Nichts ist so egal wie etwas, das neben Goethe und Schiller steht. Niemand besucht es. —Clemens J. Setz, Bot, 38
Jahr: 2019 Seite 1 von 2
The past is fragile, as fragile as bones grown brittle with age, as fragile as ghosts seen in windows or the dreams that fall apart upon waking and leave nothing behind them but a feeling of unease or distress or, more rarely, a kind of eerie satisfaction.
—Siri Hustvedt, Memories of the Future, 13
quodque parum novit, nemo docere potest
[Niemand kann lehren, was er wenig versteht.]Ovid, Tristia, 2,348
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- Schönes Bayern: Mähroboter und Misthaufen | taz → eine schöne kolumne von georg seeßlen über das schöne bayern
- Arno Schmidt, Hans Wollschläger: Bargfelder Ausgabe. Briefe von und an Arno Schmidt – Band 4: Der Briefwechsel mit Hans Wollschläger (Erster Teil) | getidan → eine als rezension des briefwechsels zwischen arno schmidt und hans wollenschläger getarnte nacherzählung der beschäftigung der beiden literaten mit dem werk karl mays von wenzel storch, der zweite teil hier: klick
- Serialize it!| jungle world → noch einmal georg seeßlen, dieses mal mit einem rundumschlag zu den (neuen) serien udn ihren eroflgen, ihren mthoden, varianten und bedingungen, aber auch ihrer (echten oder vermeintlichen) neuartigkeit
Die Sphären des Geschmacks driften auseinander, aber zugleich differenzieren sich auch die Märkte aus. […] Und auf der anderen Seite wird deutlich, wie sehr die Phase der Innovationen in eine Phase des medialen Kannibalismus übergeht. […] Nicht mehr Neuland soll betreten werden, sondern das Feld der populären Kultur wird abgegrast. Dann muss das Spiel wohl wieder neu beginnen.
- „Wir sind nicht eure Diener“ | Tagesspiegel → sehr schönes, informatives, interessantes interview mit einer kinderkrankenschwester über ihren beruf und ihre patient*innen
Schon der Untertitel zeigt die Ambivalenz des Buches: Ist das ein Journal oder sind es Geschichten? Man muss das wohl wirklich zusammendenken: Das ist kein Tagebuch, also schon Fiktion. Aber es simuliert das tägliche Schreiben: Der Erzähler nimmt sich ein Notizbuch mit 200 Seiten vor und beschreibt jeden Tag eine Seite mehr oder weniger voll. Vielleicht hat Becker das auch so gemacht — aber das ist ja auch egal. Schade ist nur, dass der Verlag die Idee, die 200 Seiten eines Journale fiktional zu beschreiben (des Erzählers), nicht im realen Buch abbilden wollte — das wäre doch eine schöne Performanz des Textes gewesen, der sein Organisationsprinzip ja immerhin selbst erläutert. Dafür sind die Journalgeschichten aber immerhin ohne Seitenzahlen gedruckt.
Man erlebt, seufzt der Mensch, das Wetter gar nicht mehr, wie es kommt, wie es ist, wie es geht. Man erlebt nur noch, wie es eine Prophezeiung erfüllt. (150)
Der Text ist eine Mischung aus grundsätzlichen Reflexionen, leicht und fast nebenbei, als Zufall und Fundstücke etc präsentiert, mit den Erinnerungen und vielfältigen Erinnerungsanlässen eines alt(ernd)en Mannes, die immer wieder vom Einbruch der “Realität” der Schreibgegenwart, zum Beispiel den wiederholt auftauchenden “Gästen”, unterbrochen werden. Vieles sind “nette”, freundliche, zugewandte Tagebuchskizzen mit viel untergemischter (persönlicher) “Vergangenheitsbewältigung”, auch viel Hitler & Co. Das ist dann — nicht nur hin und wieder — schon etwas sentimental, aber dank der Wortkunst Beckers noch auszuhalten. Dennoch ist mir das insgesamt etwas zu belanglos, das plätschert zu ziellos vor sich hin. Die sympathische kurze/kleine Form wird für meinen Geschmack nicht ausreichend für die poetische Verdichtung genutzt, deshalb wirkt vieles doch etwas blass und bleibt ohne tiefere Wirkung für mich.
