Man wird davon nicht klüger. Aber Gedichte sind Wegmarkierungen, die helfen aus dem Gestrüpp.
—Sylvie Schenk, Roman d’amour, 9
Schlagwort: lyrik Seite 2 von 14
[…]Die aufgelassenen Gräber der Einsamen besitzen mehr Ewigkeit
als jede schwere Marmorgruft. In großen Stätten stehen große Urnen
für kleine Leben. Und der Rest? Die Menschheit? Du und ich?Wir werden leuchten, wenn die Erde uns zu Öl verkocht.
—Verena Stauffer, Ousia, 108
Es liegt der Schnee
—Julia Trompeter, in: Zum Begreifen nah, 101
so ausgeruht im Lichthof,
auf Grasnarben bleibt er
als weißende Spur.
Meine Haut is dünner,
ein Aggregat aus Sorge,
darin aber Lachen. Die
bleiben am Morgen
auch vom Schnee.

Eine Rezension in der Süddeutschen Zeitung hat mich auf dieses schöne und spannende Fotobuch aufmerksam gemacht. Die Geschichte der Fotografie ist ja nun nicht gerade ein Gebiet, mit dem ich mich auskenne oder überhaupt irgendwie beschäftigt habe. Trotzdem (oder deshalb) macht das Buch viel Spaß. Dazu trägt auch nicht unerheblich die sehr informative (und selbst schon reich bebilderte) Einführung von Alfred Büllesbach bei, die es schafft, auch Laien der Fotografiegeschichte wie mir die Zusammenhänge, in den Baumann in den 20er und 30er Jahrend (und auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg) arbeitete, aufzuzeigen. Dazu gehört nicht nur die wirtschaftliche SItuation freier Fotografen, sondern auch die Verbindung der Fotografie mit den Bergen, die zunehmende, zu dieser Zeit ja gerade in Schwung kommende touristische Erschließung der Alpen (durch den Bau von entsprechender Infrastruktur, durch den Urlaubsanspruch der Angestellten und natürlich auch durch die ökonomischen Möglichkeiten breiterer Bevölkerungsschichten, entsprechende Fahrten und Urlaube zu unternehmen), die als Hintergrund für Baumanns Fotos unabdingbar sind. Auch gefallen hat mir, die Betonung der Relevanz der Bergfilme für die Zeit — nicht nur für das Bild der Berge in der Bevölkerung, sondern auch als wirtschaftliches Standbein für nicht wenige Beteiligte
Die Fotos selbst scheinen mir dann durchaus einen eigenen Blick von Baumann zu verraten (mit dem bereits erwähnten caveat, dass ich da über wenig Hintergrund verfüge): Ganz eigen, vor allem vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Extrem-Vermarktung der Berge als spektakulärster Spielplatz der Welt, ist die stille Ruhe und Gelassenheit der Schönheit der Berge (und auch ihrer Besucher, möchte ich sage, Besteiger oder Bezwinger wäre für die hier abgebildeten Menschen und ihre Haltung wohl der falsche Ausdruck, viel zu entspannt und zurückhaltend-freudige treten sie mir vors Auge).
Gerade im Vergleich zu heutigen bildlichen Darstellung von Bergen und den Menschen auf ihnen sieht das hier zahm aus. Auch, weil das eigentliche Erschließen der und das Bewegen in den Bergen eher ein Randthema bleibt. Und weil es vergleichsweise harmlose Gipfel der Alpen sidn — aber, und das ist eben der Witz, dennoch unvergesslich in Szene gesetzt. Wahrscheinlich spielt auch die Schwarz-Weiß-Fotografie eine Rolle, wohl gerade bei den auftauchenden Personenen, die dadurch eine andere Schärfe und Konturierung zu haben scheinen als in den späteren Farbfotografien (so ist zumindest mein eigener Eindruck …).
