Düsseldorfer Verklärung | Begleitschreiben → anlässlich der “Düsseldorfer Erklärung” der klein(eren) verlage und den wunsch nach förderung und preise für die immense kulturelle (sie behaupten sogar, es sei eine künstlerisch) leistung dieser verlage schlägt gregor keuschnig vor, gleich nägel mit köpfen zu machen:
Aber es gibt noch Steigerungspotential. Wie wäre es mit einem Aufruf, den Leser, die Leserin mit einem adäquaten Preis staatlich zu unterstützen? Die Kriterien für die Preisvergabe sind leicht zu eruieren: Der preiswürdige Leser, die preiswürdige Leserin, muss mindestens 50 Bücher im Jahr lesen (3 davon Lyrik und mindestens 20% von sogenannten unabhängigen Verlagen). Er/Sie versteht sein Tun als künstlerische Leistung. Ein Dienst an der Literatur.
Wie ich beinahe ein Plagiat enthüllte | Zeit → eine nette geschichte über (klassische) musik und die verwirrung, die falsche metdadaten bei streamingdiensten auslösen können, hat gabriel yoran hier aufgeschrieben
Bürgermeister, fangt einfach an! | Zeit → stefan rammler fordert nicht ganz zu unrecht dazu auf, bei der verkehrspolitik und vor allem der verkehrswende nicht immer nur auf die bundespolitik zu starren und zu warten, sondern auch lokal und kommunal zu denken und vor allem zu handeln
Es ist ja nicht so, dass kluge, gut verwobene und langfristig ausgerichtete Konzepte für einen zukunftsgerechten Umbau des Mobilitätssystems in Deutschland fehlten. Man wüsste sehr wohl, wie es ginge – man will es aber nicht wollen oder glaubt, es nicht wollen zu können. Noch immer haben die Handelnden nicht verstanden, dass das Beharren beim Alten oder weitere Innovationen in der fossilen Massenmotorisierung eben gerade nicht die Zukunft der deutschen Autoindustrie sichern.
Gerhard Falkner: Romeo oder Julia. München: Berlin 2017. 269 Seiten. ISBN 978–3‑8270–1358‑3.
Ich kann nicht sagen, dass ich von Romeo oder Julia wirklich begeistert gewesen wäre. Das liegt vor allem daran, dass ich nicht so recht kapiert habe, was der Text eigentlich (sein) möchte. Dabei hat er unbestreitbar ausgezeichnete Momente und Seiten, neben einigen Längen. Einige der ausgezeichneten Momente finden auf der Ebene der Sprache statt: Es gibt funkelnde einzelne Sätze in einem Meer von stilistischem und gedanklichem Chaos. So habe ich mir das zunächst notiert — aber das stimmt so nicht ganz: chaotisch (also realistisch) erscheint der Text zunächst nur, er entwickelt dann aber schon seine Form. Die zumindest stellenweise hypertrophe Stilistik in der Übersteigerung auf allen Ebenen ist dann auch tatsächlich lustig.
Unermüdlich arbeiteten hinter den Dingen, an denen ich vorbeikam, die Grundmaschinen der Existenz, die seit Jahrtausenden mit Menschenleben gefüttert werden, und die Stadt stützte ihre taube und ornamentale Masse auf dieses unterirdische Magma von Lebensgier, Kampf, Wille, Lust und Bewegung. 227
Was wird in Romeo oder Julia erzählt? Das ist eben die Frage. Irgendwie geht es um einen Schriftsteller, Kurt Prinzhorn (über dessen literarische Werke nichts zu erfahren ist), der bei einem Hotelaufenthalt in Innsbruck von einer benutzten Badewanne und verschwundenen Schlüsseln etwas erschreckt wird. Ratlos bleibt er zurück und denkt immer wieder über die Rätselhaftigkeit des Geschehens nach, während das Autorenleben mit Stationen in Moskau und Madrid weitergeht. Dort nähert sich dann auch die antiklimaktische Auflösung, die in einem Nachspiel in Berlin noch einmal ausgebreitet wird: Der Erzähler wird von einer sehr viel früheren kurzzeitigen Freundin verfolgt und bedroht, die dann beim Versuch, zu ihm zu gelangen (um ihn zu töten), selbst stirbt … Trotz des Plots, der nach Krimi oder Thriller klingt, bleibt Romeo oder Julia bei einer unbeschwerten Rätselhaftigkeit, ein Spiel mit Spannungselementen, sexistischem und völkerpsychologischem Unsinn und anderen Peinlichkeiten. Immerhin sind der knappe Umfang und die eher kurzen Kapitel (übrigens genau 42 — wobei ich bei Falkner in diesem Fall keine Absicht unterstelle) sehr leserfreundlich. Durch die zumindest eingestreuten stilistischen Höhenflüge war das für mich eine durchaus unterhaltsame Lektüre, bei der ich keine Ahnung habe, was das eigentlich sein soll, was der Text eigentlich will. Weder die Krimi-Elemente noch die Popliteraturkomponente oder die massiven Intertextualitätssignale (die ich nicht alle in vernünftige Beziehung zum Text bringe, aber sicherlich habe ich auch eine Menge schlicht übersehen) formen sich bei meiner Lektüre zu einem Konzept: Ein schlüssiges Sinnkonstrukt kann ich nicht so recht erkennen, nicht lesen und leider auch nicht basteln.
