Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: reinhard jirgl

Aus-Lese #45

Rein­hard Jir­gl: Oben das Feuer, unten der Berg. München: Hanser 2016. 288 Seit­en.

–Sie wur­den geboren, arbeit­eten, und sie star­ben. Wäre Leben so=einfach so=kurz wie dieser Satz, Leben, wäre gewiß glück­voller. Leben aber dauert länger als 1 Satz. (31)

jirgl, oben das feuerOben das Feuer, unten der Berg — an dem Buch ist nicht nur der Titel selt­sam und rät­sel­haft. Ich bin ja eigentlich ein großer Bewun­der­er der Werke Rein­hard Jir­gls, aber mit diesem Roman kann ich wenig bis gar nichts anfan­gen. Das, was von ein­er Geschichte übrig ist, ist rät­sel­haft, schwankt zwis­chen Kri­mi und Ver­schwörungs­the­o­rie, Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung und Ver­bit­terung. Die auf­tauchen­den Fig­uren sind eigentlich lauter kaputte Men­schen. Oder: Sie wer­den kaputt gemacht, durch das „Sys­tem“, die Macht oder ähn­liche Instanzen. Die grausame Bru­tal­ität der Welt, der Macht und der Mächti­gen, die die Moral nur als Deck­man­tel und Beruhi­gung fürs Volk (wenn über­haupt) haben, benutzen — den ganzen Text durch­dringt eine sehr schwarze, pes­simistis­che Welt­sicht. So weit, so gut (oder auch nicht, aber das ist ja erst mal egal). Frag­würdig bleibt mir aber doch ein­fach vieles. Auf dem Schutzum­schlag ste­ht etwa: „Titel, Textvol­u­men und Rei­hen­folge der Kapi­tel im Roman sind von dem altchi­ne­sis­chen Orakel I‑Ging bes­timmt.“ — Zum einen: was soll das? Ich habe keine Ahnung … Zum anderen: Ich bezwei­fle fast, dass das über­haupt stimmt …

In den faszinieren­den, genauen, poet­is­chen (d.i. lyrischen) Beschrei­bun­gen, ja, der ger­adezu über­bor­den­den Beschrei­bungs­ge­nauigkeit liegt vielle­icht die größte Stärke des Romans, auch durch die Spezialorthografie, die näm­lich Möglichkeit­en und Deu­tun­gen der Sprache verdeut­lichen, verein­deuti­gen oder über­haupt erst eröff­nen kann. Auf der anderen Seite hat­te ich oft den Ein­druck eines „ver­wilderten“ Text, der sich von sich selb­st treiben lässt und der im Zick­za­ck-Kreis des Erzäh­lens „der“ Geschichte keine wie auch immer geart­ete Ord­nung gel­ten lässt (zumin­d­est keine, die ich erken­nen kön­nte). Selt­sam finde ich auch: Eigentlich passiert das meiste des Romans auf pri­vater, ja intimer Ebene. Aber dann will der Roman doch die ganz großen The­men behan­deln (z.B. die Macht und die Moral) — das passiert dann (damit es jed­er merkt) v.a./nur durch das neun­malk­luge Dozieren der Fig­uren, in deren Erken­nt­nis­sen, in deren Durch­schauen der Welt und der Ver­schwörun­gen) sich der Erzäh­ler (und vielle­icht auch der Autor) zu allem und jedem äußern kann, seine Posi­tion als wahre absich­ern und mit­teilen kann.

?Wo in alldieser unermeßlichen=Unendlichkeit blieb eigentlich ?mein Web­faden, ?meine=!ureigene Spur, die mich etwas Unver­wech­sel­bares in dieses uner­schöpfliche Lebenswis­chhaderge­filz hätte hin1prägen lassen. (230)

Daniela Danz: Lange Flucht­en. Göt­tin­gen: Wall­stein 2016. 146 Seit­en.
Zu dem sehr gelun­gen kleinen Roman von Daniela Danz — die übri­gens auch vortr­e­f­fliche Lyrik schreibt — habe ich vor eini­gen Tagen schon etwas geschrieben: Lange Flucht­en, gebroch­ene Men­schen.
Wil­helm Lehmann: Ein Lese­buch. Aus­gewählte Lyrik und Prosa. Her­aus­gegeben von Uwe Pörk­sen, Jut­ta Johannsen und Hein­rich Deter­ing. Göt­tin­gen: Wall­stein 2011. 160 Seit­en.

