Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: literaturkritik

Zeitenwandel

1985: Fritz J. Rad­datz erfin­det ein Goe­the-Zitat, in dem der Dich­ter über den Wan­del Frank­furts nach dem Bahn­hofs­bau schreibt (was eben nicht geht, weil die ers­ten Eisen­bah­nen in Deusch­land erst 1835, 3 Jah­re nach Goe­thes Tod, fuh­ren):

Man begann damals, das Gebiet hin­ter dem Bahn­hof zu ver­än­dern.

– Rad­datz ver­liert danach sei­nen Pos­ten als Lei­ter des Feuil­le­tons der „Zeit“.

2014: Elke Hei­den­reich erfin­det ein Heid­eg­ger-Zitat, in dem der Phi­lo­soph die Ver­nich­tung der Juden Deutsch­lands for­dert:

Die ver­bor­ge­ne Deutsch­heit müs­sen wir ent­ber­gen, und das tun wir, indem wir die Juden end­lich besei­ti­gen aus Deutsch­land.

Der Sen­der, in des­sen Sen­dung Hei­den­reich trotz Wider­spruchs des Kri­ti­kers und Mode­ra­tors Ste­fan Zwei­fel auf der Wahr­haf­tig­keit ihres Zitats beharrt, wei­gert sich erst, das Zitat zu veri­fi­zie­ren bzw. zu prü­fen und kün­digt dann – Zwei­fel.
Mehr muss man wohl zum Nie­der­gang der „Qua­li­täts­me­di­en“ und ihrer Lite­ra­tur­kri­tik nicht mehr sagen.

Ins Netz gegangen (24.8.)

Ins Netz gegan­gen am 24.8.:

  • The Deal That Brought Dvo­rak to New York – NYTimes.com – The con­tract that brought Dvo­rak to the new world—six pages of graceful­ly hand­writ­ten clau­ses, bound by green rib­bon …
    eini­ge Aus­zü­ge davon hat die NYT auch online gestellt: http://www.nytimes.com/2013/08/24/arts/music/the-fine-print-of-dvoraks-contract.html
  • Pro­ble­ma­ti­sche Wahl­kampf­pla­ka­te XII | Rep­ti­li­en­fonds – Aus dem Rep­ti­li­en­fonds:

    Und wäh­rend “der Euro geret­tet wird”, Deut­sche den Hit­ler­gruß zei­gen, der Ver­fas­sungs­schutz so bleibt, wie er ist, um die nächs­te Neo­na­zi-Kader­or­ga­ni­sa­ti­on auf­zu­bau­en, Frau­en mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund zuhau­se blei­ben müs­sen, weil ihnen die CSU dafür einen Hun­ni in die Schür­ze steckt, die Zusam­men­ar­beit mit den Ent­wick­lungs­län­dern zu einer Art Neo-Kolo­ni­sa­ti­on umge­baut wird, die Arbeits­lo­sig­keit in pre­kä­ren Jobs ver­steckt ist und die deut­sche Außen­po­li­tik zur Belang­lo­sig­keit wird, wäh­rend all das pas­siert, soll man eines Sep­tem­ber­mor­gens auf­ste­hen und sagen: “Dann geh’ ich mal die Mut­ti wäh­len.”

  • Tot oder leben­dig im Gangs­ta-Kapi­ta­lis­mus – taz.de – Klaus Wal­ter zum 50jährigen Jubi­lä­um von Mar­tin Luther Kings „I have a dream“-Rede, zu deren (fal­scher) Ver­ein­nah­mung und der Wen­de der schwar­zen Bür­ger­rechts­be­we­gung:

    Ego-Poli­tics erset­zen Bür­ger­rechts­be­we­gung. Fünf­zig Jah­re nach „I have a dream“ sind die Ido­le des schwar­zen Ame­ri­ka Rap­per wie Jay‑Z und Kanye West. Sie haben sich durch­ge­boxt

  • Kolum­ne von Sibyl­le Berg über das Ende der Lite­ra­tur­kri­tik – SPIEGEL ONLINE – Sibyl­le Berg mal wie­der, voll im Recht:

    Jubelnd äußern sich die Leser über ein neu­es drol­li­ges Hit­ler- oder Pfer­de­buch. Wun­der­bar, dass man es kann – grau­en­haft, wenn Ver­brau­cher­mei­nun­gen das ein­zi­ge Kor­rek­tiv in der Kul­tur wer­den. Hat­te ich mir mit mei­ner Aus­sa­ge, zeit­ge­nös­si­sche Kunst wür­de von Exper­ten in den Kanon beför­dert, schon vie­le Freun­de gemacht, gilt es doch auch in allen ande­ren Berei­chen unse­res Lebens. […] Kei­ner muss den Emp­feh­lun­gen eines Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lers fol­gen, aber als Gegen­ent­wurf zur eige­nen Mei­nung war sie ab und zu hilf­reich.

    Und natür­lich brin­gen die Kom­men­ta­re gleich die ach-so-wert­vol­len Gegen­bei­spiel aus der Welt der Lite­ra­tur­blogs. Und die gibt es ja durch­aus. Nur ohne die Schlag­kraft der „alten“ Kul­tur­kri­tik. Und das darf man durch­aus ver­mis­sen, ohne gleich als ewig Gest­ri­ge abge­stem­pelt wer­den zu müs­sen. Und auch, ohne direkt davon etwas zu haben.

  • Pan­zer­faust | Das Maga­zin – Ein schwei­zer Wehr­pflich­ti­ger berich­tet – vom Grau­en, Unsinn und Cha­os des Mili­tärs:

    Und dass man auch noch gehorcht! Und die­se gott­ver­damm­ten Lie­der! (springt auf, geht her­um, ruft aus­ser sich) Ich habe ein­fach so über­haupt kei­nen Bock her­um­zu­bal­lern, mich von Gleich­alt­ri­gen fig­gen zu las­sen und per­ver­se Lie­der zu sin­gen! Muss aber! (stösst die Luft aus, setzt sich, sagt lei­se) Kannst du mir erklä­ren, war­um das jemand geil fin­det? Manch­mal ist es – ziem­lich unheim­lich.

  • Jill Peters Pho­to­gra­phy – Sworn Vir­gins of Alba­nia – ein inter­es­san­tes Pro­jekt der Pho­to­gra­phin Jill Peters: In Alba­ni­en gibt es eine Tra­di­ti­on, nach der Frau­en als Män­ner leben kön­nen – aller­dings unter der Bedin­gung der Jung­fräu­lich­keit & Keusch­heit:

    „Sworn Vir­gin“ is the term given to a bio­lo­gi­cal fema­le in the Bal­kans who has cho­sen, usual­ly at an ear­ly age, to take on the social iden­ti­ty of a man for life. As a tra­di­ti­on dating back hundreds of years, this was some­ti­mes neces­sa­ry in a socie­ty that lived within tri­bal clans, fol­lo­wed the Kanun, an archaic code of law, and main­tai­ned an oppres­si­ve rule over the fema­le gen­der. […] As an alter­na­ti­ve, beco­ming a Sworn Vir­gin, or ‚bur­ne­sha“ ele­va­ted a woman to the sta­tus of a man and gran­ted her all the rights and pri­vi­le­ges of the male popu­la­ti­on. In order to mani­fest the tran­si­ti­on such a woman cut her hair, don­ned male clot­hing and some­ti­mes even chan­ged her name. Male ges­tu­res and swag­gers were prac­ti­ced until they beca­me second natu­re. Most important­ly of all, she took a vow of celi­ba­cy to remain chas­te for life. She beca­me a „he“.

  • The Heart of the Mat­ter: David Miran­da and the Pre­clu­si­on of Pri­va­cy – RT @jayrosen_nyu: This post by @barryeisler (ex-CIA) explains bet­ter than any­thing I’ve read why they stop­ped David Miran­da at Heath­row

Netzfunde vom 6.1. bis zum 11.1.

Mei­ne Netz­fun­de für die Zeit vom 6.1. zum 15.1.:

  • Mal Rosa, mal Hell­blau, meis­tens Mauve | Das Nuf Advan­ced -

    Seit Wochen mischen sich unter­schied­li­che Gedan­ken zum The­ma Spra­che, Femi­nis­mus und Pol­ti­cal Cor­rect­ness und ich hät­te ger­ne einen Arti­kel ver­fasst, der alles ord­net, viel­leicht mit einer Pri­se Humor abrun­det – lei­der bin ich an die­sem Wunsch geschei­tert und schrei­be des­we­gen alles ver­hält­nis­mä­ßig unge­ord­net zusam­men.

    Trotz­dem sehr lesens­wert

  • Die Hoff­nun­gen ruhen auf den Bio-Imkern » Deli­nat-Blog – Die Hoff­nun­gen ruhen auf den Bio-Imkern (via Published artic­les)
  • De:Bug Maga­zin » Rück­blick 2012: Das Jahr des Rai­nald Goetz – Rück­blick 2012: Das Jahr des Rai­nald Goetz

    Neu­lich im Hass Semi­nar. 2012 zeig­te die Goetz’sche Hau-drauf-Poe­to­lo­gie mehr denn je, dass text­li­cher Gro­bia­nis­mus erkennt­nis­för­dernd wirkt.

  • Friedrich’s Law: Ein Vor­schlag | the boy in the bubble -

    Ich schla­ge des­halb ana­log zu Godwin’s Law hier­mit Friedrich’s Law vor:
    Wer als Ver­tre­ter des Staa­tes in einer Ver­hand­lung vor dem Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt argu­men­tiert, die Bür­ger soll­ten dar­auf ver­trau­en, der Staat wer­de das ange­grif­fe­ne Gesetz nicht in ver­fas­sungs­wid­ri­ger Wei­se nut­zen, der hat die Ver­hand­lung mit sofor­ti­ger Wir­kung ver­lo­ren.