Es war Sonntagvormittag, und es gab kaum Leute auf der Straße. Straßen auf den Leuten gab es erst recht nicht. es gab auch keine Busse, die man sich auf der Zunge hätte zergehen lassen können, oder Friseure, die aufgrund einer ungestümen Blümeranz der Ohnmacht nahe gewesen wären. Auch nicht die Heldenfriedhöfe, die in wilden und ausufernden Vorfrühlingsnächten von den Suchmaschinen auf die Bildschirme gezaubert werden, um mit ihren schneeweißen und christuslosen Kreuzen die Surfer in ihre leere Erde zu locken. Es gab nicht einmal die feuchte, warme Hand der katholischen Kirche oder das tröstliche Röcheln des Drachens, dem sein beliebtester Gegner, der heilige Georg, gerade die eiserne Lanze in den Rachen gestoßen hat. Es gab einfach wirklich nur das, was da war, was wir unmittelbar vor Augen hatten, und die Tatsache, dass ich in Kürze losmusste. 78
Alina Herbing: Niemand ist bei den Kälbern. Zürich, Hamburg: Arche 2017. 256 Seiten. ISBN 9783716027622.
Das ist mal ein ziemlich trostloses Buch über eine junge Bäuerin aus Alternativlosigkeit, die auch in den angeblich so festen Werten und sozialen Netzen des Landlebens (der „Heimat“) keinen Halt findet, keinen Sinn für ihr Leben. Stattdessen herrscht überall Gewalt — gegen Dinge, Tiere und Menschen. Einerseits ist da also die Banalität des Landlebens, der Ödnis, der „Normalität“, dem nicht-besonderen, nicht-individuellen Leben. Andererseits brodelt es darunter so stark, dass auch die Oberfläche in Bewegung gerät und Risse bekommt. Natürlich gibt es die Schönheit des Landes, auch in der beschreibenden Sprache (die freilich nicht so recht zur eigentlichen Erzählhaltung passt und mit ihren angedeuteten pseudo-umgangssprachlichen Wendunge („nich“, “glaub ich”) auch viele schwache Seiten hat und nerven kann). Aber genauso natürlich gibt es auch die Verletzungen, die die Menschen sich gegenseitig und der “natürlichen” Umwelt gleichermaßen zufügen.
Die Absicht von Niemand ist bei den Kälbern ist schnell klar (schon mit dem Umschlag, sonst spätestens auf der ersten Seite, wenn das Rehkitz beim Mähen getötet wird): Heimat, v.a. aber das Landleben entzaubern — denn es ist auch nur eine Reihe von Banalitäten und Einsamkeiten (auch & gerade zu zweit) und suche nach Liebe, Nähe, Emotionen. Die Natur bleibt von all dem unbeteiligt und eigentlich unberührt. Mich nerven aber so Hauptfiguren wie diese Christin, die — obwohl vielleicht nicht direkt defätistisch — alles (!) einfach so hinnehmen, ohne Gefühlsregung, ohne Gestaltungswillen, ja fast ohne Willen überhaupt, denen alles nur passiert, die alles mit sich geschehen lassen. Dass da dann kein erfüllter Lebensentwurf herauskommt, ist abzusehen. Mir war das unter anderem deshalb zu einseitig, zu eindimensional.