In diesem Jahr könnte es soweit sein. Im vergangenen Jahr hätte es auch soweit sein können, ebenso im Jahr davor, oder vor zwei, drei, vor zehn Jahren schon. Vielleicht ist es erst im nächsten Jahr soweit, oder im übernächsten; dabei müssen es nicht einmal Jahre, es können auch kürzere Fristen sein, Wochen, Tage, Stunden, wer weiß. Ganz sicher ist, irgendwann ist es soweit, ob plötzlich, oder ob es sich hinzieht. (16)
Aber, und das ist halt ein großes Aber: Literarisch taugt das nicht, weder formal noch stilistisch trägt das irgendwie. Ästhetisch ist das belanglos (so wie der Inhalt der Geschichte ja auch eigentlich eher belanglos bleibt). Das funktioniert als nette — und recht flache — Unterhaltung, als eine unkomplizierte, anspruchslose Lektüre für zwischendurch, mit dem einen oder anderen Lacher. Die Süddeutsche hat das in ihrer Rezension als “Privatfernsehliteratur” bezeichnet (behauptet der Perlentaucher) — und das trifft es ziemlich genau: Mit und vor allem über die vermurksten Leben der anderen lachen, sich selbst dabei wohlig überheblich und sicher fühlen — viel mehr will und kann dieser Text nicht.
Ich weiß ja wieder einmal nicht so recht: Von der Kritik recht einhellig sehr positiv bewertet und besprochen, finde ich das Buch dann doch eher belanglos. Ja, die fünf Lebensläufe der Frauen, die lose miteinander verknüpft diesen Roman bzw. dessen fünf Abschnitte bilden, sind interessant zu verfolgen (auch gerade als männlicher Leser wahrscheinlich). Aber das bleibt im Erzählen wieder so schrecklich banal und gewöhnlich. Vielleicht sind solche Bücher, gerade in ihrer Stillosigkeit (oder zumindest in ihrem neutralen, unauffälligen Stil) notwendig — aber packen oder gar begeistern kann mich das nicht.
Das mag auch daran liegen, dass mir das arg pessimistisch grundiert zu sein scheint: Änderungen, Entwicklungen der Protagonistinnen zum Beispiel, scheinen hier kaum bis gar nicht möglich. Ansätze dazu gibt es, die werden aber gerne und immer wieder von der Außenwelt, von den anderen, von Männern und Kindern und anderen Verwandten vor allem, vernichtet und zerschmettert.
Sie weiß mehr als damals, doch was nützt es ihr? (125)
Interessant übrigens, das nur am Rande, dass alle Frauen auffällig viel Musik — und zwar in erster Linie klassische Musik — hören. Das wäre wahrscheinlich einen genaueren Blick wert. Beim ersten Lesen scheint mir das aber, gerade im Zusammenhang mit den erzählten Lebensläufen und deren Problemen, nicht besonders ergiebig. Aufgefallen ist es mir vor allem, weil es mir zumindest zu einem Teil der Figuren nicht so recht zu passen scheint. Aber typisch für Die Liebe im Ernstfall ist, dass auch dies — wie nahezu alle äußere Handlung (abseits von der Gefühlsinnenwelt der Protagonistinnen) nur Nebensache ist, nur so anbei geschieht. “Sätze ohne Spannung, ohne Klang, ohne Zauber” beschreibt eine der Protagonistinnen, die als Schriftstellerin arbeitet oder zu arbeiten versucht, wenn die Kinder ihr Zeit und Energie lassen, einmal ihre Tagesproduktion (125). Und das trifft auch Die Liebe im Ernstfall ziemlich genau.
außerdem gelesen:
- Moritz Föllmer: “Ein Leben wie im Traum”. Kultur im Dritten Reich. München Beck 2016. 288 Seiten. ISBN 978–3‑406–67905‑6.
- Jan Philipp Reemtsma: Gewalt als Lebensform. Zwei Reden. Stuttgart: Reclam 2016. 64 Seiten. ISBN 9783150193822.
- Heinz Gärtner: Der Kalte Krieg. Bündnisse — Krisen — Konflikte. Wiesbaden: marix 2017. 254 Seiten. ISBN 9783737410335.
- Hans Eisenträger: Der Mann seiner Frau. Novelle. Hrsg. von Nikola Roßbach. Hannover: Wehrhahn 2018. 68 Seiten. ISBN 978–3‑86525–641‑6.
Müsset im Naturbetrachten
Immer eins wie alles achten;
Nichts ist drinnen, nichts ist draußen:
Denn was innen ist das ist außen.