  • Der Umblät­te­rer: »Welt­mül­ler« für alle -

    Nun hat sich end­lich ein Anlass gefun­den! Am 5. Janu­ar 2013 fei­ern ein paar Leu­te 60 Jah­re »War­ten auf Godot« on stage. Und da fei­ern wir mit und schi­cken den berühm­tes­ten Godot-Dar­stel­ler aller Zei­ten mit einer Crea­ti­ve Com­mons-Lizenz ins Netz

  • Rund­funk­bei­trag bald fast so schlimm wie Hit­ler « Ste­fan Nig­ge­mei­er -

    Es gibt allem Anschein nach nichts, was dem »Han­dels­blatt« zu falsch oder zu dumm ist, um es im Kampf gegen ARD und ZDF zu ver­wen­den. Den vor­läu­fi­gen (und schwer zu unter­tref­fen­den) Tief­punkt mar­kiert ein Gast­bei­trag der frü­he­ren CDU-Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ten Vera Lengs­feld, den die Zei­tung ges­tern auf ihrer Inter­net­sei­te ver­öf­fent­lich­te.

  • Shun the Plug­in: 100 Word­Press Code Snip­pets from Across the Net

Die Gegenwart, das Glück und die Literatur

Irgend­wie, so habe ich manch­mal den Ein­druck, gibt es über die deutsch­spra­chi­ge Gegen­warts­li­te­ra­tur zu viel und zu wenig Unter­su­chun­gen. Geschrie­ben wird viel und viel geschrie­ben über das Geschrie­be­ne. Aber nur ganz, ganz wenig davon gelingt über­zeu­gend. Richard Käm­mer­lings Buch über „Das kur­ze Glück der Gegen­wart“, in dem er sich der duetsch­spra­chi­gen Lite­ra­tur sein 1989 wid­met, ist so ein Fall: Schön, dass ein Kri­ti­ker ver­sucht, mehr zu tun als ein­zel­ne Bücher beim Erschei­nen zu bespre­chen und in der Rück­schau noch ein­mal zu ord­nen. Scha­de, dass er es so tut.

Das fängt schon ganz vor­ne an, mit der fal­schen Prä­mis­se – und ist dann lei­der auch noch schlecht durch­ge­führt. Also: Käm­mer­lings ver­langt, 1 dass die deutsch­spra­chi­ge Lite­ra­tur gegen­warts­hal­tig sei und ihren Lese­rin­nen und Lesern die Welt der Gegen­wart erklärt. Das ist natür­lich irgend­wie ein heh­rer Wunsch, der zunächst ein­mal schlüs­sig scheint, aber doch Unsinn ist: War­um soll die Lite­ra­tur das tun? Und war­um soll sie es – das ist näm­lich Käm­mer­lings Fol­ge­rung – unbe­dingt und aus­s­schließ­lich mit Stof­fen der angeb­li­chen Gegen­wart tun? Ist Lite­ra­tur nicht etwas mehr als blo­ße Welt­be­schrei­bung? Soll­te sie es nicht sein? Ist das die „Auf­ga­be“ der Kunst: Uns die Welt zu zei­gen und zu erklä­ren? Oder soll­te sie sich nicht mehr um „uns“ küm­mern – wenn sie über­haupt irgend etwas „soll“?

Jeden­falls geht es für Käm­mer­lings dar­um: Autoren sol­len ihre Stof­fe aus den Erschei­nun­gen der Gesell­schaft der Gegen­wart über­neh­men und ent­wi­ckeln, sie sol­len die Krie­ge der letz­ten Jah­re the­ma­ti­sie­ren, sozia­le Ungleich­hei­ten, wirt­schaft­li­che Ent­wick­lun­gen, poli­ti­sches Gesche­hen. Und sie sol­len das offen­bar gefäl­ligst in les­ba­rer, nicht zu aus­ge­fal­le­ner Pro­sa tun – etwas ande­res kennt Käm­mer­lings in die­sem Buch nicht: Roma­ne sind – trotz des damit als groß­spre­che­risch sich erwei­sen­den Unter­ti­tels – sei­ne Form, mit eini­gen Aus­flü­gen in kür­ze­re For­men der erzäh­len­den Lite­ra­tur. Dra­ma­ti­sche Tex­te haben zur Gegen­wart nichts zu sagen? Und Lyrik auch nicht? – Das sieht wie ein typi­scher Fehl­schluss eines Zei­tungs-Kri­ti­kers aus, wür­de ich sagen, der mit sei­nen beruf­lich beding­ten (?) Scheu­klap­pen liest – in der Tat kommt in den deut­schen Zei­tun­gen die Lyrik schon nur extrem wenig vor, die dra­ma­ti­schen Tex­te als Tex­te (abseits der Per­for­manz der (Ur-)Aufführung) eigent­lich über­haupt nicht. Begründ­bar ist das in den Kunst­wer­ken nicht, höchs­tens in der ver­meint­li­chen Grö­ße des Inter­es­ses der Leser­schaft – selbst wenn man Gegen­warts­hal­tig­keit als Maß­stab anlegt, soll­te man erken­nen, dass dazu auch Lyrik und Dra­ma eini­ges zu sagen haben kön­nen.

Lei­der klebt Käm­mer­lings dann auch noch über den aller­größ­ten Teil der zwei­hun­dert Sei­ten bloß am Stoff der bespro­che­nen Bücher: Über blo­ße Inhalts­an­ga­ben, knap­pe Refe­ra­te des beschrie­be­nen Gesche­hens mit ein paar Bei­spiel­sät­zen geht er so gut wie nie hin­aus. Sowie es um die eigent­li­che künst­le­ri­sche Gestal­tung geht, um Stil­fra­gen, um Struk­tu­ren der Tex­te, ihre For­men und Gestal­ten, wird Käm­mer­lings aus­ge­spro­chen unge­nau und nebu­lös – viel­mehr als der „Ton“ eines Autors bleibt meist nicht übrig von sei­ner Ana­ly­se. Das ist natür­lich scha­de und aus­ge­spro­chen unbe­frie­di­gend. Denn es ist ja nicht so, dass er schlech­te Bücher vor­stellt …

Dafür spie­len inter­tex­tu­el­le Net­ze, die Bezie­hun­gen – inhalt­li­che und tem­po­ra­le – zwi­schen den Tex­te, also auch so etwas wie „Schu­len“ des Schrei­bens, eine ganz gro­ße Rol­le. Auch ech­te oder ver­meint­li­che Vor­bil­der sind für Käm­mer­lings sehr wich­tig – meist kom­men sie aus der ame­ri­ka­ni­schen Gegen­warts­li­te­ra­tur. Was die­ses Nach­ei­fern, die­ses Schrei­ben auf Anre­gung ande­rer Tex­te, aller­dings bedeu­tet, bleibt er wie­der­um ger­ne schul­dig: Was heißt es denn, das die­se Bezie­hung erkenn­bar ist? Für Käm­mer­lings scheint das eher ein Vor­teil zu sein, ein Ler­nen von den (rich­ti­gen) Meis­tern. Aber war­um soll mich das inter­es­sie­ren, ob Autor A jetzt B gekannt hat oder nicht? Neben die­sen Bezie­hun­gen der Tex­te unter­ein­an­der sucht Kämmr­lings auch ger­ne äuße­re Anläs­se für das Ent­ste­hen von lite­ra­ri­schen Wer­ken aus­zu­ma­chen. Und wie­der ist mir nicht ganz klar, was das für das Ver­ste­hen (oder auch nur Erfah­ren) des Kunst­wer­kes hel­fen soll. Für ihn ist das aber wich­tig, weil damit ja sein Gebot der Gegen­warts­nä­he erfüllt wird (bzw. zu wer­den scheint).

Die abschlie­ßen­de Lis­te der 10 bes­ten Bücher der letz­ten 20 Jah­re ist dann ja, nun ja, ein etwas selt­sa­mer Gag. Irgend­wie habe ich den Ein­druck, das war eine Ver­lags­idee, der sich Käm­mer­lings auch nur etwas wider­wil­lig gebeugt hat. Die Lis­te selbst bie­tet eine etwas merk­wür­di­ge Mischung, fin­de ich. Das sind ohne Zwei­fel gute Bücher – aber die bes­ten? Rai­nald Goetz ist zum Bei­spiel mit „Abfall für alle“ ver­tre­ten – war­um „Kla­ge“ oder „Los­la­bern“ schlech­ter sein sol­len, erschließt sich mir nicht. Aber die bei­den Bücher kennt Käm­mer­lings offen­bar nicht, muss man ver­mu­ten – im Text selbst kom­men sie näm­lich auch nicht vor – und das ist mir völ­lig unver­ständ­lich. Ingo Schul­zes „Simp­le Sto­ry“ hal­te ich ten­den­zi­ell ja auch für etwas über­schätzt – das ist, genau wie Mar­cel Bey­ers „Flug­hun­de“ etwa so ein Buch, das jeder irgend­wie gut fin­den kann. War­um Tho­mas Lehr aus­ge­rech­net mit „Nabo­kovs Kat­ze“ auf der Lis­te gelan­det ist, das ist mir auch wie­der­um nicht ganz klar – ich hal­te das nicht für sein bes­tes Buch.