Manchmal glaub ich, jedes Flugzeug, das ich sehe, existiert überhaupt nur, um mich daran zu erinnern, dass ich einer der unbedeutendsten Menschen der Welt bin. Wieso sollte ich sonst in diesem Moment auf einem halb abgemähten Feld stehen? Nicht mal in einer Nazi-Hochburg, nicht mal an der Ostsee oder auf der Seenplatte, nicht mal auf dem Todesstreifen, sondern kurz davor, daneben, irgendwo zwischen alldem. Genau da, wo es eigentlich nichts gibt außer Gras und Lehmboden und ein paar Plätze, die gut genug sind, um da Windräder hinzustellen. 11
Laurent Binet: Die siebte Sprachfunktion. Reinbek: Rowohlt 2017. 524 Seiten. ISBN 9783498006761.
Das ist tatsächlich ein ziemlich lustiger Roman über Roland Barthes, die postmoderne Philosophie, Sprachwissenschaft und Psychologie in Frankreich, auch wenn der Text einige Längen hat. Vielleicht ist das aber wirklich nur für Leser lustig, die sich zumindest ein bisschen in der Geschichte der französischen Postmoderne, ihrem Personal und ihren Ideen (und deren Rezeption in den USA und Europa) auskennen. Und es ist auch ein etwas grotesker Humor, der so ziemlich alle Geistesheroen des 20. Jahrhunderts körperlich und seelisch beschädigt zurücklässt.
Ausgangspunkt der mehr als 500 Seiten, die aber schnell gelesen sind, ist der Tod des Strukturalisten und Semiotikers Roland Barthes, der im Februar 1980 bei einen Unfall überfahren wurde. Für die Ermittlungen, die schnell einerseits in das philosophisch geprägte Milieu der Postmoderne führen, andererseits voller Absurditäten und grotesker Geschehnisse sind, verpflichtet der etwas hemdsärmelige Kommissar einen Doktorand, der sich in diesem Gebiet gut auszukennen scheint. Ihre Ermittlungen führt das Duo dann in fünf Stationen von Paris über Bologna nach Ithaca/USA und zurück zu Umberto Eco (der einzige, der einigermaßen unversehrt davonkommt), womit die Reise, die Ermittlung und der Text das Netzwerk europäischen Denkens (mit seinen amerikanischen Satelliten der Ostküste) in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts nachzeichnen. Das ist so etwas wie ein Pop-Philosophie-Thriller, der für mich doch recht zügig seinen Reiz verlor, weil das als Romantext eher banal und konventionell bleibt. Interessant sind höchstens die Metaebenen der Erzählung (die es reichlich gibt) und die Anachronismen (die auch gerne und mit Absicht verwendet werden), zumal die Theorie und ihr Personal immer mehr aus dem Blick geraten
Die im Titel verhießene siebte Sprachfunktion bleibt natürlich Leerstelle und wird nur in Andeutungen — als unwiderstehliche, politisch nutzbare Überzeugungskraft der Rede — konturiert. Dafür gibt es genügend andere Stationen, bei denen Binet sein Wissen der europäischen und amerikanischen Postmoderne großzügig ausbreiten kann.
Während er rückwärtsgeht, überlegt Simon: Angenommen, er wäre wirklich eine Romangestalt (eine Annahme, die weitere Nahrung erhält durch das Setting, die Masken, die mächtigen malerischen Gegenstände: in einem Roman, der sich nicht zu gut dafür wäre, alle Klischees zu bedienen, denkt er), welcher Gefahr wäre er im Ernst ausgesetzt? Ein Roman ist kein Traum: In einem Roman kann man umkommen. Hinwiederum kommt normalerweise die Hauptfigur nicht ums Leben, außer vielleicht gegen Ende der Handlung. / Aber wenn es das Ende der Handlung wäre, wie würde er das erfahren? Wie erfährt man, wann man auf der letzten Seite angekommen ist? / Und wenn er gar nicht die Hauptfigur wäre? Hält sich nicht jeder für den Helden seiner eigenen Existenz? 420
Dieter Grimm: “Ich bin ein Freund der Verfassung”. Wissenschaftsbiographisches Interview von Oliver Lepsius, Christian Waldhoff(span> und Matthias Roßbach mit Dieter Grimm. Tübingen: Mohr Siebeck 2017. 325 Seiten. ISBN 9783161554490.