Neuhäuser betrachtet Reichtum und damit zusammenhängende Tugenden und Probleme wie Gier, Gerechtigkeit, und Neid — der Titel ist hier tatsächlich sehr genau. Er argumentiert dabei vor allem moralphilosophisch. Ökonomische, politische und/oder soziale Kriterien spielen nur am Rand eine Rolle. Und dennoch ist das natürlich — das bleibt bei dem Thema und auch bei seinem Zugang gar nicht aus — natürlich ein politisches Buch, dass vor allem Superreiche für ihn unter moralischen, philosophischen und gesellschaftlichen (und damit ja auch politischen) Aspekten durchaus kritisch zu betrachen sind. Dabei geht es ihm aber überhaupt nicht um die Personen, sondern um die sich an ihnen manifestierenden Reichtümer — und damit auch die Unterschiede, die Grenzen. Und das hängt eben oft mit Ungerechtigkeiten zusammen. Eines seiner Kernargumente ist, dass Superreichtum — im Gegensatz zu Wohlstand und Reichtum — nicht (mehr) verdient sein kann und damit moralphilosophisch ein Problem ist.
Ein bisschen schade ist, dass Neuhäuser dabei oft nicht sehr in die Tiefe geht: Das ist manchmal etwas plaudernd geraten — was nicht heißt, dass Neuhäuser mit seiner Argumentation falsch läge. Aber manches scheint mir nicht zu ende gedacht/geschrieben, zumindest in diesem Büchlein (es ist ja nun nicht die einzige Auseinandersetzung des Autors mit diesem Thema).
Kuhligk habe ich bisher eher am Rande wahrgenommen: Durchaus offenbar ansprechende Qualitäten im literarischen Schreiben, aber nicht mein dringenster Lektürewunsch. Die Sprache von Gibraltar könnte das ändern. Das ist nämlich ein feines Buch.
Ganz besonders der erste Teil, der titelgebende Zyklus über Gibraltar und die europäische Enklave dort, ist richtig gut. Das ist keine übermäßige Betroffenheitsliteratur, der man die Bemühtheit an jedem Wort anmerkt. Aber es ist ein genaues Hinschauen (was an sich schon durchaus eine lohnenswerte Leistung wäre). Und es ist vor allem die Fähigkeit, aus dem Hinschauen, aus der Absurdität und auch der Grausamkeit der Welt in diesem kleinen Ort eine poetische Sprache zu finden und zu bilden. Damit lässt Kuhligk auch immer wieder die zwei Welten aufeinander prallen und sich nicht nur heftig aneinander reiben, sondern krachend miteinander Verhaken.
Sehr passend scheint mir auch das (sonst bei Kuhligk meines Wissens nicht vorherrschend, sogar sehr selten eingesetzte) Mittel der langen, erschöpfenden, ermüdenden Reihung in diesem Zyklus eingesetzt zu wein — etwa die sehr eindrücklich wirkende und genaue Litanei “wenn man …”.
Und dann gibt es auch noch in den restlichen Abschnitten, in der zweiten Hälfte des Bandes, gute und schöne Gedichte, die etwa sehr gelungen die Trostlosigkeit des Landlebens im “Dorfkrug” (47) einfangen oder in der Dopplung von “Was wir haben” (50) und “Was fehlt” (51) beinahe so etwas wie eine unsentimentale Landschaftslyrik entwickeln.
wenn man das Wort „Kapitalismus“ ausspricht, ist im Mund viel los / wenn man Kohle hochträgt, trägt man Asche runter (35)
Nun ja. Das war eine eher enttäuschende Lektüre. Kaube beobachtet das Bildungssystem im weiteren Sinne schon länger und hat sich auch immer wieder darüber geäußert, durchaus auch jenseits der taesaktuellen Anlässe. Seine kleine Schrift Im Reformhaus habe ich damals durchaus mit Gewinn gelesen. Bei Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder? ist das aber leider anders. Der Titel hätte ja schon eine Warnung sein können. Schon die ersten Seiten und die anfänglichen Kapitel zeigen schnell ein Hauptmanko des Buches: viel Gerede, viel schöne Beispiele, aber eher wenig Substanz.