Was bleibt als von Käm­mer­lings Ver­such, die (?) deutsch­spra­chi­ge Lite­ra­tur seit ’89 zu erfas­sen und zu erklä­ren? Eine Men­ge Bücher wer­den ange­ris­sen, kurz vor­ge­stellt, refe­riert – von denen mir durch­aus eini­ge wohl durch die Lap­pen gegan­gen sind (und durch­aus eini­ge sich viel­ver­spre­chend anhö­ren). Aber ganz, ganz vie­les – und lei­der eben vie­les unheim­lich Gutes – fällt durch das Ras­ter. Unver­ständ­lich bleibt mir eini­ges: War­um zum Bei­spiel Rein­hard Jirgl nur ein­mal nur neben­bei erwähnt wird (die Kunst des name-drop­ping beherrscht Käm­mer­lings ziem­lich gut …) – gera­de in das Kapi­tel zum erin­nern­den Roman hät­te er wun­der­bar gepasst. Und frag­lich bleibt dann doch auch, ob man aus Büchern wie denen von Kurz­eck (der etwas mehr Gna­de fin­det als Jirgl, aber natür­lich vor allem durch das unver­meid­li­che „proust­sche“ Erzäh­len cha­rak­te­ri­siert wird) nicht genau­so viel oder sogar mehr über uns und die Gegen­wart ler­nen kann als aus ver­meint­lich aktu­el­len Büchern (was bei Käm­mer­lings ja nur und vor allem aktu­el­le Stof­fe meint), die sich den spe­zi­fi­schen Situa­tio­nen der Gegen­wart, d.h. der letz­ten ca. 10 Jah­re, wid­men.

Aber das führt mich ja wie­der an den Anfang: Die For­de­rung der Gegen­warts­hal­tig­keit der Lite­ra­tur ist mei­nes Erach­tens kunst­frem­der Unsinn, der – wie Ina Hart­wig in der Süd­deut­schen ganz rich­tig anmerk­te – der Lite­ra­tur eine Stell­ver­tre­ter­funk­ti­on zuweist: Sie soll erle­ben, was wir selbst nicht tun. Der Anspruch, Lite­ra­tur müs­se uns unse­re „Gegen­wart“ irgend­wie erklä­ren, ist aber ein fal­scher, der den Kunst­wer­ken auch nur sel­ten gut tut. Dafür gibt es Jour­na­lis­ten. Und bezeich­nen­der­wei­se ist Käm­mer­lings von jour­na­lis­ti­schen Schreib­wei­sen wie Moritz von Uslars „Deutsch­bo­den“ eben auch sehr ange­tan – logisch, denn sie erfül­len eben sei­ne Bedin­gung der Gegen­warts­nä­he und ‑beschrei­bung. Aber Kunst soll­te doch etwas mehr sein. Und ist es ja auch immer wie­der – Käm­mer­lings zum Trotz sozu­sa­gen.

Richard Käm­mer­lings. Das kur­ze Glück der Gegen­wart. Deutsch­spra­chi­ge Lite­ra­tur seit ’89. Stutt­gart: Klett-Cot­ta 2011. 208 Sei­ten. ISBN 978−3−608−94607−9.

Show 1 foot­no­te

  1. Ja, er ver­langt das wirk­lich – er will, dass das die Autoren tun, er will ihnen vor­schrei­ben, wie Lite­ra­tur zu sein hat. Auch wenn er natür­lich klug genug ist, eine sol­che prä­skrip­ti­ve Ästhe­tik mit genü­gend Caveats zu ver­se­hen: Im Kern geht es ihm dar­um, eine bestimm­te Art von Lite­ra­tur als die (ein­zig) rich­ti­ge zu set­zen.

wenn man nicht lesen kann …

… dann soll­te man eigent­lich nicht gera­de als lite­ra­tur­kri­ti­ke­rin arbei­ten. war­um ich die­se bin­sen­weis­heit hier nie­der­schrei­be? weil vere­na auf­fer­mann heu­te ihre kri­tik von peter kurz­ecks „okto­ber und wer wir selbst sind”, über das ich hier im blog ja auch schon etwas hin­ter­las­sen habe, in der süd­deut­schen zei­tung (lei­der online nicht zu fin­den) ver­öf­fent­licht. und da sind so eini­ge fehl­lek­tü­ren gesam­melt. zum bei­spiel wird Peter Kurz­eck zum „Fall des abso­lu­ten Prä­sens.” das klingt zwar schlüs­sig, stimmt aber über­haupt nicht. denn das span­nen­de und fas­zi­nie­ren­de an kurz­ecks schrei­ben ist ja gera­de, dass er sich nicht (mehr) im prä­sens auf­hält, dass er wie kaum ein ande­rer schrift­stel­ler das ver­ge­hen und die ver­gäng­lich­keit der zeit, des lebens und jeder erin­ne­rung auf­schreibt, zu bewäl­ti­gen ver­sucht, in sprach­li­che for­men fasst. und wie man dann auf die idee kommt, kurz­eck (oder sei­nen erzäh­ler, aber die­se unter­schei­dung inter­es­siert auf­fer­mann offen­bar – wie die meis­ten lite­ra­tur­kri­ti­ker – über­haupt nicht, sie unter­stellt ganz unbe­dingt einen „radi­ka­len BIo­gra­phish­mus”) als „ideale[n] Igno­rant der Außen­welt” zu cha­rak­te­ri­sie­ren, erschließt sich mir auch nicht so ganz.

noch ein bei­spiel gefäl­lig? aber ger­ne doch: auf­fer­mann schreibt über „Okto­ber und wer wir selbst sind”: „Noch bei kei­nem Buch, behaup­tet er, habe die Spra­che ihn so sehr gepackt.” aber das ist blöd­sin­nig. sie macht hier gleich zwei feh­ler: zum einen ist das nicht peter kurz­eck, der die­se behaup­tung äußert, son­dern der erzäh­ler peta. vor allem aber geht es über­haupt nicht das aktu­el­le Buch von Kurz­eck, son­dern um das letz­te Buch des Erzäh­lers! und eini­ge absät­ze spä­ter wird die­se fehl­lek­tü­re noch poten­ziert. jetzt wird eine äuße­rung des erzäh­lers zu sei­nem letz­ten buch („Ein Buch, wie es noch keins gibt, aber wie es scheint, merkt das kei­ner.” – übri­gens auch noch falsch zitiert)) umstands­los peter kurz­eck in den mund gelegt und auch noch nach 1983 datiert

was mich sonst noch so nervt an auf­fer­manns aus­las­sun­gen: sät­ze wie die­ser hier: „Eine Spra­che, die den Satz alter Ord­nung ver­mei­det.” – das steht hier ein­fach mal so her­um. aber was heißt dass denn? ist es über­haupt wahr? und ihre kri­tik ist voll von sol­chen din­gen – sonst aber bie­tet sie wenig, viel zu wenig. natür­lich wer­den die ver­glei­che zu Robert Wal­ser und Mar­cel Proust wie­der auf­ge­ru­fen (wie es sich in letz­ter zeit ein­ge­bür­gert hat, natür­lich nur ex nega­tivo: „Auf die hap­pi­gen und immer wie­der zu lesen­den Ver­glei­che von Proust bis Robert Wal­ser ver­zich­ten wir.” (übri­gens auch mal so ganz neben­bei ein reich­lich unglück­li­cher satz …)). natür­lich wird wie­der fest­ge­stellt, dass man kurz­eck liebt oder eben nicht (ob das so wahr ist, dar­an zweif­le ich durch­aus noch): „Ent­we­der hält man das aus und ver­fällt der Sprach­me­lo­die […] oder nicht. Es gibt kei­ne Vier­tel- oder Halb­lie­be, nur ganz oder gar nicht.” und natür­lich wird auch wie­der das topos der anspruchs­vol­len lite­ra­tur, die zu weni­ge leser fin­det und hat, bemüht: „Bestimmt zu weni­ge, bestimmt schreibt die­ser eigen­wil­li­ge Frank­fur­ter Kyni­ker das Gegen­teil von Mas­sen­wa­re.” (auch das ver­steckt sich wie­der so eine behaup­tung: kurz­eck sei ein Kyni­ker. so wie ich peter kurz­eck, ihn selbst und sei­ne bücher, ken­ne und ande­rer­seits den Kynis­mus als bewusst ent­schie­de­ne Ent­sa­gung mate­ri­el­ler Güter und damit der gewoll­ten Rück­kehr zu der Ein­fach­heit des Natur­zu­stan­des ver­ste­he, kom­me ich da nicht zu einer über­ein­stim­mung. aber lei­der führt auf­fer­mann ja nicht wei­ter aus, inwie­fern kurz­eck kynisch sei.

ein kleiner nachtrag zum hubert-fichte-jubiläum

„Es erge­ben sich Über­schnei­dun­gen“ heißt es am Anfang der Palet­te. Und das ist, das klit­ze­klei­ne Hubert-Fich­te-Jahr zum 20. Todes­tag macht es deut­lich, noch sehr unter­trie­ben. Im Zen­trum steht natür­lich das etwas über­ra­schen­de Erschei­nen des Ban­des Die zwei­te Schuld von Fich­te selbst. Fischer, inzwi­schen Fich­tes Haus­ver­lag, hat sich ent­schlos­sen, die Geschich­te der Emp­find­lich­keit, die­ses viel­köpf­ri­ge Mons­ter, mit dem Fich­te sein schrift­stel­le­ri­sches Werk krö­nen woll­te, damit vor­zei­tig zum Abschluss zu brin­gen. Das bringt aller­dings wenig Über­ra­schun­gen, wenig prin­zi­pi­ell Uner­war­te­tes. Auch die span­nen­de Fra­ge, war­um Fich­te die­ses Buch mit einem Sperr­ver­merk ver­se­hen hat­te, hängt plötz­lich ganz und gar in der Luft: So spek­ta­ku­lär ist das alles gar nicht. Über den Zeit­punkt der Ver­öf­fent­li­chung kann man übri­gens treff­lich strei­ten. Und das ist schon typisch für alles, was mit der Geschich­te der Emp­find­lich­keit zu tun hat: Defi­ni­ti­ve Klar­hei­ten gibt es hier im Moment fast gar kei­ne, zu oft hat Fich­te hier selbst noch geschwankt. Auch sei­ne Anga­ben zur Dau­er der Sperr­frist vari­ie­ren, man hät­te das Buch auch guten Gewis­sens und mit guten Argu­men­ten erst in 10 Jah­ren her­aus­brin­gen kön­nen. Davon abge­se­hen, ist Die zwei­te Schuld eigent­lich ein unmög­li­ches Buch. Und das mehr­fach: Es ist ein­fach nicht fer­tig – und nir­gends­wo in der Geschich­te der Emp­find­lich­keit fällt das so sehr auf wie hier -, es ist aber auch eine dop­pel­te Zumu­tung an den Leser: Von Fich­te selbst und sei­tens der Her­aus­ge­ber.

