Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Aus-Lese #34

Joachim Lottmann: Endlich Kokain. Köln: Kiepen­heuer & Witsch 2014. 195 Seit­en (ebook)

lottmann, endlich kokainFünf Kapi­tel zwis­chen Wien und Berlin, in denen Lottmann seinen Pro­tag­o­nis­ten die Euphorie des Rauschgifts und (weniger stark aus­geprägt) den Absturz des Entzugs anhand der als über­all ver­füg­bare und über­all genutzen Mod­e­droge Kokain (der Titel macht ja kein Geheim­nis daraus) erfahren lässt. Dabei ste­ht aber nicht der Rausch im Mit­telpunkt (und am Ziel des Dro­genkon­sums), son­dern die “Neben­ef­fek­te”: Das Abnehmen, das geän­derte Sozialver­hal­ten, die anders er- und aus­gelebte Sex­u­al­ität — und das Geld. Die dur­chaus komis­chen und amüsan­ten Schilderun­gen der Erleb­nisse, die dem Helden auf dieser, nun ja, Irrfahrt begeg­nen, ergänzt Lottmann etwas moti­va­tion­s­los (und für den Text auch aus­ge­prochen fol­gen­los) sowie nicht sehr geschickt mit dem “Wis­senschaftlichen Tage­buch” des Pro­tag­o­nis­ten, dessen Ein­tra­gun­gen ganz stereo­typ mit “Liebes wis­senschaftlich­es Tage­buch,” begin­nen, die vom Erzäh­ler brav zitiert wer­den und vor allem durch ihre unglaub­würdi­ge Naiv­ität auf­fall­en. Anson­sten besticht der het­erodiegetis­che Erzäh­ler vor allem durch sein entspan­ntes, leicht dis­tanziertes Plaud­ern, das mit Sym­pa­thie für seine Haupt­fig­ur Stephan Braumer erzählt, dabei dessen Neugi­er und auch Befrem­den angesichts der „Per­ver­sio­nen“ der anderen teilend. Endlich Kokain ist aber nicht nur ein Dro­gen­ro­man — das wäre Lottmann wohl zu wenig. Zugle­ich will der Text auch noch eine Kun­st­be­trieb­ssatire sein. Das klappt so halb­wegs, ver­sandet aber in der net­ten Harm­losigkeit. Und auch eine Anti-Entwick­lungsro­man (allerd­ings mit ver­söhn­lichem Hap­py-Ende soll das noch sein. Da aber über­haupt alles nett und flock­ig bleibt, nir­gends hart (auch sprach­lich nicht), klappt das, was über den unter­halt­samen Bericht der täp­pis­chen Unternehmungen Braumers hin­aus­ge­ht, auch nur sel­ten. Bar­tels fasst das in sein­er Rezen­sion ganz gut zuam­men:

Am besten ist es, “Endlich Kokain” wie im Rausch in einem Zug zu lesen, dann ist der Spaß am aller­größten. Son­st kön­nte man leicht auf den Gedanken kom­men, schon bessere Dro­gen­ro­mane und Kun­st­be­trieb­ssatiren gele­sen zu haben.

Jens Dittmar: So kalt und schön. Ein Son­der­weg. Aus dem Nach­lass von Hilde­gard Klein­schmidt (Temuco/Chile) her­aus­gegeben, kom­men­tiert und mit Anmerkun­gen verse­hen von Jens Dittmar. Hohen­ems: Buch­er 2014.

dittmarEinen post­mod­er­nen Schel­men­ro­man ver­heißt der Umschlag­text. Den bekommt man allerd­ings nicht. Lesen kann man So kalt und schön am besten als Ver­such, einen solchen zu schreiben — ein Ver­such, der nicht so richtig glückt. Denn auf bei­den Ebe­nen bleibt Dittmar vor dem Ziel ste­hen: Wed­er ist das ein gelun­gener Schel­men­ro­man — die Ele­mente sind da, der Witz fehlt … -, noch kann der post­mod­erne Aspekt überzeu­gen. Der erschöpft sich näm­lich im Auf- und Vor­führen von möglichst vie­len Namen, die im Kul­turleben (vor allem im lit­er­arischen Teil) der Bun­desre­pub­lik eine Rolle spiel­ten. Das geschieht aber regelmäßig ohne beson­dere Moti­va­tion, so dass es leere Geste bleibt. Typ­isch für diese Halb­herzigkeit, die viel von dem Text durchzieht, ist die Tat­sache, dass die Her­aus­ge­ber­fik­tion den Ver­lag über­forderte oder der sie nicht mit­machen wollte und sie deshalb gle­ich auf dem Titel­blatt “zer­stört” — dann kann man sich so etwas auch gle­ich sparen. Ähn­lich­es gilt für die “Anmerkun­gen”, die bloß belan­g­los sind und willkür­lich ein paar Fak­ten im Wikipedia-Stil hinzufü­gen.

