die Villa Musica hat all das in ein schönes Programm mit dem Telemann-Quartett gepackt und im Erthaler Hof auch einen sehr passenden Saal für diese vielfältige, filigrane und dramatische Musik gefunden. Die Hitze dort hat das Publikum gerne ausgehalten, denn die vier Spezialisten des Telemann-Quartetts boten zwar nicht unbedingt große Überraschungen, aber hohe bis höchste Qualität. Und zwar in allen Dimensionen. Das Fundament legte, das ist bei barocker Musik unverzichtbar, der Generalbass. Florian Heyerick am Cembalo und Rainer Zipperling mit Gambe und Cello begnügten sich aber nicht mit dem Hintergrund. Mit viel Fantasie, mit Präzision und spannungsgeladenen Linien machten sie sich zu einem unverzichtbaren, elementaren Teil der Musik. Und was diese beiden auszeichnete, galt auch für die Geigerin Swantje Hoffmann und den Altisten Yosemeh Adjei: Genauigkeit in allen Situationen und Hingabe an die Ausdrucksvielfalt und die Kraft der Musik. Dazu kam dann noch ein reibungsloses Miteinander, ein echt gemeinsames Musizieren, bei dem jeder mit jedem agierte, aufeinander reagierte und zusammen eine feste Einheit bildete. Unablässig flogen die Blicke kreuz und quer, vergewisserten sich Sänger und Cembalist, Geigerin und Cellist der Gemeinsamkeiten. Überhaupt war hier alles immer in Bewegung, kam keiner der Musiker zum Stillstand. Und das war ein gutes Zeichen: Denn diese Rastlosigkeit übertrug sich auf die Musik. So wurden dann auch eher ephemere Werke wie die Violinsonate von Isabella Leonarda oder die Cellosonate von Giovanni Bononcini zu spannenden Ausflügen in die barocke Klangwelt. Aber die Höhepunket lagen woanders. Schon die beiden Psalmvertonungen Buxtehudes ließen das erahnen: Das wahre Drama kam in den Arien Händels zum Vorschein. Hier konnte sich der famose Altus Yosemeh Adjei voll ausleben. Mit seiner leichtfüßig über alle Schwierigkeiten hinwegeilenden, klar und peinlichst genau geführten Stimme wurde er Rinaldo oder Cesare, kokettierte mit der die Vogelrufe imitierenden Violine, ließ den Zorn brausen, den Herzschmerz sehnend schluchzen und die Tugend preisen – ohne jede Spur von Zurückhaltung verleibte er sich seine Partien ein und führte gemeinsam mit dem Rest des Quartettes die Händel-Reise weit über die tatsächlichen Stationen in das unendliche Reich der Fantasie hinaus.