Das The­ma ist der deut­sche Lite­ra­tur­be­trieb – mit einem leicht eth­no­lo­gisch gefärb­ten Blick und der ewi­gen Suche suche nach den wah­ren Moti­ven des Han­delns ent­wi­ckelt Fich­te die Sze­ne­rie des Lite­ra­ri­schen Col­lo­qi­ums in Ber­lin mit sei­nen Teil­neh­mer, den Dozen­ten und Fich­te selbst. Das Buch trägt außer­dem den Unter­ti­tel „Abbit­te an Joa­chim Neu­grö­schel“. Und damit ist offen­bar das stärks­te Motiv für die­se Arbeit genannt. Denn Fich­te geht es gar nicht so sehr um das LCB selbst, son­dern viel mehr um die sich dort mani­fes­tie­ren­den Macht­struk­tu­ren und kreuz und quer ver­lau­fen­den Anti- und Sym­pa­thien. Erar­bei­tet und geschrie­ben ist das ganz offen­sicht­lich aus einem Unbe­ha­gen, als Teil­neh­mer in die­seSi­tua­ti­on selbst ver­wi­ckelt gewe­sen zu sein, die anläss­lich einer Kri­tik eines Tex­tes von Neu­grö­schel durch Grass, die Fich­te beden­ken­los fort­setz­te, in einem sym­bo­li­schen Juden- und/​oder Schwu­len­mord gip­felt. Dafür hat Fich­te eini­ge der dama­li­gen Teil­neh­mer inter­viewt. Und das sind natür­lich wie­der typi­sche Fich­te-Inter­views, mit ihrer beson­de­ren Inten­si­tät und dem zwar genau geführ­ten und gesteu­ert, aber sich stets kol­lo­quial geben­den Dia­log-Ablauf. Gespro­chen hat er mit Neu­grö­schel selbst, mit Elfrie­de Gers­tel, Her­mann Peter Piwitt und Wal­ter Höl­le­rer. Dazu kom­men immer wie­der kur­ze Skiz­zen, klei­ne Situa­ti­ons­be­schrei­bun­gen aus Ber­lin und der Grup­pe 47. Und am Ende noch eine frü­he Fich­te-Erzäh­lung, „Im Tief­stall“.

Ver­zwei­feln kann man an die­sem Buch, d.h. an sei­ner äuße­ren Gestalt. Denn so lobens­wert es ja von den Leu­ten bei Fischer ist, das noch zu ver­öf­fent­li­chen – hät­te man das nicht gleich rich­tig machen kön­nen? Wie die gesam­te Geschich­te der Emp­find­lich­keit ist das auch ein furcht­ba­rer misch­masch und nicht nur völ­lig inkon­se­quent, son­dern auch unprak­tisch und dadurch fast unles­bar. Z.B. das Höl­le­rer-Inter­view, oder bes­ser gesagt die kärg­li­chen Res­te, die Fich­te noch selbst tran­skri­biert hat­te. Im Manu­skript sind die Gesprächs­fet­zen noch mit den Initia­len ver­se­hen – weil zwi­schen­durch vie­le Dia­log­tei­le feh­len, ist das ja nicht gera­de ganz ver­kehrt. Jetzt ste­hen da nur noch Spie­gel­stri­che. Und spä­tes­tens nach ein paar sei­ten muss man raten, wer gera­de spricht – sehr müh­sam ist so etwas… Denn damit ist der zen­tra­le Teil des geplan­ten Ban­des eigent­lich über­haupt nicht les­bar, ganz zu schwei­gen davon, dass noch zwei wich­ti­ge Inter­views ganz und gar feh­len, die hat Fich­te noch nicht ein­mal geführt: Mit Oswald Wie­ner und HC Art­mann.

Schon des­halb wäre der Unter­ti­tel, den Fich­te notiert hat, eigent­lich gar nicht so schlecht gewe­sen: Frag­men­te. Nun heißt der Band aber „Glos­sen“, eine der frag­wür­di­ge­re­ren Her­aus­ge­ber-Ent­schei­dun­gen. Die zwei­te Schuld ist wahr­schein­lich vor allem der Band der Geschich­te der Emp­find­lich­keit, der die Schwie­rig­kei­ten – und lei­der eben auch die Unzu­läng­lich­kei­ten – die­ser pos­tu­men Edi­ti­on am stärks­ten her­vor­te­ten lässt. Nur als zwei Bei­spie­le noch: Das unfer­ti­ge Höl­le­rer-Inter­view dru­cken die Her­aus­ge­ber mit den Coun­ter­num­mer ab, denn: „Die Lizenz Fich­tes, eine unor­tho­do­xe Gram­ma­tik und Syn­tax unge­fil­tert zu belas­sen und dafür eine ent­spre­chen­de infor­mel­le Inter­punk­ti­on ein­zu­set­zen, machen die­se zum Instru­ment, das prä­zi­se das Aus­ge­sagt über­mit­telt“ – was immer das hei­ßen soll. Oder die abschlie­ßen­de Erzäh­lung „Im Tief­stall“. Die wird gedruckt nach einer Ver­öf­fent­li­chung von 1965, nicht nach der Form, in der sie Hubert Fich­te maschi­nen­ge­schrie­ben in das Manu­skript ein­ge­fügt hat­te – ohne das irgend­wie zu begrün­den.

Ähn­lich unbe­frie­di­gend sind auch ande­re Novi­tä­ten, z.B. die Edi­ti­on der Hör­wer­ke bei Zwei­tau­send­eins. Immer­hin ist sie jetzt über­haupt mal erschie­nen, nach lan­gen, lan­gen Ver­zö­ge­run­gen. Aber auch hier wie­der ist die Art der Ver­öf­fent­li­chung zumin­dest ernüch­ternd, wenn nicht ver­är­gernd. Davon, dass die Kom­pri­mie­rung auf 2 mp3-CDs weder der klang­qua­li­tät noch dem Hand­ling irgend­wie ent­ge­gen­kommt (so teu­er sind doch CD-Pres­sun­gen gar nicht mehr?), die Aus­wahl bleibt, um es mil­de aus­zu­drü­cken, unbe­frie­di­gend. Fast alles wich­ti­ges fehlt: die vie­len Hör­spie­le – zu nen­nen wäre ja nur Ich wür­de ein oder Lohen­steins Ibra­him Bassa schlum­mern wei­ter­hin in den Rund­funk­ar­chi­ven – mit Aus­nah­me von Gott ist ein Mathe­ma­ti­ker, das ja schon vor eini­ger Zeit bei sup­po­sée wie­der zugäng­lich gemacht wur­de. Dort gibt es ja auch schon die wirk­lich her­aus­ra­gen­de Fich­te-Lesung im Ham­bur­ger Star­club, sei­ne Palais‑d’amour-Interviews und sei­ne Gesprä­che mit Lil Picard. Das alles hat Zwei­tau­send­eins natür­lich nicht. Dafür eine Men­ge Rund­funk­le­sun­gen, deren Aus­sa­ge­kraft sich in sehr engen Gren­zen bewegt. Denn die sind zwar alle­samt nicht schlecht, aber doch auch ziem­lich belang­los. Denn Fich­te liest in der ste­ri­len Atmo­sphä­re des Stu­di­os gewöhn­lich auch ent­spre­chend nüch­tern. Höhe­punk­te sind aber auch zu ver­zeich­nen. Das Fea­ture Djem­ma el Fna, das fast schon ein Hör­spiel ist (und damit ganz typisch für Fich­tes ganz eige­nen umgang mit dem Medi­um Radio). Auch das kur­ze Hör­spiel Romy und Juli­us von 1973, eine rol­len­ver­tau­sche Ver­si­on von Romeo und Julia, gehört ohne Zwei­fel zu den bes­se­ren arbei­ten Fich­tes. Und immer­hin ist auch San Pedro Cla­ver dabei, das Fich­te selbst zu sei­nen zen­tra­len Wer­ken gezählt hat und das sich die letz­ten Lebens­ta­ge des spa­ni­schen Jesui­ten und Mis­sio­nars in einem echt radio­pho­nen, 14stimmigen ima­gi­nä­ren Raum vor­stellt – eine para­do­xe Figur, gefan­gen zwi­schen ihrer Lie­be zu den Skla­ven und der Ange­hö­rig­keit zu einer ver­skla­ven­den Macht, der katho­li­schen Kir­che, vor­ge­stellt in einer Art sze­ni­scher Ritus, den Fich­te fas­zi­nie­rend sicher und wirk­mäch­tig beherrsch­te.