Der Erzäh­ler ist ein pen­e­trant dozieren­der Erzäh­ler, der mehr erk­lärt (und vor­führt, ger­ade an Büch­ern und Gestal­ten und Autoren) als er erzählt: “Und Andrea ver­suchte, sich das vorzustellen, aber es ging nicht.” (67) heißt es ein­mal — so ähn­lich geht es dem Leser (d.h. mir) auch.

Horst Brun­ner (Hrsg.): Von achtzehn Wachteln und dem Finken­rit­ter. Deutsche Unsinns­dich­tung des Mit­te­lal­ters und der Frühen Neuzeit. Stuttgart: Reclam 2014. 163 Seit­en.

wachtelnDieses schmale Reclam-Bänd­chen ist wun­der­bare lustige und lustvolle Lek­türe für zwis­chen­durch: Kuriosa aus der Litaturgeschichte des Mit­tel­hochdeutschen und vor allem der Frühen Neuzeit. Brun­ner schreibt im Nach­wort:

Auch im Mit­te­lal­ter und in der Frühen Neuzeit gab es Men­schen, die gern und entspan­nt gelacht haben, wed­er dacht­en sie unaus­ge­set­zt an das Jen­seits, noch an den Sinn ihrer ständis­chen Exis­tenz, noch an Rebel­lion und Aufrüher­tum. Die Texte, die ihnen gefall­en haben, kön­nen dur­chaus auch uns heute noch erfreuen. (163)

In der Tat, die Dich­tun­gen über Tiere, Unmöglichkeit­en und verkehrte Wel­ten sind erfreulich, im wahrsten Sinne des Wortes. “Das Schlau­raf­fen Landt” von Hans Sachs ist wohl der bekan­nteste Text dieser Samm­lung. Sehr schön aber auch der “Finken­rit­ter” in der Tra­di­tion des Rit­ter­ro­mans und mit Ver­wand­schaften zum Schel­men­ro­man (Chris­t­ian Reuter kön­nte sich hier dur­chaus bedi­ent haben, denkt man beim Lesen manch­mal, zum Beispiel bei der Schilderung der Geburt, die doch einige Ähn­lichkeit­en zum Schel­muff­sky aufweist). Anson­sten: Viel Umkehrung des Sinns, ohne dass immer und unbe­d­ingt neuer Sinn daraus wird und auch nicht wer­den soll — also Un-Sinn im wahrsten Sinn des Wortes. Die Mit­tel sind zum Beispiel die verkehrte Sprach­welt, in der kon­se­quent Sub­jekt und Objekt der Verse ver­tauscht wer­den. Oder ein­fach Unmöglichkeit­en der Welt, in denen immer wieder der Tri­umph der Schwachen über Starke, der Gejagten über Jäger her­vor­blitzt. Sprach­lich spie­len natür­lich auch Mit­tel der Verkehrung wie die con­tra­dic­tio in adiec­to, das Para­dox­on oder der ad absur­dum getriebene Reimzwang eine große Rolle.

Ein Beispiel aus dem anony­men “Puch von den Wachteln”, ca. 1380:

geflo­gen kam ain regen­wurm,
der hub den aller grösten sturm
mit ainem igel, der waz plos
herr diet­rich von pern schoz
durch ain alten enu­en wagen,
herr hilde­prant durchn kra­gen,
herr Ekk durch den schüzzelkreben -
Chriemhilt ver­loz da ir leben,
da plut gen mainz ran.
herr vasolt kaum entran,
des leibs er sich ver­wak.
sibentze­hen wahteln in den sak!

