Naja, das war keine so lohnende Lektüre … Ich weiß auch nicht mehr, wie ich darauf gekommen bin (wäre ein Grund, dem Rezensenten/der Rezensentin Vertrauenspunkte zu entziehen …). Die Geschichte ist schwach und teilweise blöd: Ein junges Mädchen zieht kurz vor den Sommerferien auf dem Bauernhof der Familie ihres älteren Freundes ein, vernachlässigt die Schule und gibt sich lieber einer seltsamen geheim gehaltenen Beziehung zu dem mehr als doppelt so alten Nachbarbauern hin, die vor allem auf ihrer Ausnutzung und ihrem Missbrauch (körperlich, sexuell und psychisch) beruht und natürlich tragisch enden muss …
Das Setting im Sommer 1990 auf der Noch-DDR-Seite der Grenze ist auch nicht so spannend, gibt aber Gelegenheit, ein bisschen (freilich nur wenig) Politik und Geschichte einzuflechten — und ist natürlich ein Spiegel der Figur Maria: In der Zwischenzeit — nicht mehr Kind, noch nicht Erwachsene — spiegelt sich das Land zwischen DDR und BRD … Aber da die Figuren alle reichlich blass bleiben, von der Erzählerin über ihre Restfamilie bis zu Johannes und Henner, kann sich da sowieso kaum etwas entfalten. Das merkt man sehr deutlich an der mühsam inszenierten Intertextualität: Maria wird gerne als begeisterte Leserin porträtiert, liest aber wochen-/monatelang an Dostojewskis Die Brüder Karamasow herum, was natürlich wenig ergiebig ist (sowieso ist Lektüre hier immer ausschließlich eine identifikatorische …). Auch die Komposition von Irgendwann werden wir uns alles erzählen ist nicht weiter bemerkenswert, eher kleinteilig angelegt, mit Schwächen in der Zeitgestaltung. Und die so gelobte Sprache — wenn man den Blurbs im Taschenbuch (ganze zwei Seiten vor dem Titel!) glauben darf — hat für mich keinen Reiz, weil sie eigentlich doch recht gewöhnlich ist.
alles in allem die übersteigerten Gefühle einer Siebzehnjährigen in den Wirrungen einer unruhigen Zeit. (234f. — mehr muss man kaum sagen ;-) …)
Eine schöne Idee der kontrafaktischen Geschichte: NS-Deutschland hat den Zweiten Weltkrieg gewonnen und sich die halbe Welt untertan gemacht (der Rest gehört zu „Soka Gakkai“), Juden gibt es (fast) keine mehr. Dann stirbt Hitler aber in den 60ern und wird durch Ivo Klöpfel ersetzt — oder ist das ein Mord und Staatsstreich? Die entsprechenden Vermutungen kursieren und geben der Handlung im gleichzeitigen Bürgerkrieg und dem durch die beiden Großmächte entfesselten atomaren Krieg ordentliche Verwicklungen und Handlungsantrieb. Dazwischen treibt Höllriegel umher, ein „Pendler“/Gyromant, der verschwörungstechnisch in die große Politik gerät und sich wieder rauswurschtelt (hat etwas vom Schelm, diese Figur: wenig Ahnung, dafür aber viel Situationsgeschick) und dessen Treiben noch verquickt wird mit seiner Liebe bzw. seinem Begehren nach der (scheinbar) idealen (in ideologischer, d.h. rassentypologischer Sicht), aber unter normalen Umständen unerreichbaren Ulla. Das ganze Gewusel endet dann etwas desillusionierend im Tod — allerdings nicht durch Verstrahlung (das hätte noch etwas gedauert), sondern im Gefecht.
Schön an Basils Roman ist die konsequente Weiterführung, das Zu-Ende-Denken der NS-Ideologie mit ihren Auswüchen, den Gruppen, dem Einheitswahn, der unerschöpflichen Kategorisierungssucht etc. Insgesamt leidet das Buch aber daran, dass es diese kontrafaktische Welt zu sehr beschreibt und nicht durch Handlungen sprechen lässt. Wunderbar sprechend sind dagegen die vielen, vielen Namen … Jedenfalls eine durchaus unterhaltsame Lektüre.