Es hat sich aber noch mehr getan. Schon im letz­ten jahr, 2005, war in den Ham­bur­ger Deich­tor­hal­len die „Lebens­rei­se“ von Hubert Fich­te und Leo­no­re Mau zu sehen. Das Kata­log­buch dazu schrieb Wil­fried F. Schmoel­ler – als eine Art vor­läu­fi­ge Bio­gra­phie Fich­tes. Er scheut nicht vor sei­nen Urtei­len zurück, weiß auch viel und hat eini­ges Licht in die Rei­sen Fich­tes gebracht. Nur zu Leo­no­re Mau und ihren Foto­gra­phien fällt ihm erstaun­lich wenig ein, näm­lich fast gar nichts. Dafür gibt es – bei einem als Aus­stel­lungs­ka­ta­log kon­zi­pier­ten Buch natür­lich kaum anders zu erwar­ten – eine gro­ße Aus­wahl von ihr und ande­ren Foto­gra­phen (etwa Chris­ti­an von Alvens­le­ben, der Fich­te für sein wun­der­schön kit­schi­ges Port­fo­lio 1960 einen Tag bei der Land­wirt­schafts­ar­beit in der Pro­vence beob­ach­te­te). Das hät­te ein schö­nes und ein gutes Buch wer­den kön­nen, das auch ohne die Aus­stel­lung hilf­reich und wohl­tu­end ist. Denn Schoel­ler schreckt nie vor deut­li­chen Wor­ten und eige­nen Wer­tun­gen zurück. Aber es ist doch nur eine Mogel­pa­ckung, ein Eti­ket­ten­schwin­del: Leo­no­re Mau ist eben wie­der ein­mal nur die foto­gra­fie­ren­de Dich­ter­gat­tin, die zur Illus­tra­ti­on ein paar Bil­der bei­steu­ern darf, sonst aber nach Mög­lich­keit über­haupt nicht vor­kommt. Es bleibt also doch wie­der nur Fich­tes „Lebens­rei­se“, die für Schoel­ler eher ein „Lebens­la­by­rinth“ ist (aber wer kann das nicht von sich behaup­ten?) Sei­nem „Rei­se­fahr­plan“ folgt Schoel­ler, mit aus­wer­tung der ver­streu­ten Daten, auch der Rei­se­päs­se, und stellt pflicht­ge­mäß auch die dabei ent­stan­den Bücher vor, was bei der Geschich­te der Emp­find­lich­keit zu recht kurio­sen Ein­schät­zun­gen und Ver­knap­pun­gen führt. Es hat fast den Anschein, als sei das als Vor­ar­beit, Para­li­po­me­na einer Bio­gra­phie zu ver­ste­hen – die Fra­ge ist dann nur noch, wer wagt sich als ers­tes, sei­ne Arbeit wirk­lich so zu nen­nen. Denn geschrie­ben wird sie, mehr oder weni­ger aus­führ­lich und direkt, von nahe­zu allen, die über Fich­te ver­öf­fent­li­chen. Es wäre wohl auch das nächs­te, das fol­ge­rich­ti­ge Pro­jekt – neben einer „rich­ti­gen“ Werk­aus­ga­be. Aber gera­de die wird wohl, vor allem was die Geschich­te der Emp­find­lich­keit betrifft, noch eine Wei­le Desi­de­rat blei­ben.

Auch Peter Braun hat sich auf eine Rei­se bege­ben, Eine Rei­se durch das Werk von Hubert Fich­te. Das ist ein Ver­such, eine „spe­zi­fi­sche Poe­tik der Orte“ zu beob­ach­ten oder zu kon­sti­tu­ie­ren. Aber genau in die­sem Punkt bleibt die Arbeit von Braun fra­gil, schwam­mig, und unbe­stimmt: Wor­in sich denn die Orte nun genau unter­schei­den, was das „orts­ge­bun­de­ne Erzäh­len“ (43) denn nun wirk­lich aus­macht – wird kaum deut­lich. Klar, bestimm­te Din­ge passier(t)en nun ein­mal an bestimm­ten Orten. Aber ist Fich­tes Zugriff auf die Djem­ma el Fna wirk­lich kate­go­ri­al anders als der auf, sagen wir, den Gän­se­markt? Oder die Palet­te? Braun geht übri­gens noch ein Schritt­chen wei­ter als Schoel­ler und sieht den gan­zen lite­ra­ri­sche out­put gleich als „Lebens­schrei­bung“ – damit ist er dann end­gül­tig leg­timiert, das Leben und das Werk des Autors belie­big durch­ein­an­der zu wer­fen. Ent­spre­chend umstand­los springt Braun dann auch hin und her. Über­haupt ist er ein ganz gro­ßer Inte­gra­tor. Alles wird zu einem gro­ßen Buch, Leben und Werk, Roman und Inter­view, Hör­spiel und Fea­ture wird zu einem ein­zi­gen, gigan­ti­schen Werk zusam­men­ge­mixt – natür­lich hat er dabei ein klei­nes biss­chen Recht, die inter­tex­tu­el­len Bezü­ge sind ja schon bei der ers­ten Lek­tü­re über­haupt nicht zu über­se­hen. Aber er ver­liert dabei doch lei­der immer wie­der die jeweils eige­nen Qua­li­tä­ten der Tex­te aus den Augen. Zeit­li­che Struk­tu­ren der Erzäh­lun­gen Fich­tes kann Peter Braun etwa nur unzu­rei­chend, nur sehr neben­bei, über­haupt ein­mal wür­di­gen. Wenn man das so hin­ter­ein­an­der weg liest, drängt sich fast ein etwas unlieb­sa­mer Ein­druck auf: Irgend­wie bleibt ein scha­les Gefühl. Denn neu ist das nicht. Das führt bekann­te Moti­ve, Ideen, Ana­ly­sen wei­ter, aber ohne dabei wirk­lich neue Per­spek­ti­ven auf Fich­tes Wer­ke zu eröff­nen: Ein beson­de­rer Erkennt­nis­ge­winn ist hier nicht zu beob­ach­ten. Das trifft im grun­de vor allem Peter Brauns Buch – von einem Aus­stel­lungs­ka­ta­log muss man nicht unbe­dingt eigen­stän­di­ge For­schung erwar­ten. Aber auch Braun hat das bedacht und will die „Rei­se“ als Ein­füh­rung ver­stan­den sehen: „vor­ran­gi­ges Ziel […] ist es, die Schwel­le vor der eige­nen Lek­tü­re zu sen­ken.“ (16) Aber dann stellt sich natür­lich die Fra­ge: für wen bloß? Und es macht dann doch den Ein­druck, als sol­le es den geplag­ten Stu­den­ten von der Last befrei­en, Fich­te über­haupt zu lesen – die exten­si­ve, sei­ten­lan­ge Zitie­re­rei trägt da nicht unwe­sent­lich zu bei.

Wer lesen kann und das womög­lich gar selbst tut, ist dage­gen ein­deu­tig im Vor­teil – das Meis­te von dem, was Braun hier ver­sam­melt, kann, soll und muss man doch recht eigent­lich selbst ent­de­cken – es hat etwas von Vor­ver­dau­ung, wenn er aus­führ­lich und durch­aus in der Sache zutref­fend, aber letzt­lich auch über­flüs­sig für den­ken­de und ver­ste­hen­de Leser, die gan­zen Quer­ver­bin­dun­gen in Fich­tes Pro­sa auf­zu­trö­deln sucht.
Sein Blick­win­kel ist dafür natür­lich sehr stark fokus­siert (um ihn nicht ein­ge­schränkt zu nen­nen) und etwas mono­gam: Er kon­zen­triert sich auf die ein­zel­nen Orte, wo Schoel­ler mehr das Ele­ment der Rei­se, also der Bewe­gung, im Blick­feld hat: die per­ma­nen­te Ver­än­de­rung, Trans­gres­si­on, Trans­for­ma­ti­on, wie auch immer. Und er ent­deckt die­se Pro­zes­se auch in der Pro­sa Fich­tes, v.a. in der eth­no­lo­gi­schen (falls man die mal behelfs­wei­se so benen­nen darf, auch wenn es nicht ganz exakt zutrifft) natür­lich beson­ders deut­lich. Für Schoel­ler zeigt sich Fich­tes Rei­sen dabei letzt­lich nur als (mehr oder min­der) äußer­li­cher Aus­druck einer „Expe­di­ti­on nach Innen“, eines per­ma­nen­ten For­schens in nur schein­bar chao­ti­schen Sprün­gen zwi­schen Ham­burg und Bahia de Sal­va­dor, Schro­ben­hau­sen und São Luíz de Maran­hão.

Allen, die das schon selbst gemerkt haben und sich immer noch näher mit Fich­te beschäf­ti­gen wol­len, sei unbe­dingt emp­foh­len: Micha­el Fischs Biblio­gra­phie, die auch gera­de in einer Neu­fas­sung erschie­nen ist. Selbst so etwas harm­lo­ses wie eine Biblio­gra­phie, die den pas­sen­den Titel Explo­si­on der For­schung führt, geht nicht ohne Tru­bel von­stat­ten, wenn es um Hubert Fich­te geht. Damals, beim Erschei­nen der ers­ten Fas­sung 1996, gab es eini­gen Wir­bel mit der Ham­bur­ger Hubert-Fich­te-Arbeits­tel­le, die auch Anspruch auf die­se Biblio­gra­phie erhob. Aber egal wie: Hilf­reich ist das schon, auch wenn die Glie­de­rung nicht immer bis ins Letz­te über­zeugt. Und doch ist sie eben genau in die­ser Form (auch) ein kla­res Zei­chen für den momen­ta­nen Umgang mit Fich­te: Die Erfor­schung scheint sich in einer Kon­so­li­die­rungs­pha­se, im Über­gang, zu befin­den: Der Autor ent­schwin­det lang­sam aber unauf­halt­sam und muss immer wie­der neu ent­deckt, d.h. ver­stan­den wer­den. Es könn­ten sich also noch ein paar mehr Über­schnei­dun­gen erge­ben.