Ein feines, kleines Büchlein. Mit “Interview” ist es viel zu prosaisch umschrieben, denn einerseits ist das ein vernünftiges Gespräch, andererseits aber auch so etwas wie ein Auskunftsbuch: Dieter Grimm gibt Auskunft über sich, sein Leben und sein Werk. Dabei lernt man auch als Nicht-Jurist eine Menge — zumindest ging es mir so: Viel spannendes zur Entwicklung von recht und Verfassung konnte ich hier lesen — spannend vor allem durch das Interesse Grimms an Nachbardisziplinen des Rechts, insbesondere der Soziologie. Deshalb tauchen dann auch ein paar nette Luhmann-Anekdoten auf. Außerdem gewinnt man als Leser auch ein bisschen Einblick in Verfahren, Organisation und Beratung am Bundesverfassungsgericht, an dem Grimm für 12 Jahre als Richter tätig war. Schön ist schon die nüchterne Schilderung der der nüchternen Wahl zum Richter — ein politischer Auswahlprozess, den Grimm für “erfreulich unprofessionell” (126) hält. Natürlich gewinnt das Buch nicht nur durch Grimms Einblick in grundlegende Wesensmerkmale des Rechts und der Jurisprudenz, sondern auch durch seine durchaus spannende Biographie mit ihren vielen Stationen — von Kassel über Frankfurt und Freiburg nach Paris und Harvard wieder zurück nach Frankfurt und Bielefeld, dann natürlich Karlsruhe und zum Schluss noch Berlin — also quasi die gesamte Geschichte der Bundesrepublik Deutschland — Grimm ist 1937 geboren — in einem Leben kondensiert.
Das Buch hat immerhin auch seine Seltsamkeiten — in einem solchen Text in zwei Stichwörtern in der Fußnote zu erklären, wer Konrad Adenauer war, hat schon seine komische Seite. Bei so manch anderem Namen war ich aber froh über zumindest die grobe Aufklärung, um wen es sich handelt. Die andere Seltsamkeit betrifft den Satz. Dabei hat jemand nämlich geschlampt, es kommen immer wieder Passagen vor, die ein Schriftgrad kleiner gesetzt wurden, ohne dass das inhaltlich motiviert zu sein scheint — offensichtlich ein unschöner Fehler, der bei einem renommierten und traditionsreichen Verlag wie Mohr Siebeck ziemlich peinlich ist.
Adorno verstand ich nicht. Streckenweise unterhielt ich mich einfach damit zu prüfen, ober er seine Schachtelsätze korrekt zu Ende brachte. Er tat es. 41
Constantijn Huygens: Euphrasia. Augentrost. Übersetzt und herausgegeben von Ard Posthuma. Leipzig: Reinecke & Voß 2016. [ohne Seitenzählung]. ISBN 9783942901222.
Zu diesem schönen, wenn auch recht kurzen Vergnügen habe ich vor einiger Zeit schon etwas gesondert geschrieben: klick.
außerdem gelesen:
Dirk von Petersdorff: In der Bar zum Krokodil. Lieder und Songs als Gedichte. Göttingen: Wallstein 2017 (Kleine Schriften zur literarischen Ästhetik und Hermeneutik, 9). 113 Seiten. ISBN 978–3‑8353–3022‑1.
Hans-Rudolf Vaget: “Wehvolles Erbe”. Richard Wagner in Deutschland. Hitler, Knappertsbusch, Mann. Frankfurt am Main: Fischer 2017. 560 Seiten. ISBN 9783103972443.
Mein Dreivierteljahr mit Luther | Mein Jahr mit Luther → achim landwehr ist von der langweiligen ideenlosigkeit des reformationsjubiläums so gelangweilt, dass er sein blog zum “jahr mit luther” vorzeitig schließt — schade …
ch hatte mich zu Beginn dieses Blogs tatsächlich der Illusion hingegeben, das Reformationsjubiläum 2017 sei eine gute Gelegenheit, um sich der deutschen Geschichtskultur des frühen 21. Jahrhunderts zu widmen. Im Prinzip bin ich immer noch dieser Meinung. Nur hatte ich offenbar unterschätzt, wie dröge und phantasielos diese Geschichtskultur ist. Sie hat gewonnen. Ich gebe auf.