Doch Adolf Hitler war nicht mehr, Odin hatte seinen Meldegänger zum großen Rapport nach Walhall gerufen. (50)
Eine wunderbare Spielerei ist dieses kleine, feine Büchlein (schon die ISBN: in römischen Ziffern, eine echte Fleißarbeit …), eine nette Camouflage, echtes Schelmenstück (der Autor scheint ein in der Wolle getränkte Schelm zu sein …). Der Wahrhafftige Bericht ist eine Art philologische Fantasy (der Bezug auf Tolkien taucht sogar im Vorwort auf), nur in die Vergangenheit verlegt: Es handelt sich um den (fiktiven) Bericht eines gelehrten Landpfarrers, der von einer Giftmischerin/Zigeunerin/Heilkundigen mit den Elfen seines Tales bekannt gemacht wird und Grundzüge (d.h. vor allem Phonetik und Morphologie) ihrer Sprache beschreibt. Das ist eingebettet und kombiniert mit dem Tagebuch der „Entdeckung“ dieser geheimen (?) Sprache bis zum Kriminalfall des Verschwindens sowohl des Pfarrers als auch seiner Informantin (ein Wechseln ins Elfenreich liegt ganz märchentypisch nahe, weil keine Leiche gefunden wird …). Leider fehlt ausgerechnet die Lexik der Elfensprache in den “Aufzeichnungen”, so dass die Fragmente, die „Oestermann“ „überliefert“, dummerweise unverständlich bleiben (aber wer weiß, vielleicht haben sie ja sogar eine Bedeutung? — Das wäre eine schöne Aufgabe für einen Computer mit einem findigen Programmierer …). Das ganze ist von Buchmann verflixt geschickt vorgetäuscht oder gefälscht oder nachgeahmt oder parodiert worden. Von dem Drumherum ist allerdings nicht alles gelogen — das „Gelehrten-Lexicon“ von Jöcher z.B., aus dem zitiert wird, gibt es durchaus — allerdings ohne den hier abgedruckten Eintrag zu Oestermann. Und dann ist das Ganze — es ist ja nicht viel, kaum mehr als vierzig Seiten beanspruchen die “überlieferten” Texte samt editorischen Vorworten und Anhängen von dem kleinen Leipziger Dichter-Verlag Reinecke & Voß sehr schön herausgebracht worden, mit angenehm passendem Satz und schönen Schriften.
Wir fassen die Lettern und stoßen auf | Klänge; wir fassen die Klänge und stoßen auf Namen; wir fassen die Namen und stoßen auf Nichts. (15f.)
Und gleich noch ein schmales Bändchen von Reinecke & Voss, den Hörspieltext Das deutsche Dichterabzeichen. des großen Lyrikers Ulf Stolterfoht. Dichtung und vor allem die Lyrik wird hier als streng reguliertes, entbehrungsreiches Handwerk inszeniert (ein bisschen wie eine moderne Variante der Meistersinger …), das ist ganz nett ausgedacht. Zugleich ist es aber auch noch eine “Systematik“ der Lyrik mit verschiedenen „lyrischen Typen”. Da heißt es zum Beispiel:
Wildtexte, die noch vor Zeiten weite Teile Europas besiedelten, haben sich mittlerweile den immer spezielleren Anforderungsprofilen unterworfen. (17)
Weiter geht es im belehrenden Gespräch über die Dichter-Ausbildung, also die handwerkliche Komponente des Dichtens. Weiteres, ganz wichtiges Thema: Die kompetitive Komponente des Dichtens, die Lesungen und die Wettbewerbe. Das führt Stolterfoht als Zirkus vor, als eine Art Dressur, in der die Dichter die Rolle der Tierchen übernehmen: possierlich, gut für die Unterhaltung, aber nicht ernst zu nehmen … In der Radikalität, in der diese messenden und vergleichende Komponente der Dichtung übergestülpt wird, ist das natürlich — daraus macht der Text kein großes Geheimnis — eine Parabel auf den deutschen Literaturbetrieb der Gegenwart. Aber eine — ganz wie es das Thema verlangt — unterhaltende, in der sich durchaus — schließlich ist Stolterfoht selbst ein intelligenter Teilnehmer — wahre und treffende Beobachtungen finden:
Im Zeitalter hoch entwickelter Prosa hat das Gedicht an Bedeutung verloren. in dem Maße aber, in dem es aus seiner natürlichen Umgebung verschwindet, wächst seine Beliebtheit als domestizierter Wettbewerbstext. (7)
Schön auch kurz vor Schluss:
Etwas ganz besonderes verbirgt sich hinter der Bezeichnung „Vielseitigkeitsprüfung“: Der Dreikampf nämlich aus Lyrik, lyrischer Übersetzung und Poetologie — das alles an drei aufeinander folgenden Tagen. (40)
Mit diesem Buch habe ich mir Kempowski verleidet, das ist zum Abgewöhnen …
Hamit — die dialektale Variante von “Heimat” — ist ein Tagebuch der Zeit direkt während bzw. nach der Wende. Für Kempowski heißt das: Er kann wieder Rostock besuchen, die Stadt, in der er aufwuchs. Und auch Bautzen, wo er eingekerkert war. Weitere Themen des Tagebuchs: Die Medien — wie sie über Politik und über ihn berichten -, die Fertigstellung von Alkor, Zwistigkeiten, Besuche etc. Dazwischen taucht noch die Sammlung von Tagebüchern und Erinnerungen anderer Leute immer wieder auf (fürs sein Echolot und um’s dem „Vergessen zu entreißen“), auch die Politik der Gegenwart spielt natürlich eine Rolle, gerade hinsichtlich des Vereinigungsprozesses. Das ist aber auch der Bereich, wo Kempowski vor allem seinen Animositäten freien Lauf lässt: Außer ihm (und wenigen anderen) hat niemand je etwas kapiert, sehen alle die Widersprüche und Probleme nicht. Dabei ist das kein ganz reines Tagebuch, es ist mindestens zwei Mal überarbeitet (und damit endgültig literarisiert) worden. Aber auch die Anmerkungen aus den 2000ern verstärken die Tendenz der Besserwisserei noch lassen ihn als den einzigen „Weisen“ und das große Genie erscheinen, dass die anderen einfach nicht erreichen. Dabei ist der ganze Text durchtränkt von Ressentiments gegen so ziemlich alle und jeden (mit Ausnahme vielleicht bestimmter Bereiche der Vergangenheit). Und eine große Eitelkeit bricht sich immer wieder Bahn: Alle, die Leser, der Literaturbetrieb, die Medien und die Kritik, aber auch sein Verlag, alle verkennen seine Genialität und seine Leistungen. Dabei ist er doch unersetzlich, wie er ganz typisch bescheiden festhält:
Ich gebe der Gesellschaft ihre Geschichten zurück. (284)
Was würden wir Armen also nur ohne ihn tun!