  • Hubert Fich­te: Die zwei­te Schuld. Glos­sen. (Die Geschich­te der Emp­find­lich­keit). Frankfurt/​Main: S. Fischer 2006.
  • Hubert Fich­te: Hör­wer­ke 1966–86. Hres­aus­ge­gebn von Robert Galitz, Kurt Krei­ler und Mar­tin Wein­mann. Frankfurt/​Main: Zwei­tau­send­eins 2006.
  • Wil­fried F. Schoel­ler: Hubert Fich­te und Leo­no­re Mau. Der Schrift­stel­ler und die Foto­gra­fin. Frankfurt/​Main: S. Fischer 2005.
  • Peter Braun: Eine Rei­se durch das Werk von Hubert Fich­te. Frankfurt/​Main: Fischer Taschen­buch 2005.
  • Micha­el Fisch: Hubert Fich­te – Explo­si­on der For­schung. Biblio­gra­phie zu Leben und Werk von Hubert Fich­te. Unter Berück­sich­ti­gung des Wer­kes von Leo­no­re Mau. Bie­le­feld. Ais­the­sis 2006.

(steht auch in der test­card no. 16)

deutsche literaturgeschichte in einer stunde

auch wenn kla­bund der ver­fas­ser der jetzt als nach­druck der zwei­ten auf­la­ge von 1921 beim tex­tem-ver­lag erschie­nen deut­schen lite­ra­tur­ge­schich­te in einer stun­de. von den ältes­ten zei­ten bis zur gegen­wart istdie auto­ri­tät des schrift­stel­lers reicht in die­sem fal­le nicht aus, über die män­gel sol­cher unter­neh­men hin­weg­zu­täu­schen. das sind natür­lich zufor­derst ganz prin­zi­pi­el­le – eine sol­che „lite­ra­tur­ge­schich­te“ kann weder lite­ra­tur noch geschich­te sein, sie ist bloß eine knap­pe ver­samm­lung der höhen­kamm­li­te­ra­tur, eine auf­zäh­lung des kanons. auch wenn kla­bund sein ziel noch anders ver­fehlt – in einer stun­de wird der text kaum zu schaf­fen sein, ich brauch­te fast drei dafür (und habe nicht sehr getrö­delt). auf­fal­lend an kla­bunds unter­neh­mung sind eher die immer wie­der ein­ge­streu­ten unbe­kann­ten namen – z.b. johann chris­ti­an gün­ther, zu dem ihm ein­fällt: „wie ein sturm­wind braust [er], der göt­ter­bo­te einer neu­en zeit, in die deut­sche dich­tung.“ (35) anläss­lich eines ande­ren unbe­kann­ten schwingt er sich zu wah­ren groß­ta­ten auf: salo­mon „geß­ner war ein­mal eine euro­päi­sche berühmt­heit. es wird nicht bes­ser wer­den in der welt, ehe es geß­ner nicht wie­der ist. wir wer­den erst dann ewi­gen frie­den haben, wenn arka­di­sche dich­ter wie er wahr­haft popu­lär gewor­den sind.“ (41)

und damit sind wir ja auch schon beim eigent­li­chen pro­blem: kla­bund ist ein beken­nen­der und gna­den­lo­ser empha­ti­ker, um eine kürz­lich auf­ge­brach­te unter­schei­dung hier anzu­wen­den. als autor hat er natür­lich jedes recht, ein sol­cher zu sein – als lite­r­ar­his­to­ri­ker mei­nes erach­tens aber über­haupt kei­nes. und es ist natür­lich sehr pas­send, dass aus­ge­rech­net vol­ker wei­der­mann, an des­sen „licht­jah­re“ sich die von hubert win­kels (zeit vom 30.3.) ein­ge­führ­te unter­schei­dung der lite­ra­tur­kri­ti­ker zwi­schen empha­ti­kern und gnos­ti­kern über­haupt ent­zün­de­te, das vor­wort zu die­sem nach­druck bei­steu­ert: eine rück­ver­ge­wis­se­rung des eige­nen unter­neh­mens – seht her, auch der gro­ße kla­bund war (wie ich) ein empha­ti­ker! und die „licht­jah­re“ sind dann auf ein­mal so etwas wie eine fort­set­zung von kla­bunds werk, der ja zu beginn des 20. jahr­hun­derts auf­hört zu lesen und sich zu begeis­tern (und schon ab der zwei­ten hälf­te des 19. jahr­hun­derts gehö­rig ins schwim­men gerät und kaum noch sor­tiert bzw. zwi­schen gut und schlecht unter­schei­det und des­halb not­ge­drun­gen auch nichts mehr wirk­lich beschreibt, son­dern alles nur noch gehetzt anrei­ßen kann).

als sol­cher prä­sen­tiert kla­bund natur­ge­mäß einen voll­kom­men sub­jek­ti­ven blick auf die geschich­te der deut­schen lite­ra­tur und tut doch gleich­zei­tig so, als sei dies eine rich­ti­ge lite­ra­tur­ge­schich­te. dazu pas­send ist sein ansatz viel zu sehr per­so­nal geprägt, um wirk­lich zu rele­van­ten ein­schät­zun­gen zu kom­men – per­so­nal inso­fern, als er bedeu­tung zunächst an sei­ner eige­nen lese­er­fah­rung misst und per­so­nal auch inso­fern, als er lite­ra­tur­ge­schich­te als geschich­te von autoren­per­so­nen schreibt (die fast durch­weg männ­lich sind, natür­lich). das ergibt ein ziem­li­ches misch-masch, geprägt von einer fast aus­schließ­lich iden­ti­fi­ka­to­ri­schen lek­tü­re. epo­chen, geis­ti­ge ver­bin­dungs­li­ni­en, tra­di­tio­nen etc. kom­men bei ihm allen­falls am ran­de vor. und solch ein ansatz führt natur­ge­mäß zu eini­gen gerech­ten, aber auch zu eini­gen unge­rech­ten urtei­len und feh­lern (z.b. das hier: „fried­rich schil­ler ist der dich­ter der jugend“ (53) – dazu muss man schon eini­ges aus dem werk schil­lers aus­blen­den) – immer­hin unter­nimmt kla­bund nicht noch den ver­such, das zu ver­ber­gen: die (selbst-)sicherheit des urtei­lens hat schon fast etwas groß­ar­ti­ges. als zeit­do­ku­ment und in sei­ner aus­gra­bung gera­de zu die­sem zeit­punkt heu­te, wo sich immer mehr lite­ra­tur­kri­ti­ker als empha­ti­ker genü­gen und dar­auf auch noch stolz sind (was natür­lich in der tra­di­ti­on des gro­ßen grau­en­haf­ten anti-kri­ti­kers reich-rani­cki steht), ist das immer­hin eine ergötz­li­che lek­tü­re – für his­to­ri­sche wahr­heit und gerech­tig­keit ist kla­bund hier halt nicht zustän­dig.

ganz viele zeichen – zu viele?

macht die anein­an­der­rei­hung von ganz vie­len zei­chen einen text zum roman? „die gar­ni­tur“, eine art textagen­tur mit dem anspruch beson­de­rer inno­va­ti­vi­tät, scheint der idee nicht abge­neigt zu sein. ihre chefs mat­thi­as edling und jörg stein­leit­ner haben die 205.293 zei­chen einen roman genannt. so vie­le zei­chen sind das aber gar nicht – im groß­zü­gi­gen druck gut 150 seiten.wie das buch auf mei­ne lese­lis­te gekom­men ist – ich habe kei­ne ahnung, das ist eben manch­mal der nach­teil so exten­si­ver lis­ten­füh­re­rei­en… – gelohnt hat es sich jeden­falls nicht, noch nicht ein­mal als unter­hal­tung ist es wirk­lich brauch­bar. es ist so ein ver­such, die ame­ri­ka­ni­sche gangs­ter­sto­ry oder eher den gangs­ter­film nach euro­pa zu ver­le­gen. weil die autoren (oder, wie sie sich selbst benen­nen, das „autoren­team“) dafür aber über zu wenig krea­ti­vi­tät, vor­stel­lungs­kraft, stil­ge­fühl und ästhe­ti­sche urteils­si­cher­heit ver­fügt, klappt das nicht so rich­tig – ist auch alles eine stu­fe harm­lo­ser: stu­dent, der im pfle­ge­heim arbei­te­te, schnappt sich das vie­le bar­geld einer sei­ner gera­de ver­stor­be­nen pati­en­tin­nen, haut in den süden ab, nimmt auf dem weg noch eine hei­ße frau mit, die sich auch noch als klug her­aus­stellt, erlebt ver­schie­de­ne „aben­teu­er“ etc. etc. – kommt natür­lich reich, wenn auch etwas ver­sehrt, mit sei­ner traum­frau aus dem schla­mas­sel her­aus.
so ein text ist wohl das unaus­weich­ba­re ergeb­nis, wenn krea­ti­ve beson­ders krea­tiv und auch noch inno­va­tiv oder avant­gar­dis­tisch sein wol­len: eine außer­or­dent­lich bemüh­te plot-kon­struk­ti­on (deut­lich zu mer­ken der kon­struk­ti­ons­plan…), ein grau­en­haft bana­ler sti­lis­ti­scher brei, total plat­te und abge­lut­sche moti­ve und so wei­ter. – ande­re erklä­rungs­mög­lich­keit: so etwas pas­siert, wenn krea­ti­ve kur­se für krea­ti­ves schrei­ben besu­chen. der kunst­wil­len führt aber nur zur pseu­do­kunst – etwa im nach­rich­ten­ti­cker, der unten über die sei­ten läuft. viel­leicht ist das ja als beson­de­re rea­li­täts­ver­si­che­rung gemeint, es bringt aber über­haupt nichts
das bes­te noch der titel oder eigent­lich der gesam­te para­text, etwa auch das mot­to von nico­las cage (klar, deut­li­cher ver­weis auf das refe­renz­sys­tem die­ses tex­tes: frü­her stand hier ein bon­mot eines dich­ters, eine sen­tenz oder so etwas ähn­li­ches, jetzt ist es halt das ergeb­nis eines halb­wegs hel­len augen­blicks eines schau­spie­lers): „es gibt zu vie­le schwät­zer, zu vie­le lüg­ner, zu vie­le die­be. das beschleu­ni­gungs­tem­po unse­rer kul­tur [!!] ist so hoch, das bie­tet güns­ti­ge bedin­gun­gen für arsch­lö­cher. nur wer die his­to­rie kenn, kann sich eine kor­rek­te mei­nung bil­den.“ oder auch die auf­ma­chung – wirkt fast wie real­sa­ti­re (titel mit prä­sen­ta­tor, auf­ruf zur text­ein­sen­dung „aller gewichts­klas­sen“), über­treibt es damit aber („stab“, inkl. „per­for­mance-musik“, cate­ring von „mama&mama“ – sehr wit­zig…) so weit, dass es offen­bar doch tat­säch­lich ernst gemeint war (natür­lich wohl mit dem zwin­kern­den auge – es gibt kaum schlim­me­res als so ent­stan­de­ne tex­te – die sind näm­lich fast nie wirk­lich wit­zig und schon gar nicht gut)