Das Problem: Es werden die immer gleichen Inhalte in die immer gleichen Formen gegossen. Die Einfallslosigkeit ist kaum zu überbieten. Sicherlich, dem hätte ich mit ein wenig mehr Einfallsreichtum meinerseits begegnen können. Aber nach meinen bisher geschriebenen Texten sah ich mich schon selbst in eine ähnliche Wiederholungsschleife einbiegen.
“Die SPD hat den Löffel längst abgegeben” | Freitag → recht interessantes interview mit thomas fischer, der in ruhestand geht — weil er meist sehr direkt antwortet und nur dann, wenn er sich selbst kompetent fühlt, ist das gar nicht so uninteressant …
In den Lyrik-Debatten seit Beginn des 21. Jahrhunderts sind nun einige Tabus geschleift und einige liebgewonnene Gewissheiten und Übereinkünfte aufgekündigt worden. Es gibt keine verlässlichen Ordnungssysteme mehr, keine trennscharfen Unterscheidungen zwischen «herkömmlichem» und «experimentellem» Schreiben, zwischen «Traditionalismus» und «Avantgarde» – und schon gar keine Einteilungen nach «Freund» und «Feind» […]
Dieses Ineinander von Traditionszitat und moderner Überschreibung eines althergebrachten Stoffs manifestierte sich in vielen Gedichten, die im Kloster Steinfeld Gegenstand der Werkstattgespräche waren. Bis hin zu Christoph Wenzels konzisen Erkundungen der Sozialgeschichte des Dorfes: Gedichte, in denen sich – wie in jedem guten Gedicht – der Autor zugleich ausdrückt und auch verbirgt.
Wenn Deutschland kolonialisiert worden wäre | FR → aram ziai entwirft eine kontrafaktische szenerie, in der deutschland von chinesischen eroberern kolonalisiert worden wäre — um für eine postkoloniale alternative der zusammenarbeit statt der entwicklungshilfe/-politik zu werben
Politiker, die die kostenlose Bereitstellung von Grundnahrungsmitteln, Wohnraum oder öffentlichem Nahverkehr als Einstieg in den Sozialismus verdammen würden, fördern die kostenlose Nutzung öffentlichen Raums für den individualisierten Automobilverkehr – so, als ob das Grundrecht auf Mobilität das Recht beinhaltete, mit dem eigenen Auto jederzeit überall hinfahren zu dürfen, nur weil man die Schäden, anders als bei Terroranschlägen, nicht sofort sieht.
Es gibt Momente medialen Überdrusses, da scheint mir Hölderlins Sprache die einzig mögliche. Eingängig und kristallin klar, transportiert sie in jeder Silbe dann mehr Sinn als eine Tageszeitung. An anderen Tagen erscheinen mir dieselben Verse dagegen dunkel und unverständlich, ihre Bedeutung unfassbar. Eines Tages, ich bin sicher, bin ich Hölderlin gewachsen.
Welzer: Gewalt ist ein Mittel sozialer Praxis” | Panorama → ganz ausgezeichnetes gespräch mit harald welzer über den g20-gipfel, gewalt, gesellschaft etc — wunderbar, wie genau und treffend er vieles einordnet, historisch und soziologisch — unbedingt ansehen!
Ror Wolf, das hat sich längst herumgesprochen, ist einer der bedeutendsten lebenden deutschen Autoren. Er ist einzigartig. Keiner schreibt wie er, keiner erzählt wie er. […] Er ist der Neil Armstrong unserer Textträume.
Für ihn lässt sich schlecht werben. Die Begeisterung, die Freude an Ror Wolfs Worten kann man eigentlich nur weitergeben wie einen Staffelstab. Es muss schon jemand bereitstehen, der ihn nehmen will.
Drama, Baby! | SZ → moritz rinke über das (aktuelle) drama (auf/in dem theater …)
Nein, es gibt beim Theaterpublikum wie bei den Schauspielern in Wahrheit eine große Sehnsucht nach Stücken, nach Geschichten, nach Leben und Repräsentanz und Darstellung. Nach Schauspielern als Menschendarsteller. Ja, Menschendarsteller! […] Aber die Repräsentanz im Drama und im Theater ist eine andere als in der bildenden Kunst. Wir schauen nicht auf einen leblosen Gegenstand, der irgendetwas abbildet, sondern auf Menschen, die das Vornotierte verwandeln. Wir sehen im Drama zuerst diejenigen, die es realisieren und erst danach das, was es zeigen und erzählen könnte.