lehmann, lesebuchAuf Wil­helm Lehmann bin ich erst durch die zweite Aus­gabe des Gel­ben Akro­bat­en von Michael Braun und Michael Buselmeier aufmerk­sam gewor­den. Lehmann, der von bis vor allem an der Küste lebte, war als Lehrer sowohl ein aus­geze­ich­neter Naturbeobachter als auch ein stark­er Dichter, wie ich anhand des Lese­buchs leicht fest­stellen kon­nte. Dort bieten die drei Her­aus­ge­ber eine Auswahl aus der mehrbändi­gen Werkaus­gabe: (viel) Lyrik, etwas aus den Tage­büch­ern, einige Auszüge aus theoretischen/poetologischen Essays und ein wenig Prosa. Inwieweit das ein repräsen­ta­tives Bild abgibt, kann ich nicht beurteilen. Sagen kann ich nur, dass das, was ich hier gele­sen habe, faszinierende Momente hat. Die mich am meis­ten berühren­den Texte und Pas­sagen waren wohl die, wo sich der penible und wis­sende Naturbeobachter mit dem bild­kräfti­gen Lyrik­er verbindet.

Aus vie­len der Naturbeschrei­bun­gen der Gedichte spricht eine leise Wehmut: Die Natur ist für Lehmann ganz offen­bar ein Ort, an dem die göttliche/geschöpfte/schöpferische Ord­nung noch gilt und dann auch zu beobacht­en ist; sie bleibt vom Chaos, der Gewalt und dem Schmerz der Men­schen (den sich die Men­schen gegen­seit­ig (und ihr) zufü­gen) unberührt. Solche Lyrik ist, wie er es in einem Auf­satz ein­mal auf den Punkt bringt: „Poe­sie als Ein­willi­gung in das Sein“.

Ger­ade in der Zeit des Zweit­en Weltkrieges scheint sich das aber zu ändern: Zunehmend wer­den Natur und Menschenwelt/Zeitgeschichte im Gedicht kon­fron­tiert, meist nebeneinan­der gestellt (sozusagen ohne ter­tium com­pa­ra­tio­nis): Hier die gle­ich­för­mige (im Sinne von in einem fes­ten Rhyth­mus sich wieder­holende), ver­traute (d.h. auch: les­bare, entschlüs­sel­bare, ver­ste­hbare) Natur, dort der uner­hörte Schreck­en, das unge­se­hene und ungeah­nte Grauen des Weltkriegs. Das bleibt aber immer sehr sub­til und — ger­ade in den Beschrei­bun­gen und Schilderun­gen — sehr kun­stvoll, in fein aus­tari­erten Rhyth­men und mit oft sehr har­monisch, fast selb­stver­ständlich wirk­enden Reimen aus­gear­beit­et. Am besten verdeut­licht das vielle­icht ein Gedicht wie “Fal­l­ende Welt”:

Das Schweigen wurde
Sich selb­st zu schw­er:
Als Kuck­uck fliegt seine Stimme umher.

Mit bronzenen Füßen
Lan­det er an,
Gefleck­tes Kleid
Hat er ange­tan.

Die lose Welt,
Wird sie bald fall­en?
Da hört sie den Kuck­uck
Im Grunde schallen.

Mit schnellen Rufen
Ruft er sie fest.
Nun dauert sie
Den Zeit­en­rest.