Mir war der Kempowski, der sich hier zeigt, jedenfalls ausgesprochen unsympathisch. Lustig am Rande auch: Bei einem Verdienst von 50.000 DM/Monat bzw. 1200 DM/Tag (321) beschwert er sich immer wieder darüber, dass er Restaurantrechnungen bezahlen muss/soll: total ichzentriert eben, der Schreiber dieser Seiten, der sich vor allem durch seine Kauzigkeiten — wie die total kontingent scheinende Ablehnung der Worte „Akzeptanz“ und „Dirigat“ (329) — auszeichnet.
Wenn niemand eine Biographie über mich schreibt, tue ich es eben selbst. (177)
“Für sich” steht als Widmung in diesem Gedichtband. Und das stimmt einerseits, andererseits aber auch überhaupt nicht. Zwar stehen die Gedichte erst einmal “für sich” da, geben sich recht offen und direkt dem Leser preis. Aber andererseits bleiben sie auch gerade nicht “für sich”, denn Halter geizt nicht mit intertextuellen Anspielungen und Verweisen. Gerade die Musik spielt da durchaus eine große Rolle. Und dennoch: Man muss diese Intertextualitäten nicht erkennen, man muss ihnen schon gar nicht nachgehen (obwohl das durchaus spannend sein könnte, das systematisch zu tun), um die Lyrik Halters verstehen zu können. Oder zumindest glauben zu können, etwas verstanden zu haben. Denn seine Gedichte bleiben zugänglich und wollen das wohl auch sein. Oft sind sie geradezu erzählend, ihre Metaphern bleiben leicht nachvollziehbar, die Form klar und übersichtlich. Manchmal wirkt das mit dem lockeren Sprachduktus, dem leichten Ton mir aber auch etwas zu plätschernd, zu prosa-nah, zu wenig formbestimmt für Lyrik.
Doch gibt es durchaus schöne und spannende Text in diesem Band. Da zeigt sich nicht nur die Verwurzelung Halters und Tradition und Intertextualität (seine Gedichte schöpfen viel aus oder mit der Kultur und ihrer Geschichte), da ist auch ein anregendes Spiel mit sich selbst immer wieder zu beobachten, die Selbstreflextion des Lyrikers und des Gedichtes zu erkennen. Interessant ist auch das immer wieder auftauchende Zeitkonzept — ein sehr vages Konzept von Zeit, das nicht auf das Trennende von Vergangenheit und Gegenwart abzielt, sondern auf den Übergang, die fließende Entwicklung: Vom Holozän bis zum Jetzt und dem Augenblick sind einzelnen Momente kaum zu fassen und zu bestimmen:
Etwas hat begonnen, dauert an oder ist vorüber. (25)
Nicht alles ist sprachlich oder inhaltlich sehr stark, gerade im Abschnitt IV („O, aufgeklärtes Leben, unsere Droge!“ überschrieben) scheinen mir einige schwache Texte den Weg in den Druck gefunden zu haben. Die Digital-Skepsis in „Hypnose“ ist zum Beispiel ziemlich oberflächlich und billig. Dazwischen gibt es aber immmer wieder schöne Momente, die das Lesen dennoch lesenswert mache, wie etwa die „Eine sich stets wiederholende Szene“:
Die sich leerenden Straßen
an einem Sommerabend
in einer kleinen Stadt.
Das Rücklicht des letzten Busses,
ein leichter Wind, der geht.
Im Ohr ein Lied über
das Ende einer Freundschaft.
außerdem noch:
- Jost Amman & Hans Sachs: Das Ständebuch (1568).
- Georges Duby: Die Zeit der Kathedralen.
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