Nein, ich wollte immer bloß interessante Literatur verlegen, solche, die irgendwas bietet, was man anderswo nicht geboten bekommt. Ich muss nicht jedes Jahr ein Programm füllen und kann warten, was mich trifft. Darüber hinaus verlege ich lieber Autoren, deren Besonderheit ich auch greifbar schildern kann. […]
Insgesamt ist der Verdacht, dass bestimmte alte Formen bestimmte alte Inhalte nahelegen, zwar nie unbegründet, aber das Problem erweist sich als eines, mit dem man sehr gut umgehen kann.
Für mich persönlich: die Simulation einer gesellschaftlichen Relevanz, die sie schon seit Längerem nicht mehr hat. Ich muss zumindest so tun, als wäre die Kritik noch wichtig, damit ich jenes Maß an Hingabe und Ernst aufbringe, das jeder literarische Text grundsätzlich verdient. Mitten in dieser mir selbst vorgespielten Wichtigkeit dämmert mir freilich die Irrelevanz meines Tuns, die wiederum eine schöne Freiheit eröffnet. Allgemein betrachtet ist die Kritik in ihrer Marginalisierung natürlich als siamesischer Zwilling an die Literatur gebunden. Der Zeitgeist hält nicht viel von Literatur und von literarischer Bildung beziehungsweise er hält sie für Luxus, ergo entbehrlich. Das wird sich einmal auch wieder ändern, bis dahin lese und schreibe ich unverdrossen weiter.
Smarte Mobilität | taz → Martin Held, Manfred Kriener und Jörg Schindler schlagen vor, vorhandene, funktionierende Assistenzsystem bei Pkw und Lkw viel stärker einzubinden, um Unfälle zu vermeiden
Wir haben Visionen vom komplett autonomen Auto, das angeblich alles besser macht. Wir trauen uns aber nicht, nützliche Assistenzsysteme auch nur in Ansätzen vorzuschreiben?
Der oben beschriebene Einsatz der Technik wäre sofort machbar und würde eine heilsame Wirkung entfalten. Ebenso wäre in der Übergangszeit ein „Mischbetrieb“ von Fahrzeugen mit und ohne Assistenzsysteme problemlos möglich. Und noch einmal: In allen Fällen blieben die Freiheitsgrade beim Fahren so lange vollständig erhalten, wie die Rechtsvorschriften eingehalten und keine gefährlichen Fahrmanöver gestartet werden.
Shifting baselines sind gerade in Zeiten großer politischer Dynamik ein Problem, weil die Nachrichten, Begriffe, Konzepte und Provokationen so beschleunigt und vielfältig einander abwechseln, dass man kaum bemerkt, wie das, was gestern noch als unsagbar galt, heute schon Bestandteil eines scheinbar normalen politischen Diskurses ist. […] Wie bemerkt man solche Verschiebungen, und wie stemmt man sich dagegen? Dafür gibt es kein Patentrezept, schließlich ist man als Mitglied einer Gesellschaft stets Teil einer sich verändernden sozialen Gemeinschaft. Aber vielleicht kann man sich darin üben, gelegentlich “Augenblick mal!” zu sagen, wenn einem etwas so vorkommt, als habe man es kurz zuvor nicht mal denken, geschweige denn sagen wollen. … Einfach mal den Rede- und Denkfluss unterbrechen, die baseline am Verschieben hindern. Den eigenen moralischen Kompass eichen.
Gedichte für alle! | NZZ Felix Philipp Ingold recht klug über die Vorteile von Lyrik, ihre Rezeption und Kritik momentan →
Im Unterschied zum Informationsgehalt des Gedichts steht seine Sprachgestalt ein für alle Mal fest, sie ist am und im Gedicht sinnlich fassbar, ist Gegenstand seiner ästhetischen Erkenntnis, dies in Ergänzung oder auch in Kompensation zu dem von ihm Gemeinten. Nicht seiner Bedeutung nach, aber als Lautgebilde hat das Wort in jedem Fall seine eigene Wahrheit – nicht zu widerlegen, nicht zu verfälschen, niemals adäquat zu übersetzen.