Sabine Bergk: Gils­brod. Nov­el­le. Berlin: Dit­trich 2012. 132 Seit­en.

bergk, gilsbrod (cover)Der Ver­lag nen­nt die auf der Opern­bühne spie­lende Nov­el­le von Sabine Bergk „Übertrei­bungslit­er­atur”. Das stimmt natür­lich, trifft den Kern des vor allem phan­tastis­chen und absur­den Textes aber nur halb. Gils­brod ist eine Ein-Satz-Nov­el­le mit 130 Seit­en unge­broch­en­em stream of con­scious­ness. Das ist natür­lich nicht völ­lig neu, spon­tan fällt mir aus let­zter Zeit etwa Xaver Bay­ers Wenn die Kinder Steine ins Wass­er wer­fen (2011) ein, das ähn­lich funk­tion­iert. Hier, also in Gils­brod, lesen wir das Bewusst­sein ein­er Opern­souf­fleuse, die im entschei­den­den Moment der The­a­ter­di­va nicht aushil­ft und sie deshalb in eine impro­visierte Kadenz auf dem falschen Text treibt. Ein Ende hat der Text nicht, er bricht ein­fach ab. Bis dahin ist er aber dicht und unter­halt­sam, phan­tastisch und absurd, trau­rig und komisch zugle­ich. Oder zumin­d­est abwech­sel­nd. Den natür­lich lässt sich so ein Bewusst­sein hin und her treiben, das ist eine heftige Mis­chung von Ver­gan­gen­heit­en und Gegen­warten, Real­itäten und Träu­men, Wün­schen und Äng­sten, geschichtet und über­lagert, auch mit Ver­sio­nen der (pseudo-)Erinnerung verse­hen, der seine Ebe­nen im kreisenden Wieder­holen her­auskristallisiert.

Das funk­tion­iert recht gut, weil die Sprecherin aus der Posi­tion des unsichtbaren/unscheinbaren Beobachters, der Souf­fleuse, agiert. In der Pri­vat­mytholo­gie wird der dienend-unter­stützende Hil­fs­di­enst dieser Funk­tion für das The­ater, genauer: die Oper, zur mys­tis­chen Erfahrung hochstil­isiert, zum erfül­len­den Leben­straum. Es wird aber dur­chaus auf geschick­te und unter­gründi­ge, aber erkennbare Weise auch die eigene Posi­tion reflek­tiert, zum Beispiel im Ver­lust der Rest-Sicht­barkeit durch den mit­ti­gen Souf­fleurkas­ten und die Ver­ban­nung auf die Seit­en­bühne, die nicht gle­icher­maßen Teil der Auf­führung ist: dort unter­hal­ten sich Tech­niker und wartende Sänger während der Oper … Zugle­ich zu dieser wahrgenomme­nen Mar­gin­al­isierung — im Kon­trast dazu und zu den Erin­nerun­gen der prä­fig­uri­eren­den Demü­ti­gun­gen der Schulzeit (die sehr selt­sam als eine Art Kreuzi­gung am Rutschengerüst erin­nert wer­den, mit Lanze und Essig und allem drumherum …) ist der Bewussst­seinsstrom aber auch die Kon­struk­tion ein­er total­en Macht­po­si­tion: von ihr ist alles, ins­beson­dere eben die Diva Gils­brod abhängig — und damit das ganze The­ater, die Stadt, das Pub­likum: „mir gehört der Text“ (39).

Der Text ist aber nicht ohne Dra­maturgie gebaut, zum Beispiel ver­schränken und ver­mis­chen sich die diversen Zeit­en und Ebe­nen immer mehr. Auch das „Vor­drin­gen“ in die Fig­ur „Gils­brod“ wird geschickt zeichen­haft genutzt: Es begin­nt an der Gren­ze zwis­chen außen und innen des Kör­pers, den Zäh­nen der Sän­gerin, und dringt über den Mundraum immer weit­er vor/hinein …

Im Grunde ist Gils­brod eine große Rachep­han­tasie, die ja auch zu keinem Ende kommt: der Bewusst­seinsstrom bricht in der großen (falschen!) Kadenz der Gils­brod ab, das „non so d’amarti“ verdichtet sich, bis zu ein­er Art Mantra — wenn man das hinzuzieht, kön­nte es natür­lich auch eine (unbe­wusste) Liebe­sphan­tasie sein: „Ich weiß nicht, dass ich dich liebe“ …