So ergreifet ohne Säumnis
Heilig öffentlich Geheimnis
—
Freuet euch des wahren Scheins,
Euch des ernsten Spieles:
Kein Lebendiges ist ein Eins,
Immer ist’s ein Vieles.Johann Wolfgang von Goethe, Epirrhema (aus: Sammlung von 1827, Abschnitt “Gott und Welt”)
Ich probiere mal wieder etwas Neues … Da ich meine Meldungen “Aus-Lese” mit einer kurzen subjektiven Skizze der jeweiligen Lektüre und meines Eindruckes dazu versehen habe, bedeutet das einen (zwar kleinen) gewissen Aufwand, der mich in der letzten Zeit weitgehend davon abgehalten hat, die Serie fortzuführen. Also gibt es jetzt einen neuen Versuch im deutlich reduzierten Format …
Der schmale Band mit Erzählungen — überwiegend aus den 1950er und 1960er Jahren — hat es nicht geschafft, meine respektvolle Distanz zu Doderer zu verringern. Ich erkenne (und schätze) die Kunstfertigkeit und das Stilbewusstsein des Autors, aber davon abgesehen bleiben mir die Texte (das ging mir mit seinen Romanen ähnlich) eher fremd.
Eine nette kurze Feierabendlektüre, die den Menschen Marcus Tullius Cicero flott, unterhaltsam, auch pointiert porträtiert. Dabei klingt das große (selbstverständliche) Fachwissen der römischen Geschichte immer mit. Mir fehlt allerdings etwas die genauere und ausführlichere Beschäftigung mit den Inhalten von Ciceros Werken. Der Band bleibt (absichtlich) weitgehend (nicht nur, aber doch überwiegend) am Äußeren von Ciceros Leben. — Natürlich wäre das auch viel verlangt, beides auf 100 Seiten zufriedenstellend zu erledigen, das ist mir durchaus bewusst. Für meinen Geschmack hätte eine zumindest teilweise Verschiebung des Fokus aber dennoch gut getan.
Ein faszinierender Text. Ich könnte aber nur schwer genau sagen, was das eigentlich ist — und worauf der Text hinaus will. Auf der Suche nach so etwas wie einer geistigen Signatur der BRD liest Poppenberg Autoren und ihre Rückblicke auf die letzten Jahrzehnte. So kommen Philipp Felsch, Frank Witzel, Ulrich Raulff und Friedrich Kittler gemeinsam in den Blick, werden genau (!) gelesen und mit durchaus sujektive gefärbten Darstellungen und Erinnerungen kombiniert. Das klingt jetzt viel seltsamer als es im Text ist. Der ist nämlich durchaus faszinierend und gelehrt — eine überaus anregende Mischung und auch eine anregende Lektüre.
Roman oder autobiographische Erzählung — eigentlich ist das ja egal. Was es auf jeden Fall ist: Eine — angesichts des Sujets — erstaunlich leichte und leichtfüßige Erzählung der jüdischen Familie Senger vor und während des Nationalsozialismus. Das einzigartige daran ist, das merkt der Erzähler auch selbst, wie wundervoll das gelingt: Ein Wunder ist das Überleben, ein Wunder ohne Staunen. Natürlich gibt es, ganz klassisch, Schwierigkeiten zu überwinden. Aber um Ende siegt doch die Leichtigkeit, das Leben, die fast unverschämte Unvernunft und Unbesorgtheit des Erzählers und seiner Familie. Das ganze ist sehr direkt, unmittelbar erzählt — ein Text, dem man sich kaum entziehen kann (und es ja eigentlich auch nicht möchte). Die meistenteils knappen Kapitel, fast Erinnerungsbruchstücke (vor allem im ersten Teil, der frühen Kindheit des Erzählers) machen dne Text auch gut zugänglich und konsumierbar — sicherlich auch ein Faktor, der zum Erfolg des Buches, das seit 1978 in mehreren Auflagen und Ausgaben (und Verlagen) erschienen ist.
Der Titel kündigt eigentlich eher eine Streitschrift an: “Wider die Rückkehr des Nationalismus”. Das kann der Band aber kaum einlösen. Was er aber kann, und das durchaus recht gut und überzeugend: Hintergründe für Entwicklungen geben. Die Autor*innen bieten nämlich eine Rückschau auf die deutsche Geschichte seit 1945, in West und Ost, mit dem Fokus auf die diversen rechten, nationalistischen Strömungen, Diskussionen und Parteien, von der Entnazifizierung bis in die ungefähre Gegenwart. Das ist als Einordnung und Argumentationshilfe gut gemacht und gut zu nutzen. Die gesamtdeutsche Perspektive ist dabei durchaus hilfreich — unsicher bin ich allerdings, ob Bücher wie diese ihr Ziel wirklich erreichen können …
Ins Netz gegangen am 9.5.:
- Wie kann ich als Mann Feminist sein? | Spiegel → Margarete Stokowski bringt es mal wieder einfach und genau auf den Punkt.