Vor allem hat mich sehr schnell und recht nachhaltig genervt, wie selektiv er liest/wahrnimmt und dann leider auch argumentiert. Das wird zum Beispiel in Bezug auf Bildungsempiriker (für ihn ja fast ein Schimpfwort) sehr deutlich, aber auch in seinen ausgwählten Bezügen auf Bildungsungleichheit und Chancenungleichheit im Bildungsbereich. Das ist ja eines seiner Hauptargumente hier: Dass die Schule nicht dafür da ist, Ungleichheit zu beseitigen, dass sie von Politiker*innen zunehmend dazu “benutzt” wird, soziale Probleme zu lösen. Ich kann ihm ja durchaus darin (cum grano salis) zustimmen, dass die Schule das kaum leisten kann. Ich bin mir aber nicht so sicher, ob das wirklich ein so bestimmendes Motiv der Bildungspolitik und so sehr ein wirkliches Problem ist. Jedenfalls haben diese Nachlässigkeiten mir es dann ausgesprochen schwer gemacht, die positiven Aspekte wirklich zu würdigen (die aber durchaus vorhanden sind, nur leider eben etwas begraben unter dem einseitigen, schimpfenden Gewetter Kaubes).
außerdem gelesen:
- Lütfiye Güzel: sans trophée. Duisburg, Berlin: go-güzel-publishing 2019.
- Siegfried Völlger: (so viel zeit hat niemand). Gedichte. München: Allitera 2018 (Lyrikedition 2000). 105 Seiten. ISBN 978–3‑96233–075‑0.
- Philipp Hübl: Bullshit-Resistenz. 2. Auflage. Berlin: Nicolai 2019 (Tugenden für das 21. Jahrhundert). 109 154 Seiten. ISBN 978–3‑96476–009‑8.
Müsset im Naturbetrachten
Immer eins wie alles achten;
Nichts ist drinnen, nichts ist draußen:
Denn was innen ist das ist außen.
So ergreifet ohne Säumnis
Heilig öffentlich Geheimnis
—
Freuet euch des wahren Scheins,
Euch des ernsten Spieles:
Kein Lebendiges ist ein Eins,
Immer ist’s ein Vieles.Johann Wolfgang von Goethe, Epirrhema (aus: Sammlung von 1827, Abschnitt “Gott und Welt”)
A word is dead, when it is said
Some say –
I say it just begins to live
That day
Emily Dickinson (1862)

Ins Netz gegangen am 3.4.:
- Oh-ranienplatz, Ih-ranienplatz | taz → roland berg über die fehlende schöne/ästhetische gestaltung von bauten in der stadt heute:
Und stets orientiert man sich dabei an der vermeintlich „schönen“ Vergangenheit. Zeitgenössisch-verbindliche Vorstellungen über das Schöne scheinen zu fehlen. Also das, was Immanuel Kant seinerzeit „Gemeinsinn“ nannte. Heute scheint das Vormoderne aus der Geschichte als einzige Norm für die Gegenwart als verbindlich. Und seltsamerweise wird – zumindest in ästhetischer Hinsicht – von den meisten das Frühere dem Heutigen vorgezogen. […] Retrospektive Ästhetik und Rekonstruktion von (Alt‑)Bauten und ganzer Stadträume bis hin zu Wiederauferstehung des abgerissenen Berliner Schlosses füllen die Leere, die der Verlust des Gemeinsinns für das Schöne in der Gegenwart mit sich gebracht hat.
- Wer Gedichte liest, weiss mehr über das Leben | NZZ → die nzz dokumentiert leicht gekürzt die dankesrede von michael brauch für den alfred-kerr-preis
Bei der Beschäftigung mit der Frage, warum sich einer wie ich mit Gedichten befasst und Rezensionen zu Gedichtbänden schreibt, gelangt man zu ähnlichen Einsichten, wie sie Nicolas Born 1970 formuliert hat: Es hat mit dem eigenen Existieren zu tun, mit dem Versuch, dem Rätsel des eigenen Daseins auf die Spur zu kommen. Beim Lesen von Gedichten ist man fast immer mit den Fragen nach den letzten Dingen konfrontiert, wir werden unmittelbar und ohne schützende Einleitung in medias res geworfen. Die Verse der Gedichte, die wir lesen, vermitteln uns das «punktuelle Zünden der Welt im Subjecte», wie es ein Schüler des Philosophen Hegel formulierte. […] Beim Lesen von Gedichten wird ein Riss sichtbar in dem Weltgebäude, das uns eben noch vertraut schien. Ein Riss wird sichtbar im Weltgebäude, und – so sagt es einmal der russische Weltpoet Ossip Mandelstam – die poetische Rede weckt uns mitten im Wort auf. Gedichte sprechen von dem skandalösen Faktum, dass wir geboren worden sind und dass wir in noch nicht vorstellbarer, aber doch nicht allzu ferner Zukunft sterben werden.