[…] und deshalb gehen die Leute ja ins The­ater, weil sie nicht alleine lachen wollen und son­st die anderen denken, sie wären ver­rückt, wie sollen sie auch lachen, wenn sie nie­man­den zum Lachen haben, und so bleiben sie lieber allein in ihrem Kum­mer, dabei ist es viel bess­er, gemein­sam zu weinen und die Leute gehen ja ins The­ater, damit sie gemein­sam lachen und auch weinen kön­nen, wie auf der Beerdi­gung, sie beerdi­gen ihren Kum­mer im The­ater und beerdi­gen sich selb­st, vorzeit­ig, sie beerdi­gen sich gegen­seit­ig und beerdi­gen alles, was ist, sie beerdi­gen die Langeweile, das Leben und die Hoff­nung der Fig­uren, die Flugver­suche und die Wet­ter­wech­sel, sie beerdi­gen das Licht hin­ter den Vorhangdeck­en wie zum Schlaf und zum Abschluss gibt es rauschen­den Applaus und nie­mand denkt, dass sie ver­rückt sind, auch wenn alle nach vorne star­ren […] (69)
Titus Mey­er: Andere DNA. Leipzig: Rei­necke & Voß 2016. 56 Seit­en. ISBN 978–3‑942901–20‑8.

Ein ganz­er Roman als Palin­drom, ein Palin­drom als Roman – geht das? Ein paar mein­er Lek­türe­beobach­tun­gen zu dieser Frage und anderen, die mich beim Lesen von Mey­ers Husaren­stück bewegten, habe ich schon vor eini­gen Tagen hier notiert.

Chris­t­ian Broeck­ing: Dieses unbändi­ge Gefühl der Frei­heit. Irène Schweiz­er — Jazz, Avant­garde, Poli­tik. Die autorisierte Biografie. Berlin: Broeck­ing Ver­lag 2016. 479 Seit­en. ISBN 9783938763438.

broecking, schweizer-biografie (cover)Eine große – und außer­dem auch noch autorisierte – Biografie der großen Jaz­zpi­anistin Irène Schweiz­er wollte Chris­t­ian Broeck­ing (den ich vor allem als Autor/Interviewpartner sein­er bei­den Respect-Bände kenne) hier wohl vor­legen. Raus­gekom­men ist ein müh­samer Brock­en. Den Broeck­ing schreibt auf den immer­hin fast 500 Seit­en vielle­icht (gefühlt zumin­d­est) ein Dutzend Sätze selb­st. Diese Biografie ist näm­lich gar keine, es gibt keinen Erzäh­ler und eigentlich auch keinen Autor. An deren Stellen treten (fast) nur Quellen, das heißt Zeitzeu­gen, deren Aus­sagen zu und über Irène Schweiz­er aus Inter­views hier grob sortiert wur­den und höch­stens mit einzel­nen Sätzen not­dürftig zusam­menge­flickt wer­den. Der doku­men­tarische Anspruch – die anderen also ein­fach erzählen zu lassen (aber auch die Fra­gen stre­ichen, was manch­mal selt­same „Texte“ ergibt) – geht dann auch so weit, dass englis­chsprachige Antworten nicht über­set­zt wer­den. Viel Mate­r­i­al wird also mehr oder weniger sin­nvoll gerei­ht. Nach herkömm­lichen Maßstäben ist das eher die Samm­lung, die Vorar­beit zu ein­er eigentlichen Biografie, die das (ein-)ordnend und deu­tend erzählen würde.

Dadurch ist das vor allem eine Arbeits­bi­ogra­phie und/oder ein Musik­tage­buch: Wer wann mit wem wo gespielt hat, das gibt den Rah­men für die Lebens­beschrei­bung ab. Aber selb­st das geht mit der Zeit und den Seit­en der unendlichen Rei­hen von Kon­stel­la­tio­nen und Orten zunehmend unter, weil es ein­fach zu viel ist. Men­schen kom­men kaum/nicht vor, nur Funk­tio­nen: Musik­er, Kün­stler, Organ­isatoren, Labelchefs und (wenige) Jour­nal­iste) – deshalb bietet das Buch auch nur Innen­sicht­en aus dem Umfeld Schweiz­ers. Und Broeck­ing hil­ft durch seine Abwe­sen­heit als Autor eben auch nicht: Einen außenstehenden/neutralen (oder wenig­stens pseu­do-objek­tiv­en) Beobachter kann der Text nicht aufweisen. Ich denke, daraus rühren dann auch andere Schwächen. Vieles bleibt ein­fach ohne Erk­lärung. Und wenn ich keine Erk­lärung bekomme, brauche ich auch keine Biografie …