Mar­lene Streeruwitz: Nachkom­men.. Frank­furt: Fis­ch­er 2014. 432 Seit­en.

Sie musste durch­set­zen, dass das ein Roman war und kein Buch und dass es richtig war, dass es Romane gab, und dass es um die Wahrheit ging. Um die vie­len Möglichkeit­en davon. (313)

streeruwitz, nachkommen.Streeruwitz schreibt weit­er an ihrem Pro­jekt zu Wahrheit und richti­gen Leben, zum Ver­hält­nis der Geschlechter, und, hier sehr deut­lich, zum Prob­lem der Aus­beu­tung. Im Gegen­satz zu so manchen Rezen­sio­nen geht es in Nachkom­men. gar nicht so sehr um den Lit­er­aturbe­trieb — das ist kein Schlüs­sel­ro­man. Der Betrieb um die Ware Buch, gemacht aus Roma­nen und anderen Tex­ten (der Unter­schied ist schon entschei­dend, für Streeruwitz und ihre Pro­tag­o­nistin Nelia Fehn), ist eigentlich nur das Set­ting, der Rah­men, vor/in dem sich das Entschei­dende abspielt.

Das Entschei­dende, um dem es in Nachkom­men. geht, ist in mein­er Lesart auch nicht das, was der Klap­pen­text ver­heißt, näm­lich “ein Roman über die Ord­nung der Gen­er­a­tio­nen”. Eigentlich — und ich finde das so deut­lich, dass es schon fast über­trieben ist ist Nachkom­men. ein Roman über Aus­beu­tung. Es geht darum zu zeigen, wie eine junge Frau (das Geschlecht ist nicht unwichtig!) das kap­i­tal­is­tis­che “Funk­tion­ieren” (ein-)übt, erken­nt und — an sich, ihren eige­nen Hand­lun­gen und denen ander­er Men­schen wie dem schmieri­gen Ver­leger, den Mäzenen, den Kri­tik­erin­nen etc — reflek­tiert und kri­tisiert. Wobei “Kri­tik” vielle­icht schon zu viel ver­spricht, näm­lich die Idee ein­er Alter­na­tive, ein­er ver­heißungsvollen Idee oder so. Darum geht es aber nicht, das weiß Nelia Fehn (die eigentlich Cor­nelia heißt) auch. Es geht aber darum, erst ein­mal zu zeigen, wie die An-/Ein­pas­sung in ein (über­mächtiges) ökonomis­ches Sys­tem funk­tion­iert und was das für Fol­gen für das Indi­vidu­um hat, wenn dieses Sys­tem (nur) nach ökonomis­chen Kri­te­rien funk­tion­iert und nicht ein sinnhaftes, men­schen­fre­undlich­es ist. Die Hand­lung — die Buch­preisz­er­e­monie, die Frank­furter Buchmesse, die Inter­views, die Trauer um die Mut­ter, die Begeg­nung mit dem absen­ten Vater — zeigt also die Aus­beu­tung auf ver­schiede­nen Ebe­nen, als Selb­st-Aus­beu­tung, als Aus­beu­tung durch den Ver­lag, durch die Medi­en, durch die Fam­i­lie, aber auch die Aus­beu­tung ander­er (etwa in Form bil­liger Abeit­skräfte, hier v.a. anhand der Tex­til­pro­duk­tion in Fer­nost, der Krise in Griechen­land etc.): Aus­beu­tung ist sozusagen ein omnipräsentes Motiv im Text. Das funk­tion­iert ger­ade deshalb so gut, weil der Roman eben keinen Ausweg zeigen will und kann: Er will das Prob­lem bewusst machen und nicht ein­fache Lösun­gen propagieren. Die Absur­dität und Kom­plex­ität und Unen­trinnbarkeit der Schlechtigkeit der Welt, die sich auch in der Gen­er­a­tio­ne­nun­gerechtigkeit spiegelt (nicht nur als ein Macht­prob­lem im direk­ten Ver­hält­nis, son­dern grund­sät­zlich!) kann der Text aufzeigen. Aber ein Schlüs­sel­ro­man des Lit­er­aturbe­triebs ist das natür­lich nicht — höch­est so, wie die Bud­den­brooks ein Schlüs­sel­ro­man des Getrei­de­han­dels sind. Es geht nicht um dem Lit­er­aturbe­trieb. Lit­er­atur ist unwichtig (gewor­den) — ger­ade das erfährt und bemerkt und zeigt die Pro­tag­o­nistin ja immer wieder: die Leere, die nur noch Betrieb und nicht mehr Lit­er­atur ist. Vor allem geht es in Nachkom­men. aber um anderes: Frauen (und Män­ner) und ihre Rollen, Gen­er­a­tio­nen, und, ganz wichtig, das Funk­tion­ieren in der kap­i­tal­is­tisch organ­isierten und durch­drun­genen Gesellschaft als ein Funk­tion­ieren (der Men­schen bzw. ihrer jew­eili­gen derzeit­i­gen Rollen) im kap­i­tal­is­tis­chen Sinne, das trotz Krise die Ver-Wer­tung, also: die Aus­nutzung nicht behin­dert. Oder anders gesagt: es geht darum, die totale Durch­dringung der kap­i­tal­is­tis­chen Nor­men in der Gesellschaft mit all ihren Bere­ichen (wie etwa der Kun­st) zu zeigen. Und das in der von Streeruwitz gewohn­ten präzisen, manch­mal harten, immer faszinieren­den Sprache.