- Über ein richtiges Lehrer-Leben im falschen Schulsystem | Bildungslücken → schreibt über kritik an schule und ihrem system und möglichkeiten der verbesserung und veränderung, auch auf individueller ebene
Denn unser Schulsystem hat so viele grundlegende Mängel, dass ich mir oft die Frage stelle, ob es das überhaupt geben kann: ein richtiges Lehrerleben im falschen Schulsystem. Im Laufe der Zeit habe ich einige (Über-)Lebensstrategien entwickelt.
- Security | Ohne Text singt kein Mensch mit →
Die Change-Management-Fachkraft einer großen Unternehmensberatung und ein Student im dunklen Kapuzenpulli legen in der Schlange nacheinander ihre Gürtel, die Geldbörsen und ihre Laptops in die Durchleuchtungs-Schalen auf das Band der Sicherheitskontrolle. Sie schauen sich kurz lächelnd an, weil beide dasselbe Laptop-Modell aus ihren Handgepäck-Reisetaschen nesteln.
- Radfahren in Kopenhagen und Berlin: Vom Paradies in die Vorhölle| Deutschlandfunk Kultur → die überschrift sagt eigentlich schon alles — ein kurzer, subjektiver vergleich der radfahrmöglichkeiten in den beiden städten
Lieber über gute Radwege ohne Helm als über schlechte mit.
- Jüdisch, ehrenhalber | FAZ → claudius seidl sehr richtig zu dem blödsinnigen geschwätz von “jüdisch-christlicher prägung”:
Insofern schließt die Rede von der „jüdisch-christlichen Prägung“ nicht nur den Islam aus – was ja der eigentliche Zweck dieser Behauptung ist. Auch Aufklärung und Atheismus, auch die, gerade in der deutschen Literaturgeschichte, so wichtige Sehnsucht nach jenem heitereren Himmel, in welchem die menschlicheren Götter der Griechen wohnen, werden von dieser Rede, wenn nicht ausgeschlossen, dann doch zu den Apokryphen einer Tradition, deren Kanon angeblich jüdisch-christlich ist (man möchte die Namen all derer, die diese Rede zu Fremden macht in der deutschen Kultur, gar nicht aufzählen müssen).
- Wunderbarer Eigensinn| Faust Kultur → ein wunderbares, kluges gespräch mit dem lyrikkritiker michael braun, den ich immer wieder gerne lese (auch wenn ich nicht in allem mit ihm übereinstimme …):
Ich würde für mich sagen: Es muss eine Störung der geläufigen Sprachstrukturen erfolgen, wir müssen beim Sprechen und Schreiben die Vertrautheit verlieren – auch in unserem Verstehen -, wir müssen ausgehebelt werden beim Lesen solcher Verse, sonst kann kein gutes Gedicht entstehen. […] Das poetische Selbstgespräch vermag manchmal eben doch andere zu erreichen. Und ob das nun 17 oder 97 oder 1.354 sind, spielt keine Rolle. Also, 1.354, diese berühmte Enzensbergersche Konstante, ist ja noch zu optimistisch angelegt. Nicht 1.354 Menschen pro Population, ob in Island oder den USA, greifen zu Gedichtbänden, sondern nur 135,4 Lyrikleser! Also die Enzensbergersche Konstante müsste durch 10 geteilt werden. 135,4 Rezipienten pro Gedichtband ist die neue Konstante für öffentliche Aufmerksamkeit auf Gedichte.
es ist an der zeit
sich zu radikalisieren
dafür muss ich aber erst einmal aufhören
die wollmäuse unter
dem bett
wegzufegen
[…]
- Lütfiye Güzel, elle-rebelle (2017)

Ich kann nicht sagen, dass ich von Romeo oder Julia wirklich begeistert gewesen wäre. Das liegt vor allem daran, dass ich nicht so recht kapiert habe, was der Text eigentlich (sein) möchte. Dabei hat er unbestreitbar ausgezeichnete Momente und Seiten, neben einigen Längen. Einige der ausgezeichneten Momente finden auf der Ebene der Sprache statt: Es gibt funkelnde einzelne Sätze in einem Meer von stilistischem und gedanklichem Chaos. So habe ich mir das zunächst notiert — aber das stimmt so nicht ganz: chaotisch (also realistisch) erscheint der Text zunächst nur, er entwickelt dann aber schon seine Form. Die zumindest stellenweise hypertrophe Stilistik in der Übersteigerung auf allen Ebenen ist dann auch tatsächlich lustig.