Zum Beispiel wird die Größe Schweiz­ers zwar immer wieder beschworen, sie bleibt dabei aber aus­ge­sprochen unklar, ohne Kon­turen und ohne Grund. Das liegt vielle­icht auch daran, dass die Musik in den (sowieso äußerst knap­pen) Beschrei­bun­gen (Analy­sen kom­men mit Aus­nahme des zehn­seit­i­gen Anhangs „Jun­gle Beats“ von Oliv­er Senn & Toni Bech­told, der anhand exem­plar­isch aus­gewählter Auf­nah­men Schweiz­ers Musik, ihren Per­son­al­stil beschreibt, fast über­haupt nicht vor) selb­st so gener­isch bleibt: frei impro­visiert, dann wird mal dieser Ein­fluss (Cecil Tay­lor etwa) her­vorge­hoben, dann mal der jen­er betont (Monk etwa). Und immer wieder wird von den Inter­viewten darauf hingewiesen, dass sie keine Noten mag. Aber was sie wie spielt, kann man halt nicht so recht lesen, nur in ver­streuten Hin­weisen und Andeu­tun­gen (die auch eher ihre Präsenz und Energie auf der Bühne betr­e­f­fen). Auch die aus­gewählten Zitate aus Kri­tiken und Presse­bericht­en bleiben erschreck­end gener­isch. Ähn­lich ist es um die poli­tis­che Dimen­sion des Lebens von Irène Schweiz­er und ihrer Musik bestellt: Bei­des wird vor allem behauptet („diese Musik ist poli­tisch“), aber wie und warum, das ste­ht nir­gends, das wird nicht erk­lärt (und ger­ade da würde es (für mich) span­nend wer­den …). Das alles führt dazu, dass mich die Lek­türe etwas unbe­friedigt zurück­ge­lassen hat: Sich­er kommt man um diesen Band kaum herum, wenn man sich mit Schweiz­er und/oder ihrer Musik befasst. Aber Antworten kann er kaum geben.

Ian Bostridge: Schu­berts Win­ter­reise. Lieder von Liebe und Schmerz. München: Beck 2015. 405 Seit­en. ISBN 978–3‑406–68248‑3.
Meine Ein­drücke von Ian Bostridges großem, umfassenden Buch über die Schu­bertsche Win­ter­reise haben einen eige­nen Ein­trag bekom­men, und zwar hier: klick.

außer­dem gele­sen:

  • Katha­ri­na Rög­gla: Crit­i­cal White­ness Stud­ies und ihre poli­tis­chen Hand­lungsmölichkeit­en für Weiße Anti­ras­sistIn­nen. Wien: man­del­baum kri­tik & utopie 2012 (Intro. Eine Ein­führung). 131 Seit­en.
  • Sel­ma Meer­baum-Eisinger: Blüten­lese. Gedichte. Stuttgart: Reclam 2013. 136 Seit­en.
  • Moni­ka Rinck: Wir. Phänomene im Plur­al. Berlin: Ver­lagshaus Berlin 2015 (Edi­tion Poet­i­con 10).

Helden

–Zu Jed­erzeit sind Helden­tum & Blöd­heit einan­der ähn­lich wie Zwill­ings­brüder, sie sehen zu ver­schiede­nen Zeit­en & an ver­schiede­nen Orten nur anders aus; haben jedoch Heer­scharen von Ver­wandten. Und von Alten Helden über­leben immer die-Pferde, von den Neuen Helden die-Akten­taschen. Rein­hard Jir­gl, Oben das Feuer, unten der Berg, 95

Bücherleben

– –Dann müßtn Sie auch noch auf die-Büch­er auf­passen. – Erwiderte ich im sel­ben Ton. –Denn Büch­er leben. Und was lebt, das will – sich behaupten.Rein­hard Jir­gl, Oben das Feuer, unten der Berg, 232

Aus-Lese #27

Tino Hanekamp: So was von da. Köln: Kiepen­heuer & Witsch 2011. 302 Seit­en.