Der Roman, so ist meine Erfahrung, gewin­nt unge­heuer, wenn man dazu sich (noch ein­mal) die Poet­ik-Vor­lesun­gen der Autorin zu Gemüte führt, die Fis­ch­er ger­ade noch ein­mal zusam­men miteinem her schwachen Inter­view her­aus­gegeben hat — da ste­ht eigentlich schon alles drin, was man zur Ästhetik und den lit­er­arischen Zie­len von Streeruwitz wis­sen muss.
Großar­tig. Wie eigentlich alles von Mar­lene Streeruwitz.

Warum wollte sie ein gutes Ergeb­nis sein. Über­haupt. Warum wollte sie schön auss­chauen. Es ging doch darum, dass es sie gegeben hat­te. Schon immer. Und lange bevor sie so groß und dünn gewor­den war. Sie war schon immer da gewe­sen, und es hätte gle­ichgültig sein sollen, wie sie aus­sah. Über­haupt. Sie war ja erst groß und dünn gewor­den, nach­dem die Mami. Es wäre schön gewe­sen. Schön­er. Viel schön­er. Es wäre über­haupt nicht zu ver­gle­ichen gewe­sen. Sie hätte sich gewün­scht, die Mami. Ihre Muter. Sie kön­nte sie sehen. Kön­nte etwas sagen. Dazu, wie sie aus­sah. Nur sehen. Sie anschauen. Es wäre schon genug gewe­sen. Es wäre das Schön­ste gewe­sen. Und selb­st Mar­ios ver­stand das nicht. Dass das so wichtig gewe­sen wäre. Aber Mar­ios wollte, dass er das Wichtig­ste für sie war. Und sie wollte ja auch, dass Mar­ios das wollte, und sie hat­ten bald aufge­hört, darüber zu reden. Das war alles so weit innen. Das behielt sie da. Und warum fürchtete sie sich vor dem Tre­f­fen. Warum hat­te sie dieses Chaos im Bauch. Fürchtete sie sich vor diesem Mann. Dieser Mann. Er war sinn­los. Er war mehr als sinn­los. Er war nicht ein­mal ein Ersatz. (158)

Birk Mein­hardt: Brüder und Schwest­ern. Die Jahre 1973–1989. München: Hanser 2013. 700 Seit­en.