Augentrost — das ist mal ein Buchtitel! Dabei ist es gar keine Neuschöpfung, denn Constantijn Huygens schrieb seine Euphrasia schon 1647. Der Titel ist übrigens schnell erklärt: Der Augentrost (Euphrasia officinalis) ist eine Wiesenpflanze, seinen Namen hat er aufgrund seiner angenommenen Heilwirkung. Das muss uns aber nicht weiter beschäftigen, denn hier geht es ja um Literatur. Um ein Trostgedicht, das aus eher privatem Anlass entstand (und zunächst auch noch nicht über 1000 Verse umfasste): Huygens, der selbst (manchmal) eine Brille trug, schrieb es als Trost für eine Freundin (die im Text als “Parthenine” auftaucht) und offenbar den Verlust eines Auges zu beklagen hatte. Aber, wie das Nachwort wiederum ganz richtig bemerkt, es ist mehr als ein Trostgedicht (ich würde sogar sagen: Es ist gar kein Trostgedicht mehr …), es ist ein richtiger Narrenspiegel, der die ganze Gesellschaft — die Dichter übrigens ausdrücklich eingeschlossen — aufspießt.
Huygens, verrät mir das Nachwort des Übersetzers Ard Posthuma, ist “ein Klassiker der niederländischen Literatur” (und auch ein recht produktiver Komponist, neben seinen zahlreichen anderen Tätigkeiten und Berufen), in Deutschland aber wohl eher unbekannt. “Huygens’ Sprachvirtuosität war grenzenlos”. Und das merkt man. Wobei ich das gleich wieder einschränken muss: Denn ich kenne nur die Übersetzung. Die ist aber sehr pfiffig. Inwieweit Posthuma damit der Sprache und dem Text Huygens’ gerecht wird, entzieht sich meiner Beurteilung. Als deutscher Text, der 2016 erschien, ist er aber auf jeden Fall lesenswert. Denn Posthuma liefert einen Text, der nicht nur erstaunlich flüssig zu lesen ist, sondern sich — und das macht das Lesevergnügen deutlich größer — genau an das metrische Vorbild des Originals, die sechshebigen Jamben mit wechselnden Kadenzen und den Paarreim hält. Manchmal wird das sogar richtiggehend salopp und fast flapsig (auch der “Lahmarsch” hat einen Auftritt …).
Nun ist aber immer noch unklar, was dieser Augentrost denn nun eigentlich ist. Kurz gesagt: Ein Langgedicht in 1002 Versen (Alexandrinern) über die Blindheit oder vielleicht besser: über die vielfältigen Formen, in denen Menschen blind sein können. Das organisiert Huygens nach einer kleinen Einführung als einen Katalog von Menschengruppen, die er als blind kategorisiert. Meistens sind sind sie es nicht in wörtlicher Hinsicht, sondern in übertragener, weil sie das Eigentliche des Lebens — und des Glaubens, des christlichen Gottes (da bleibt Huygens ganz und gar ein Kind seiner Zeit) — nicht sehen, d.h. nicht erkennen, sondern gierig, geizig, hastig, müßiggängerisch sind. So haben sie alle einen Auftritt, die Gesunden und Kranken, die Gelehrten und die Eifersüchtigen, die jungen Leute, die Jäger, die Schnatterer, der ganze Hof — man merkt, das ist wirklich eine Art soziologisches Gesellschaftspanorama, das Huygens hier entwirft. Und natürlich sind, darum geht es ja schließlich, alle blind, ihr Sehen der Welt, ihre Sichtweise auf Menschen, Handlungen und Dinge ist eingeschränkt — meistens, weil sie das große Ganze des christlichen Heilsplanes nicht (er)kennen oder nicht im Sinn behalten. Auch das eigene Leid und das Leid der anderen und der Umgang mit dem Leid überhaupt spielen immer wieder eines besondere Rolle. Schließlich ist das insbesondere für Christen ein Punkt der Prüfung (eine Art privates Theodizee-Problem): Warum lässt Gott mich/die Menschen leiden?