Der Klap­pen­text ver­heißt großes: “Ham­burg, St. Pauli, 31.12. Auf dem Kiez begin­nt die irrste Nacht des Jahres. Nur Oskar Wro­bel würde lieber liegen bleiben. Geht aber nicht. Weil ihm gle­ich sein Leben um die Ohren fliegt.” Hanekamps sprach­lich und for­mal nicht weit­er bemerkenswert­er Roman ist eine schnelle Lek­türe, die mit dur­chaus pack­en­dem Dri­ve die Geschichte der let­zten Par­ty eines Clubs in Ham­burg erzählt. Ganz schön die Deck­ung von erzählter Zeit und Tem­po der Erzäh­lung, die sich in der Steigerung bis zum Kol­laps im Rausch (der Ver­nich­tung) nieder­schlägt — dann fol­gen einige leere/blanke Seit­en, bevor der Erzäh­ler in ein­erresümieren­den Abschluss­be­merkung, die lei­der total schwach und banal ist, noch ein­mal das Wort ergreift. Viel bleibt davon nicht, aber eine nette Zeit kann man mit dem Buch schon ver­brin­gen.

Hen­ning Ahrens: Kein Schlaf in Sicht. Frank­furt am Main: S. Fis­ch­er 2008. 92 Seit­en.

Die ersten Seit­en emp­fan­gen mich mit lauter Plattheit­en in banaler Sprache — eigentlich ist das (im Kern) Prosa, noch dazu prä­ten­tioös und leer. Und so geht es lei­der weit­er: Man schleppt sich als Leser fort durch den Band, ein paar (sehr) wenige ordentlich Gedichte sind dabei, aber viel als Mit­tel­maß noch gelobtes prägt den Leseein­druck. “Stille satt”, aus dem die Titelzeile kommt, gehört noch zu den besten Gedicht­en hier. Und Kein Schlaf in Sicht stimmt lei­der über­haupt nicht — ein­er der lang­weilig­sten und ein­schläfer­nd­sten Lyrik­bände, die ich las: Nichts zün­det, alles bleibt irgend­wie reine Deskrip­tion, die auch sprach­lich über­haupt nicht imag­i­na­tiv scheint, keine neuen (Denk-/Vorstellungs-)Räume öffnet, son­dern nur „Welt“ ohne Poet­isierung bietet. Das hat mich über­rascht, den als Erzäh­ler habe ich Hen­ning Ahrens dur­chaus schätzen gel­ernt.

Rein­hard Jir­gl: Nichts von euch auf Erden. München: Hanser 2012. 510 Seit­en.

Hm, irgend­wie ver­lässt er mich hier: Selb­st als Jir­gl-Fan kann ich damit wenig anfan­gen. Klar, das ist dur­chaus handw­erk­lich geschickt. Aber auch reich­lich lang­weilig. Das liegt unter anderem daran, dass es in wesentlichen Teilen furcht­bar lan­gat­mig und weitschweifig ist. Auch seine orthografis­che Stilis­tik (oder stilis­tis­che Orthografie) hil­ft hier nur beschränkt — irgend­wie passt sie in ihrer Ver­langsamungs- und Inten­sivierung­s­ten­denz nicht zum Stoff, der eher nach Tem­po und Geschwindigkeit ver­langt. Zu durch­schaubar erscheint mir auch die Pro­jek­tion heutiger Prob­leme (ökol­o­gis­che, gesellschaftliche, poli­tis­che) gle­ich ins 25. Jahrhun­dert. Anderes miss­fällt ein­fach — so bleiben die Geschlechter­rollen etwa total im Klis­chee: Frauen­fig­uren gibt es eh‘ nur wenige, dazu noch totale alt­modis­che Rol­len­klis­chees, wie “die-eine” oder auch die begeg­nung mit der Mar­sianer­in IO, die Erfül­lung dann nur im „weib­lichen“ find­et und sich dem Mann/Sohn opfert ..