meinhardt, brüder und schwestern700 Seit­en für 16 Jahre Fam­i­liengeschichte — kurz fassen ist offen­bar nicht die Stärke von Mein­hardt. Brüder und Schwest­ern will ein bre­it erzähltes Panora­ma ein­er “Jahrhun­dert­fam­i­lie” sein (diesen Anspruch merkt man auf fast jed­er Seite), die mit Rück­blenden bis in die Zeit vor dem Zweit­en Weltkrieg zurück reicht, vor allem aber die “End­phase” der DDR im Blick hat. Dabei, das ist schon ein erstes Prob­lem, zer­fällt die Fam­i­liengeschichte aber in seriell erzählte Einzelgeschicht­en: von Willy Wer­chow, dem Druck­er und Betrieb­sleit­er, der sich durch Kom­pro­misse immer mehr der Partei- und Staat­slin­ie annähert und kom­pro­mit­tiert, sein­er Söhne Erik und vor allem Mat­ti, der sozusagen aussteigt und “bloß” Bin­nen­schif­fer wird, dafür aber einen Roman schreibt (der hier auch mit­geteilt wird), den seine ehe­ma­lige Jugend­liebe, die inzwis­chen als Lek­torin in der BRD arbeit­et, im “Wes­t­end-Ver­lag” (soll wohl Suhrkamp sein?) veröf­fentlicht, und Brit­ta, die bei einem pri­vat­en Zirkus lan­det und dort mit ein­er neuar­ti­gen Akro­batiknum­mer Furore macht. Das alles ist umständlich und weit aus­holend erzählt, ohne dass mir die Notwendigkeit dafür klar würde. Vor allem ist es im Detail manch­mal — trotz der Recherchen und dem Bemühen um his­torische Authen­tiz­ität — eher schwach und nach­läs­sig, wirkt oft unge­nau (zum Beispiel in der zeitlichen Fix­ierung). Eine Ten­denz ins All­ge­meine, zum Auswe­ichen ins irgend­wie geart­ete “Über-Zeitliche” macht sich öfters unangehm bemerk­bar. Dabei kann Mein­hardt dur­chaus erzählen und beschreiben, detail­liert und voller Fasz­i­na­tion für den eige­nen Stoff. Genauigkeit und Witz steck­en da dur­chaus drin — aber einge­bet­tet in große Län­gen und dürre Streck­en. Denn ander­er­seits ver­liert er sich immer wieder zu sehr im Detail. Es gibt ein­fach zu viel davon — und dabei wird nicht klar, warum (und wofür) das eigentlich alles notwendig sein soll, wo der Text hin­will (über die bloße Beschrei­bung hin­aus). „– wird fort­ge­set­zt –“ ste­ht auf der let­zten Seite: soll das alles denn immer noch nicht genug gewe­sen sein?

Hans-Jost Frey & Franz Josef Czernin: Sätze. Zürich, Ret­tenegg, Solothurn: rough­books 2014 (rough­book 030). 132 Seit­en.

sätzeDa hat rough­books mir wieder etwas beschert. Ein­er­seits ist das faszinierend ohne Ende, kann man sich in diesen “Sätzen” wun­der­bar ver­lieren. Ander­er­seits kann man aber auch aus dem Kopf­schüt­teln kaum noch her­aus kom­men … — ein typ­is­ches rough­book also, in gewiss­er Hin­sicht. Hans-Jost Frey und Franz Josef Czernin spie­len sich hier gegen­seit­ig Sätze zu — der jew­eils andere muss darauf reagieren, mit Sätzen, die Wörter des Aus­gangssatzes enthal­ten. Und Sätze sind hier ganz buch­stäblich zu ver­ste­hen, es geht fast nur um einzelne Sätze. Und es sind “Sätze”, also Set­zun­gen. Die sind oft axioma­tisch, spie­len immer wieder mit der Sprache, mit der Ober­fläche und ihren Bedeu­tun­gen, häufen (schein­bare) Para­dox­ien, schmeißen mit Zitat­en und Allu­sio­nen und Ver­frem­dun­gen berühmter Aus­sagen berühmter Män­ner (Kant, Hegel, Niet­zsche, Lacan, Freud, Kaf­ka und so weit­er) nur so um sich. Manch­mal verselb­ständigt sich das, dann sind die “Regeln” auch nicht mehr so wichtig. Manch­mal läuft sich das auch ein biss­chen tot. Zumin­d­est emp­fand ich das beim ersten Lesen so. Ver­mut­lich würde eine wieder­holte Lek­türe ein ganz anderes Ergeb­nis zeigen, da wären ver­meintliche Dür­restreck­en dann ver­mut­lich reich an wun­der- und wertvollen Sätzen. Davon gibt es aber immer schon genug, auch nach dem ersten Lesen find­en sich unzäh­lige Anstre­ichun­gen in meinem Exem­plar. Wieder ein Buch also, das mit ein­ma­ligem Lesen nicht ansatzweise abge­tan ist …

Voß, Flo­ri­an (Hrsg.): Weltkrieg! Gefal­l­ene Dichter 1914–1918. München: Allit­era 2014 (Lyrikedi­tion 2000). 70 Seit­en.
Anz, Thomas & Joseph Vogl (Hrsg.): Die Dichter und der Krieg. Deutsche Lyrik 1914–1918. Stuttgart: Reclam 2014. 103 Seit­en.