Unermüdlich arbeiteten hinter den Dingen, an denen ich vorbeikam, die Grundmaschinen der Existenz, die seit Jahrtausenden mit Menschenleben gefüttert werden, und die Stadt stützte ihre taube und ornamentale Masse auf dieses unterirdische Magma von Lebensgier, Kampf, Wille, Lust und Bewegung. 227
Was wird in Romeo oder Julia erzählt? Das ist eben die Frage. Irgendwie geht es um einen Schriftsteller, Kurt Prinzhorn (über dessen literarische Werke nichts zu erfahren ist), der bei einem Hotelaufenthalt in Innsbruck von einer benutzten Badewanne und verschwundenen Schlüsseln etwas erschreckt wird. Ratlos bleibt er zurück und denkt immer wieder über die Rätselhaftigkeit des Geschehens nach, während das Autorenleben mit Stationen in Moskau und Madrid weitergeht. Dort nähert sich dann auch die antiklimaktische Auflösung, die in einem Nachspiel in Berlin noch einmal ausgebreitet wird: Der Erzähler wird von einer sehr viel früheren kurzzeitigen Freundin verfolgt und bedroht, die dann beim Versuch, zu ihm zu gelangen (um ihn zu töten), selbst stirbt … Trotz des Plots, der nach Krimi oder Thriller klingt, bleibt Romeo oder Julia bei einer unbeschwerten Rätselhaftigkeit, ein Spiel mit Spannungselementen, sexistischem und völkerpsychologischem Unsinn und anderen Peinlichkeiten. Immerhin sind der knappe Umfang und die eher kurzen Kapitel (übrigens genau 42 — wobei ich bei Falkner in diesem Fall keine Absicht unterstelle) sehr leserfreundlich. Durch die zumindest eingestreuten stilistischen Höhenflüge war das für mich eine durchaus unterhaltsame Lektüre, bei der ich keine Ahnung habe, was das eigentlich sein soll, was der Text eigentlich will. Weder die Krimi-Elemente noch die Popliteraturkomponente oder die massiven Intertextualitätssignale (die ich nicht alle in vernünftige Beziehung zum Text bringe, aber sicherlich habe ich auch eine Menge schlicht übersehen) formen sich bei meiner Lektüre zu einem Konzept: Ein schlüssiges Sinnkonstrukt kann ich nicht so recht erkennen, nicht lesen und leider auch nicht basteln.
Es war Sonntagvormittag, und es gab kaum Leute auf der Straße. Straßen auf den Leuten gab es erst recht nicht. es gab auch keine Busse, die man sich auf der Zunge hätte zergehen lassen können, oder Friseure, die aufgrund einer ungestümen Blümeranz der Ohnmacht nahe gewesen wären. Auch nicht die Heldenfriedhöfe, die in wilden und ausufernden Vorfrühlingsnächten von den Suchmaschinen auf die Bildschirme gezaubert werden, um mit ihren schneeweißen und christuslosen Kreuzen die Surfer in ihre leere Erde zu locken. Es gab nicht einmal die feuchte, warme Hand der katholischen Kirche oder das tröstliche Röcheln des Drachens, dem sein beliebtester Gegner, der heilige Georg, gerade die eiserne Lanze in den Rachen gestoßen hat. Es gab einfach wirklich nur das, was da war, was wir unmittelbar vor Augen hatten, und die Tatsache, dass ich in Kürze losmusste. 78
Das ist mal ein ziemlich trostloses Buch über eine junge Bäuerin aus Alternativlosigkeit, die auch in den angeblich so festen Werten und sozialen Netzen des Landlebens (der „Heimat“) keinen Halt findet, keinen Sinn für ihr Leben. Stattdessen herrscht überall Gewalt — gegen Dinge, Tiere und Menschen. Einerseits ist da also die Banalität des Landlebens, der Ödnis, der „Normalität“, dem nicht-besonderen, nicht-individuellen Leben. Andererseits brodelt es darunter so stark, dass auch die Oberfläche in Bewegung gerät und Risse bekommt. Natürlich gibt es die Schönheit des Landes, auch in der beschreibenden Sprache (die freilich nicht so recht zur eigentlichen Erzählhaltung passt und mit ihren angedeuteten pseudo-umgangssprachlichen Wendunge („nich“, “glaub ich”) auch viele schwache Seiten hat und nerven kann). Aber genauso natürlich gibt es auch die Verletzungen, die die Menschen sich gegenseitig und der “natürlichen” Umwelt gleichermaßen zufügen.