Der ganze Text scheint mir durch­zo­gen von einem (kultur-)pessimistischen Men­schen­bild, vor allem eine deut­liche Ver­ach­tung der Menge & Masse, die hier eher als Art Pöbel auf­taucht — und Objekt der Manip­u­la­tion der Herrschen­den (auf allen Ebe­nen) ist, bricht sich immer wieder Bahn. Das gipfelt dann in ein­er Endzeit, der total­en Hybris der Men­schen: Die Flucht ins All vor den Prob­le­men der Men­schheit (die vor allem aus ihren Massen resul­tieren …) schlägt fehlt, kippt in eine Art Apoka­lypse. Über­lebt wer­den Unter­gang von Mars & Erde nur von den sich selb­st (fort-)schreibenden “mor­fol­o­gis­chen Büch­ern” im “Roman der Zukun­ft”.

Hans-Ulrich Thamer: Die Völk­er­schlacht bei Leipzig. Europas Kampf gegen Napoleon. München: Beck 2013 (C.H.Beck Wis­sen). 126 Seit­en.

Thamer begin­nt seine kleine Geschichte der Völk­er­schlacht mit ein­er sehr umfassenden und präzisen Schilderung der Hin­ter­gründe, alsoe die Entwick­lun­gen und Stel­lun­gen Europas am Beginn des 19. Jahrhun­derts. So beschreibt er die Völk­er­schlacht im Rah­men der Befreiungskriege, die Thamer vor allem als Kabi­netts- und Koali­tion­skriege wertet und dabei insofern „neue“ Kriege darstellen, als sie Massenkriege sind, die neue Bru­tal­ität freiset­zen und in der Folge eine neue Erin­nerungskul­tur, worauf Thamer eben­falls Wert legt: Der “Wan­del der Kriegs­deu­tung und Kriegser­fahrung” (115) zu ein­er “Ide­ol­o­gisierung des Krieges” im vater­ländis­chen Inter­esse ist ein zen­traler Punkt sein­er Darstel­lung.

Die eigentliche Schlacht wird dabei sehr gedrängt geschildert, ein oder zwei Karten hät­ten dem noch ganz gut getan. Zum Glück bleibt er aber nicht dabei ste­hen, son­dern fügt ein kurzes Kapi­tel zu den “Kul­turen der Gewalt” an und schließt eben mit einem großen Überblick über die Entwick­lung “vom Schlacht­feld zum Erin­nerun­gort”, das sich vor allem mit der zeit­enös­sis­chen und späteren Sin­nge­bung und Mythi­fizierung, der Ein­bet­tung in und Nutzung der Völk­er­schlacht für poli­tisch-religiöse nation­al­is­tis­che und lib­erale Diskurse beschäftigt.

außer­dem gele­sen:

  • Zeit Geschichte #3–2013 mit dem The­ma “Faschis­mus”
  • Text+Kritik 201: Ulrike Draes­ner

jirgl erhält den feuchtwanger-preis

rein­hard jir­gl, in meinen augen ein­er der ganz weni­gen ganz großen leben­den deutschen schrift­steller (in der bedeu­tung als sprach-kün­stler) erhält heute den lion-feucht­wanger-preis für his­torische romane. fast ein wenig iro­nisch, diese ausze­ich­nung. denn auch wenn jir­gls romane sich the­ma­tisch mit der ver­gan­gen­heit beschäfti­gen (zwar nicht unbe­d­ingt in erster lin­ie, wie es die pressemit­teilung der akademie der kün­ste will, mit “mit heißen Eisen, die son­st kein­er anfassen mag”), so fällt mir ihre charak­ter­isierung als “his­torische” romane doch eher schw­er. das liegt natür­lich zum einen an der form/kategorie selb­st, die ja in der regel nur ein zer­rbild ihrer selb­st ist, zum anderen aber auch an jir­gls tex­ten — denn in mein­er lek­türe gibt es kaum gegen­wär­tigere texte als jir­gls romane. da ist die tit­ulierung als “his­torisch” eben eher ungewöhn­lich. die charak­ter­isierung als “his­to­ri­ographis­che metafik­tion”, auch wenn sie ein begrif­flich­es unge­heuer ist, scheint mir — als ((post-)moderne) vari­ante und fort­set­zung des “klas­sis­chen” his­torischen romans für jir­gl geeigneter. aber dafür gibt es (noch) keine preise.

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