Zu diesen bei­den Antholo­gien mit Lyrik aus den Jahren 1914–1918, dem Weltkrieg beziehungsweise seinem Umfeld in Deutsch­land, habe ich kür­zlich schon ein paar Sätze geschrieben. Jeden­falls auch lohnende Lek­türe — und gar nicht so schw­er oder lang …

Sarah Schmidt: Eine Tonne für Frau Scholz. Berlin: Ver­brech­er 2014. 217 Seit­en.

schmidt, tonneUnd zum Schluss noch ein feines Buch aus dem vorzüglichen Ver­brech­er-Ver­lag: Eine Tonne für Frau Schulz ist ein aus­geze­ich­neter, präzise beobach­t­en­der und beschreiben­der Roman voller Witz und Esprit. Sich­er, Gat­tungs- oder gar Lit­er­aturgeschichte wird der nicht schreiben. Aber es ist vorzügliche, niveau­volle Unter­hal­tung.
Neben dem schön trock­e­nen, präzisen und unauf­dringlichen Humor der Erzäh­ler­ing hat mir auch die Gewöhn­lichkeit des Set­tings und der Per­so­n­en gut gefall­en. Das sind ganz nor­male Men­schen mit ganz nor­malen Prob­le­men und ganze nor­malen Gedanken. Dabei wird das nicht ankla­gend oder vor­führend erzählt, son­dern sehr sym­pa­thisch. Das Leben an sich reicht schon, ist schön und erfül­lend genug, da braucht es keine Beson­der­heit­en, vielle­icht auch keinen Ehrgeiz nach Indi­vid­u­al­ität oder Beson­der­heit: Das Sein reicht schon, kann auch schön sein und glück­lich machen (wenn man sich damit beschei­det, wie die Erzäh­lerin). Die titel­gebende Frau Scholz, eine alte Dame, mit der sich die Erzäh­lerin, die mit ihrer Fam­i­lie (Vater, Mut­ter, Sohn, Tochter — ganz nor­mal eben …) im gle­ichen herun­tergekomme­nen Berlin­er Miet­shaus wohnt, anfre­un­det, ver­schafft sich dann aber doch noch eine Beson­der­heit, in dem sie sich einen Sohn erfind­et, der Fluchthelfer an bzw. unter der Berlin­er Mauer war — offen­sichtlich eine Lüge, auch wenn das nie ganz ein­deutig gek­lärt wird. Unter anderem, weil sie vor dem entschei­den­den Inter­view mit der selt­sam (für die Ich-Erzäh­lerin) ziel­stre­bi­gen Tochter ein­fach so stirbt … Den Fre­undin­nen und Fre­un­den guter, niveau­voller Unter­hal­tung jeden­falls wärm­stens emp­fohlen.

Mir fehlen zwar oft eigene Worte, so viel ver­schwindet, wird absorbiert und zu häu­fig benutzt, und für vieles in mir drin habe ich über­haupt keine Wörter, noch nie gehabt, aber »Leben­squal­ität«, das gehört nicht zu mir. Ich will nur in der Küche sitzen und rauchen und weigere mich, dabei ein Lebens­ge­fühl zu entwick­eln. Ich will keinen Lebens­stan­dard, keine Lebenslust, keinen Leben­straum, keine Leben­sphiloso­phie. (39)

außer­dem:

  • Thomas Mei­necke, Looka­likes (Re-Lek­türe)
  • Hubert Fichte, Detlevs Imi­ta­tio­nen »Grünspan« (Re-Lek­türe — und immer wieder begeis­tert von diesem großen Text!)
  • Mara Gen­schel, Ref­eren­zfläche #4
  • Sprache im tech­nis­chen Zeital­ter, #210

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  1. matthias mader (@matthias_mader)

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