Wer klagte da nicht gern, würd’s nachher besser gehn! / Wer aber brächte je des Himmels Lauf zum Stehn? Vers 49–50
Erstaunlich fand ich dabei oft den fast krassen Realismus der Beschreibungen, die er benutzt. Besonders deutlich wird das, wenn er die Liebeslyrik-Konventionen seiner Zeit mit der banalen (und im Vergleich zum Ideal hässlichen) Realität konfrontiert (Verse 360ff.). Und nebenbei findet man auch eine interessante Abwertung der (realistischen) Malerei (460ff.), weil sie doch immer bloß ein unvollkommenes, unfertiges, unvollständiges Abbild der Welt — dieser vollkommenen göttlichen Schöpfung — darstellt. Die Liste ließe sich noch weiter fortsetzen — so ziemlich jeder Leser, jede Leserin dürfte hier auf interessante Beobachtungen und Schilderungen stoßen.
Zum Augentrost gehört auch noch eine kurze Vorrede (im Original lateinisch), voll gestopft mit Topoi der Bescheidenheit. Das fängt schon mit einer Warnung — dieser Text sei nichts für Leser, die die Größe antiker Autoren zu schätzen wissen — an und gipfelt in dem Hinweis: “Sollte das Hauptwerk missfallen / genieße das Beiwerk.” Und natürlich funktioniert es, man möchte dann erst recht weiterlesen. Der Rest der Paratexte (des “Beiwerks”) fehlt in dieser Edition der Übersetzung bei Reinecke & Voß leider zum größten Teil, so dass man Huygens’ Empfehlung gar nicht folgen könnte. Durch Anmerkungen des Übersetzers — die sich aber nur auf die Bibelstellenverweise/-anspielungen beziehen, die wiederum zum großen Teil recht klar & eindeutig sind, wird das wenigstens zum Teil wieder wett gemacht. Die Ausgabe ist sowieso eine, die ihr Licht unter den Scheffel stellt (um auch ein biblisches Bild zu bemühen): das Äußere ist eher zweckmäßig als schön, was etwa das Druckbild (und die recht häufigen Fehler) angeht. Dafür ist sie aber auch recht wohlfeil zu erwerben.
Nur eine Sorte noch: Autoren sind auch Blinde, / besonders die von dir geliebten Dichterfreunde. / Die sind so dicht wie blind; sie sehen nur den Reim / und gehen in der Kunst den Wörtern auf den Leim / … / Das ist Poeten-Art, denn die zu dichten pflegen / sehen kein schöneres Ei als was sie selber legen. / Verprügeln kannst du ihn, doch sagt er unentwegt, / dass kein Poet so schön wie er die Laute schlägt. Verse 913ff., 941ff.
Soll man den Augentrost also lesen? Wenn es nach Huygens selbst geht, gar nicht unbedingt. Er beginnt nämlich gleich in der Vorrede — also direkt mit den allerersten Versen — mit einer Warnung:
Lies mich bitte nicht, / wenn besseres Salz dir zusteht / und dir keine Speise schmeckt, / die fader ist als die der Alten. / Lies mich bitte nicht. Wozu deine Augen / (oder ein Auge nur) peinigen?
Aber wer lässt sich von so etwas denn schon abhalten? Die Lesezeit-Schätzung, die Huygens in seinen Text einflicht (Vers 137: “zum Lesen sind gut zwei, drei Stunden vorgesehen”), stimmt übrigens ziemlich genau: Mehr als zwei, drei Stunden benötigt man dafür nicht. Aber das sind dann doch zwei, drei sehr vergnügliche, unterhaltsame und auch belehrende Stunden.
Constantijn Huygens: Euphrasia. Augentrost. Übersetzt und herausgegeben von Ard Posthuma. Leipzig: Reinecke & Voß 2016. [ohne Seitenzählung]. ISBN 9783942901222
Aus der durchhöhlten Rübe springt die Maus. Der reife Wind zwingt das Holunderblatt zu tagelangem Purzelbaum - Die leere Rübenbacke klafft, Die Tauben peitscht der Wind ans Haus.
Den Bauernpferden wächst das Haar wie Moos so dicht. Das Jahr geht hin. Kein Anfang ist und Ende nicht. Die Eichel fällt — die Einsamkeit erschrickt, und Öde schluckt den Ton. Sie schluckt auch meiner Sohle Lärmen, sie vergaß mich schon. Wilhelm Lehmann, Altjahresabend (1928)