Die Absicht von Niemand ist bei den Kälbern ist schnell klar (schon mit dem Umschlag, sonst spätestens auf der ersten Seite, wenn das Rehkitz beim Mähen getötet wird): Heimat, v.a. aber das Landleben entzaubern — denn es ist auch nur eine Reihe von Banalitäten und Einsamkeiten (auch & gerade zu zweit) und suche nach Liebe, Nähe, Emotionen. Die Natur bleibt von all dem unbeteiligt und eigentlich unberührt. Mich nerven aber so Hauptfiguren wie diese Christin, die — obwohl vielleicht nicht direkt defätistisch — alles (!) einfach so hinnehmen, ohne Gefühlsregung, ohne Gestaltungswillen, ja fast ohne Willen überhaupt, denen alles nur passiert, die alles mit sich geschehen lassen. Dass da dann kein erfüllter Lebensentwurf herauskommt, ist abzusehen. Mir war das unter anderem deshalb zu einseitig, zu eindimensional.
Manchmal glaub ich, jedes Flugzeug, das ich sehe, existiert überhaupt nur, um mich daran zu erinnern, dass ich einer der unbedeutendsten Menschen der Welt bin. Wieso sollte ich sonst in diesem Moment auf einem halb abgemähten Feld stehen? Nicht mal in einer Nazi-Hochburg, nicht mal an der Ostsee oder auf der Seenplatte, nicht mal auf dem Todesstreifen, sondern kurz davor, daneben, irgendwo zwischen alldem. Genau da, wo es eigentlich nichts gibt außer Gras und Lehmboden und ein paar Plätze, die gut genug sind, um da Windräder hinzustellen. 11
Das ist tatsächlich ein ziemlich lustiger Roman über Roland Barthes, die postmoderne Philosophie, Sprachwissenschaft und Psychologie in Frankreich, auch wenn der Text einige Längen hat. Vielleicht ist das aber wirklich nur für Leser lustig, die sich zumindest ein bisschen in der Geschichte der französischen Postmoderne, ihrem Personal und ihren Ideen (und deren Rezeption in den USA und Europa) auskennen. Und es ist auch ein etwas grotesker Humor, der so ziemlich alle Geistesheroen des 20. Jahrhunderts körperlich und seelisch beschädigt zurücklässt.
Ausgangspunkt der mehr als 500 Seiten, die aber schnell gelesen sind, ist der Tod des Strukturalisten und Semiotikers Roland Barthes, der im Februar 1980 bei einen Unfall überfahren wurde. Für die Ermittlungen, die schnell einerseits in das philosophisch geprägte Milieu der Postmoderne führen, andererseits voller Absurditäten und grotesker Geschehnisse sind, verpflichtet der etwas hemdsärmelige Kommissar einen Doktorand, der sich in diesem Gebiet gut auszukennen scheint. Ihre Ermittlungen führt das Duo dann in fünf Stationen von Paris über Bologna nach Ithaca/USA und zurück zu Umberto Eco (der einzige, der einigermaßen unversehrt davonkommt), womit die Reise, die Ermittlung und der Text das Netzwerk europäischen Denkens (mit seinen amerikanischen Satelliten der Ostküste) in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts nachzeichnen. Das ist so etwas wie ein Pop-Philosophie-Thriller, der für mich doch recht zügig seinen Reiz verlor, weil das als Romantext eher banal und konventionell bleibt. Interessant sind höchstens die Metaebenen der Erzählung (die es reichlich gibt) und die Anachronismen (die auch gerne und mit Absicht verwendet werden), zumal die Theorie und ihr Personal immer mehr aus dem Blick geraten
Die im Titel verhießene siebte Sprachfunktion bleibt natürlich Leerstelle und wird nur in Andeutungen — als unwiderstehliche, politisch nutzbare Überzeugungskraft der Rede — konturiert. Dafür gibt es genügend andere Stationen, bei denen Binet sein Wissen der europäischen und amerikanischen Postmoderne großzügig ausbreiten kann.