- Das nationale Superzeichen| FAZ → der historiker valentin groebner ordnet den brand an notre-dame de paris und seine mediale und emotionale aus- & verwertung sehr gut ein
- Was Hans-Werner Sinn bei seiner Elektroauto-Studie übersehen hat | WirtschaftsWoche → stefan hajek zeigt, welche — zum teil sehr einfachen — tricks hans-werner sinn benutzt, um zu den von ihm gewünschten ergebnis zu kommen
- «Wir bekommen Twitter-Gehirne» | NZZ → trotz der arg plakativen überschrift, die das arg in eine (von der NZZ natürlich zu erwartende) richtung schiebt, ein interessantes, abwägendes, kluges interview mit der lese-forschering maryanne wolf
- We need to talk about East African runners and general trust vs skepticism in performances | The Science of Sport → ross tucker hat zweifel, dass die dominanz kenianischer langstreckenläufer ganz mit rechten dingen zugeht — und begründet die hier recht einleuchtend, nicht mit dopingtests, aber mit bestimmten mustern im verhalten
immer stärkere lesergehirne bedrohen die wirkkraft der dichtung.—Ulf Stolterfoht, fachsprachen XXIV, dogma für dichtung, 2005
Denn einen Schlusspunkt für ein Konzert setzen sie alle auf ganz verschiedene Weise: „Auf uns“ als groovig-poppige Soulballade, die Gerlitz‘ Fähigkeit als Arrangeur effektvoller Chormusik besonders deutlich zeigt, „Das Publikum war heute wieder wundervoll“ als schnell einstudierte und schnell gesungene, unkomplizierte Miniatur, die schon als Abspannmusik bei Bugs Bunny gut funktioniert hat. Es geht aber auch romantischer, mit dem von Brahms entlehnten „Guten Abend, gute Nacht“, dem sanft und sehr fein ausgearbeiteten „Der Mond ist aufgegangen“ oder auch mit dem Abschiedslied der Comedian Harmonists, „Auf Wiedersehn, my Dear“, das Gerlitz sehr nah an deren Klang und Arrangement setzt. Und damit auch wirklich jeder gemischter Chor hier etwas findet, gibt es noch eine unkompliziert swingende, ja, fast harmlose „Sentimental Journey“ dazu. Und wenn man den schmalen Band so durchblättert, trifft die Warnung des Vorworts vielleicht doch zu: Zu viel Feuerwerk ermüdet. Dafür reichen diese sechs Sätze aber nicht aus – schon allein deshalb nicht, weil sie so ganz und gar unterschiedlich sind.
Und wer noch nicht weiß, wie er sein Publikum dazu bringt, Zugaben zu fordern, kann sich zweier anderer kürzlich erschiener Arrangements von Carsten Gerlitz bedienen – die sind jetzt aber nicht mehr für jeden Chor und jeden Geschmack geeignet. Denn mit ABBAs „Dancing Queen“ und „In My Life“ von den Beatles legt der versierte Arrangeur zwei Sätze vor, die sehr genau und gut in die neue Reihe Pop-Choir-Classics passen.Nah am Original empfehlen sie sich vor allem für im Pop schon vertraute und geübte Chöre – beide setzen auch ein fünfstimmiges, rhythmisch sicheres Ensemble voraus. Mit wenigen, oft nur punktuellen Änderungen, geschickter Stimmverteilung und dramaturgischem Gespür wird aus bloßen a-cappella-Coverversionen bei Gerlitz ein Hit fürs nächste Konzert. Dabei arbeitet er sehr ökonomisch mit Einfällen: Seine Arrangements sprühen nicht vor Ideen, sind aber stets wirkungsvoll gearbeitet. Nicht zuletzt liegt das auch an den Originalen: Das sind eben echte Klassiker, die Kraft und Inspiration genug haben – die Reihe trägt den Titel „Pop-Choir-Classics“ schließlich nicht umsonst.Carsten Gerlitz: Da Capo! Zugabestücke in peppigen Arrangements für gemischten Chor. Mainz: Schott 2015 (ED 20577).
Carsten Gerlitz: Beatles, In My Life. (Pop-Choir-Classics) Berlin: Bosworth 2015 (BOE7741).
Carsten Gerlitz: ABBA, Dancing Queen. (Pop-Choir-Classics) Berlin: Bosworth 2015 (BOE7742).
(Zuerst erschienen in „Chorzeit – Das Vokalmagazin“)