macht die anein­an­der­rei­hung von ganz vie­len zei­chen einen text zum roman? „die gar­ni­tur“, eine art textagen­tur mit dem anspruch beson­de­rer inno­va­ti­vi­tät, scheint der idee nicht abge­neigt zu sein. ihre chefs mat­thi­as edling und jörg stein­leit­ner haben die 205.293 zei­chen einen roman genannt. so vie­le zei­chen sind das aber gar nicht – im groß­zü­gi­gen druck gut 150 seiten.wie das buch auf mei­ne lese­lis­te gekom­men ist – ich habe kei­ne ahnung, das ist eben manch­mal der nach­teil so exten­si­ver lis­ten­füh­re­rei­en… – gelohnt hat es sich jeden­falls nicht, noch nicht ein­mal als unter­hal­tung ist es wirk­lich brauch­bar. es ist so ein ver­such, die ame­ri­ka­ni­sche gangs­ter­sto­ry oder eher den gangs­ter­film nach euro­pa zu ver­le­gen. weil die autoren (oder, wie sie sich selbst benen­nen, das „autoren­team“) dafür aber über zu wenig krea­ti­vi­tät, vor­stel­lungs­kraft, stil­ge­fühl und ästhe­ti­sche urteils­si­cher­heit ver­fügt, klappt das nicht so rich­tig – ist auch alles eine stu­fe harm­lo­ser: stu­dent, der im pfle­ge­heim arbei­te­te, schnappt sich das vie­le bar­geld einer sei­ner gera­de ver­stor­be­nen pati­en­tin­nen, haut in den süden ab, nimmt auf dem weg noch eine hei­ße frau mit, die sich auch noch als klug her­aus­stellt, erlebt ver­schie­de­ne „aben­teu­er“ etc. etc. – kommt natür­lich reich, wenn auch etwas ver­sehrt, mit sei­ner traum­frau aus dem schla­mas­sel her­aus.
so ein text ist wohl das unaus­weich­ba­re ergeb­nis, wenn krea­ti­ve beson­ders krea­tiv und auch noch inno­va­tiv oder avant­gar­dis­tisch sein wol­len: eine außer­or­dent­lich bemüh­te plot-kon­struk­ti­on (deut­lich zu mer­ken der kon­struk­ti­ons­plan…), ein grau­en­haft bana­ler sti­lis­ti­scher brei, total plat­te und abge­lut­sche moti­ve und so wei­ter. – ande­re erklä­rungs­mög­lich­keit: so etwas pas­siert, wenn krea­ti­ve kur­se für krea­ti­ves schrei­ben besu­chen. der kunst­wil­len führt aber nur zur pseu­do­kunst – etwa im nach­rich­ten­ti­cker, der unten über die sei­ten läuft. viel­leicht ist das ja als beson­de­re rea­li­täts­ver­si­che­rung gemeint, es bringt aber über­haupt nichts
das bes­te noch der titel oder eigent­lich der gesam­te para­text, etwa auch das mot­to von nico­las cage (klar, deut­li­cher ver­weis auf das refe­renz­sys­tem die­ses tex­tes: frü­her stand hier ein bon­mot eines dich­ters, eine sen­tenz oder so etwas ähn­li­ches, jetzt ist es halt das ergeb­nis eines halb­wegs hel­len augen­blicks eines schau­spie­lers): „es gibt zu vie­le schwät­zer, zu vie­le lüg­ner, zu vie­le die­be. das beschleu­ni­gungs­tem­po unse­rer kul­tur [!!] ist so hoch, das bie­tet güns­ti­ge bedin­gun­gen für arsch­lö­cher. nur wer die his­to­rie kenn, kann sich eine kor­rek­te mei­nung bil­den.“ oder auch die auf­ma­chung – wirkt fast wie real­sa­ti­re (titel mit prä­sen­ta­tor, auf­ruf zur text­ein­sen­dung „aller gewichts­klas­sen“), über­treibt es damit aber („stab“, inkl. „per­for­mance-musik“, cate­ring von „mama&mama“ – sehr wit­zig…) so weit, dass es offen­bar doch tat­säch­lich ernst gemeint war (natür­lich wohl mit dem zwin­kern­den auge – es gibt kaum schlim­me­res als so ent­stan­de­ne tex­te – die sind näm­lich fast nie wirk­lich wit­zig und schon gar nicht gut)

abtrünnig: eine trümmerlandschaft aus text

eine inten­si­ve und denkauf­wän­di­ge lek­tü­re: rein­hard jirgl: abtrün­nig. roman aus der ner­vö­sen zeit. mün­chen: han­ser 2005. ich bin jetzt nach einer lan­gen – meh­re­re wochen – lese­rei­se bis ans ende vor­ge­drun­gen. und ich kann jedem nur emp­feh­len, sich die­ser erfah­rung, die manch­mal zwar den cha­rak­ter eines exer­zi­ti­ums anneh­men kann, zu unter­zie­hen. den jirgl, schon lan­ge einer mei­ner favo­ri­ten unter den noch leben­den und schrei­ben­den autoren, hat hier ein beein­dru­cken­des kunst­werk geschaf­fen. und als sol­ches muss man es auch ganz bewusst und offen­siv rezi­pie­ren: als kunst – nicht als unter­hal­tung, denn als bett­lek­tü­re taugt die­ser roman sicher­lich über­haupt nicht.

da ist zunächst ein­mal sei­ne per­so­na­le son­der­or­tho­gra­phie, die hier – wie etwa auch in der genea­lo­gie des tötens – sehr eigen­wil­lig erscheint. v.a. scheint sie ihre sys­te­ma­ti­sie­rung ein wenig ver­lo­ren zu haben. kri­ti­ken the­ma­ti­sie­ren die­se sehr augeschein­li­che beson­der­heit der spä­te­ren jirgl­schen tex­te beson­ders gern. in der tat muss man aber sagen, dass sie ent­ge­gen etwa­iger befürch­tun­gen kein lese­hin­der­nis dar­stellt – sie wird sehr schnell sehr ver­traut. was sie aller­dings gera­de in abtrün­nig nicht wird, ist voll­kom­men ver­ständ­lich: vie­les bleibt zumin­dest bei der ers­ten lek­tü­re (viel­leicht hül­fe da eine sys­te­ma­ti­sche durch­drin­gung?) auf dem niveau der spie­le­rei, weil sich einer­seits kei­ne bedeu­tungs­zu­wachs oder ‑dif­fe­ren­zie­rung erken­nen lässt, ande­rer­seits auch weder eine absicht noch eine wenigs­tens ver­mut­ba­re regel­haf­tig­keit. in man­chen pas­sa­gen wirkt die­se extre­me ver­meh­rung der signi­fi­kan­zen oder zumin­dest außer­or­dent­li­che ver­deut­li­chung der viel­deu­tig­keit des geschrie­be­nen wor­tes, ins­be­son­de­re natür­lich durch die (ortho-)graphische eigen­wil­lig­keit, wie eine künst­lich for­cier­te annä­he­rung an die münd­lich­keit, das ora­le erzäh­len. ande­rer­seits ist sie in ihrer viel­ge­stal­tig­keit, die ja weit über die ver­ein­heit­li­chen­de, nor­mier­te (und damit ein­schrän­ken­de) regel­or­tho­gra­phie hin­aus­geht, auch offen­bar der ver­such der dis­am­bi­gu­ie­rung – der aller­dings wie­der dazu führt, das das schrift­bild extrem her­me­tisch, abschre­ckend & unüber­sicht­lich wirkt & auch tat­säch­lich wird: ent­zif­fer­bar ist das kaum noch, weil das sys­tem nicht so ein­fach zu durch­schau­en ist (ist es über­haupt ein sys­tem?). und das führt schließ­lich auch dazu, dass man ihm leicht den vor­wurf der spie­le­rei machen kann. tat­säch­lich scheint man­ches auch nur das zu sein, lässt sich man­che wort-ver­for­mung auch kaum anders auf­fas­sen. in sei­ner gesamt­heit ist das, wenn man außer­dem noch die for­ma­len irre­gu­la­ri­en und stol­per­stei­ne – etwa die quer­ver­lin­kun­gen und text­bau­stei­ne – bedenkt, ein kom­plett ver­min­ter text und damit (auch) ein angriff auf den leser: die irre­gu­lä­ren sat­zei­chen als klei­ne spreng­kör­per, als angrif­fe auf das schnel­le, ein­fa­che & gewöhn­li­che ver­ste­hen.