Während er rückwärtsgeht, überlegt Simon: Angenommen, er wäre wirklich eine Romangestalt (eine Annahme, die weitere Nahrung erhält durch das Setting, die Masken, die mächtigen malerischen Gegenstände: in einem Roman, der sich nicht zu gut dafür wäre, alle Klischees zu bedienen, denkt er), welcher Gefahr wäre er im Ernst ausgesetzt? Ein Roman ist kein Traum: In einem Roman kann man umkommen. Hinwiederum kommt normalerweise die Hauptfigur nicht ums Leben, außer vielleicht gegen Ende der Handlung. / Aber wenn es das Ende der Handlung wäre, wie würde er das erfahren? Wie erfährt man, wann man auf der letzten Seite angekommen ist? / Und wenn er gar nicht die Hauptfigur wäre? Hält sich nicht jeder für den Helden seiner eigenen Existenz? 420
Ein feines, kleines Büchlein. Mit “Interview” ist es viel zu prosaisch umschrieben, denn einerseits ist das ein vernünftiges Gespräch, andererseits aber auch so etwas wie ein Auskunftsbuch: Dieter Grimm gibt Auskunft über sich, sein Leben und sein Werk. Dabei lernt man auch als Nicht-Jurist eine Menge — zumindest ging es mir so: Viel spannendes zur Entwicklung von recht und Verfassung konnte ich hier lesen — spannend vor allem durch das Interesse Grimms an Nachbardisziplinen des Rechts, insbesondere der Soziologie. Deshalb tauchen dann auch ein paar nette Luhmann-Anekdoten auf. Außerdem gewinnt man als Leser auch ein bisschen Einblick in Verfahren, Organisation und Beratung am Bundesverfassungsgericht, an dem Grimm für 12 Jahre als Richter tätig war. Schön ist schon die nüchterne Schilderung der der nüchternen Wahl zum Richter — ein politischer Auswahlprozess, den Grimm für “erfreulich unprofessionell” (126) hält. Natürlich gewinnt das Buch nicht nur durch Grimms Einblick in grundlegende Wesensmerkmale des Rechts und der Jurisprudenz, sondern auch durch seine durchaus spannende Biographie mit ihren vielen Stationen — von Kassel über Frankfurt und Freiburg nach Paris und Harvard wieder zurück nach Frankfurt und Bielefeld, dann natürlich Karlsruhe und zum Schluss noch Berlin — also quasi die gesamte Geschichte der Bundesrepublik Deutschland — Grimm ist 1937 geboren — in einem Leben kondensiert.
Das Buch hat immerhin auch seine Seltsamkeiten — in einem solchen Text in zwei Stichwörtern in der Fußnote zu erklären, wer Konrad Adenauer war, hat schon seine komische Seite. Bei so manch anderem Namen war ich aber froh über zumindest die grobe Aufklärung, um wen es sich handelt. Die andere Seltsamkeit betrifft den Satz. Dabei hat jemand nämlich geschlampt, es kommen immer wieder Passagen vor, die ein Schriftgrad kleiner gesetzt wurden, ohne dass das inhaltlich motiviert zu sein scheint — offensichtlich ein unschöner Fehler, der bei einem renommierten und traditionsreichen Verlag wie Mohr Siebeck ziemlich peinlich ist.
Adorno verstand ich nicht. Streckenweise unterhielt ich mich einfach damit zu prüfen, ober er seine Schachtelsätze korrekt zu Ende brachte. Er tat es. 41
Zu diesem schönen, wenn auch recht kurzen Vergnügen habe ich vor einiger Zeit schon etwas gesondert geschrieben: klick.
außerdem gelesen:
- Dirk von Petersdorff: In der Bar zum Krokodil. Lieder und Songs als Gedichte. Göttingen: Wallstein 2017 (Kleine Schriften zur literarischen Ästhetik und Hermeneutik, 9). 113 Seiten. ISBN 978–3‑8353–3022‑1.
- Hans-Rudolf Vaget: “Wehvolles Erbe”. Richard Wagner in Deutschland. Hitler, Knappertsbusch, Mann. Frankfurt am Main: Fischer 2017. 560 Seiten. ISBN 9783103972443.