in abtrün­nig ist die geschich­te, die fabel, weit­ge­hend zur neben­sa­che gewor­den – noch nie war das bei jirgl (soweit ich sehe) so sehr der fall wie hier. im kern geht es um zwei män­ner, zwei lie­ben­de, die auf ver­schlun­ge­nen wegen nach ber­lin kom­men und dort auf tra­gisch-gro­tes­ke wei­se am und im leben schei­tern. das ist aber auch schon wie­der nur halb rich­tig, weil der zwei­te lie­ben­de, ein aus der ddr-nva in den bgs über­nom­me­ner grenz­schüt­zer, der einer flüch­ten­den ost­eu­ro­päe­rin zum ille­ga­len grenz­über­gang nach deutsch­land ver­hilft, auf der suche nach ihr nach ber­lin kommt, dort als taxi­fah­rer arbei­tet, sie wie­der­fin­det und just in dem moment, als sie zurück in ihre hei­mat gekehrt ist, um für die geplan­te hei­rat die not­wen­di­gen papie­re zu orga­ni­se­ren, von ihrem offen­bar psy­chisch gestör­ten bru­der ersto­chen wird, weil also die­ser zwei­te lie­ben­de, des­sen geschich­te natür­lich durch begeg­nung mit der des ande­ren man­nes ver­knüpft ist, gar kei­ne beson­ders gro­ße rol­le spielt.

wesent­li­cher als das ist aber das moment, der abtrün­nig als „roman aus der ner­vö­sen zeit“ cha­rak­te­ri­siert. das ist das autis­ti­sche mono­lo­gi­sie­ren, das durch­bro­chen wird von essay­ar­ti­gen pas­sa­gen und geni­al erzähl­ten tei­len. natür­lich spie­gelt das wie­der­um nur das gro­ße, zen­tra­le pro­blem der haupt­fi­gur und der moder­nen gesell­schaft über­haupt: die suche nach dem ich, der iden­ti­tät, dem holis­ti­schen sub­jekt, dem eige­nen lebens- und sinn­ent­wurf – ein suche, die gran­di­os schei­tern muss und nur frag­men­te, zer­stö­rung und beschä­dig­te personen/​figuren/​menschen hin­ter­lässt. der ein­druck eines gro­ßen bruch­wer­kes bleibt dabei nicht aus: frag­men­tier­te per­sön­lich­kei­ten, sich auf­lö­sen­de sozia­le bin­dun­gen und gewis­sen­hei­ten, kurz eine recht radi­kal aus­ge­rich­te­te gesell­schafts­kri­tik sucht ihre form – und ver­liert sich dabei man­ches mal in essay-ein­schü­ben: abtrün­nig ist in ers­ter linie ein/​das buch vom schei­tern, sei­ne bibel sozu­sa­gen: „es gibt kein rich­ti­ges leben im fal­schen“ – oder: das gelin­gen ist ganz und gar unmög­lich gewor­den – & das muss man auch genau so kate­go­ri­al for­mu­lie­ren, denn es gilt nicht nur für die figu­ren des tex­tes, son­dern auch für ihn selbst. des­halb ist er so, wie er ist; ist er in einer nach her­kömm­li­chen maß­stä­ben defi­zi­tä­ren ver­fas­sung – er kann natür­lich auch nicht mehr anders sein, das lässt die moder­ne welt, die „ner­vö­se zeit“ nicht mehr zu. und genau wie die­se ist er eine ziem­lich gewal­ti­ge zu-mutung für den leser. denn er will ja nichts ande­res, als die­se schö­ne neue welt erklä­ren oder min­des­tens auf­zei­gen – des­halb natür­lich auch die (zeit­wei­se durch­aus über­hand neh­men­den) essay-pas­sa­gen, die den kunst­cha­rak­ter des gesam­ten tex­tes beein­flus­sen – & das durch­aus mit grenz­wer­ti­gen ergeb­nis­sen. denn im gan­zen ist das wohl so etwas wie ein anar­chis­ti­sches kunst­werk – hoff­nungs­los unüber­sicht­lich, kreuz und quer ver­linkt durch die selt­sa­men „link“-kästen, die ver­wei­se vor und zurück im text, die ein­ge­streu­ten zita­te und auch wie­der­ho­lun­gen, neu­an­läu­fe der beschrei­bung einer situa­ti­on aus ver­schie­de­nen blick­win­keln. das alles hat zum ergeb­nis, das der roman, der vom tod der gesell­schaft, vom tod des sozia­len lebens, spricht, auch den tod des romans beschreibt, exem­pli­fi­ziert – und auch refle­xiert. denn auch wenn es gar nicht oder höchst sel­ten expli­zit geschieht – vie­les im text (etwa schon die daten der nie­der­schrift (oder die behaup­te­ten daten – schließ­lich befin­den wir uns mit ihnen immer noch im fik­tio­na­len text)) deu­tet auf eine refle­xi­on der mög­lich­kei­ten des schrei­bens in einer ner­vö­sen, defi­zi­tä­ren, ver­kom­me­nen und immer wei­ter ver­kom­men­den gesell­schaft hin. und wenn ein text wie abtrün­nig das ergeb­nis die­ser pro­zes­se ist, kann man nun sagen, dass das schrei­ben unmög­lich oder gar obso­let wird? das scheint mir zwei­fel­haft – denn trotz sei­ner unzwei­fel­haft zu kon­sta­tie­ren­den schwä­chen ist abtrün­nig als gesam­tes doch ein beein­dru­cken­des kunst­werk bemer­kens­wer­ter güte. inter­es­sant wird aller­dings die fort­set­zung – mir scheint es gera­de mit die­sem buch so, als schrie­be sich der sowie­so schon am ran­de des ästhe­ti­schen und ins­be­son­de­re des lite­ra­ri­schen dis­kur­ses ste­hen­de jirgl immer mehr ins abseits: ob er die­se bewe­gung noch frucht­bar wei­ter­füh­ren kann?

was kann literatur?

genau, das ist immer wie­der die fra­ge.

aber hier geht es um sebas­ti­an kie­fers essay mit die­sem titel. eigent­lich könn­te hier vie­les und inter­es­san­tes pas­sie­ren, aber bei kie­fer kommt vor allem eini­ges selt­sa­mes her­aus. das fängt damit an, dass für ihn lite­ra­tur nur aus sät­zen besteht. und die pro­ble­me fan­gen damit ja gera­de erst an. immer­hin hat er bemerkt, dass kon­kre­te poe­sie und laut­poe­sie da pro­ble­ma­tisch wer­den. aber er weist ihnen den schwar­zen peter gleich wie­der selbst zu: sie müs­sen ihm bewei­sen, dass sie über­haupt lite­ra­tur sei­en – und das kön­nen sie sei­ner mei­nung nach eben nicht. (mal abge­se­hen von der frag­wür­di­gen argu­men­ta­ti­ons­stra­te­gie: müs­sen sie über­haupt lite­ra­tur sein? muss man das bestim­men kön­nen, ob es lite­ra­tur oder „bil­den­de“ kunst ist? ich sage nur die­ter roth…) so ein­sich­tig das argu­ment des sat­zes als grund­la­ge aller lite­ra­tur auch schein mag, mir scheint doch eine unter­for­de­rung des lesers vor­zu­lie­gen: kie­fer behaup­tet näm­lich, dass jeder unvoll­stän­di­ge satz vom leser auto­ma­tisch (!) ver­voll­stän­digt wür­de, auch die gebil­de der kon­kre­ten poe­sie zu sät­zen geformt wür­den. das ist natür­lich ein sehr ein­ge­schränk­ter begriff des ver­ste­hens. und das pro­blem der ein­ge­schränk­ten sicht­wei­sen setzt sich fort: er schlägt dann ein ver­such der „bau­haus-lite­ra­tur“ vor, die – im anschluss an höl­der­lins poe­tik und klop­stock – eine art ton-satz-leh­re der lite­ra­tur sein soll – einer lite­ra­tur, die „nicht ande­res als eine kom­po­si­ti­ons­kunst des satz­ar­ti­gen bezug­neh­mens sein kann“ (60). da bin ich doch sehr skep­tisch, ob sich das so wirk­lich hal­ten lässt.

man muss kie­fer bei allen fra­ge­zei­chen, die in mei­nem text auf­blin­ken, doch zugu­te hal­ten, dass er sich dezi­diert von der „mehr­heits­li­te­ra­tur“ abwen­det und den kunst­cha­rak­ter des lite­ra­ri­schen schrei­bens wie­der gestärkt sehen will – in einer art neu­en „hohen“ tons, die die lite­ra­tur aus der „zone des geschmacks“ (169) rück­führt und eine extrem eli­tä­re „bra­ve new art world“ begrün­det.

mein pro­blem damit noch ein­mal: das ziel deckt sich ver­blüf­fend genau mit mei­nen ansprü­chen und idea­len der lite­ra­tur (etwa: „wort­kunst mit uni­ver­sa­li­sier­ba­rem erkennt­nis­an­spruch“ (170)), aber die sta­tio­nen dahin sind doch mit selt­sam­kei­ten gepflas­tert …

sebas­ti­an kie­fer: was kann lite­ra­tur? graz, wien: dro­schl 2006 (essay 55)

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