Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: lesung

Allerseelen

Paul Celan — Allersee­len / All Souls (Day) — cc Eng­lish, Türk, Deutsch

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—Paul Celan, Allersee­len

Indulgierte Idiosynkrasien

Ann Cot­ten liest von uner­wiedert­er Liebe, Prinzip­i­en­bastelei, Selb­stschau und Ekel — und ein Text wie “Der schaud­ernde Fäch­er”, in dem Wen­dun­gen wie “indulgierte Idiosynkrasien” vorkom­m­men, ver­heißt mir Lesev­ergnü­gen … Zum Anschauen/Anhören muss man sich lei­der zur “Zeit” hinüber begeben, das Video lässt sich nicht ein­binden: klick.

Ins Netz gegangen (16.7.)

Ins Netz gegan­gen (15.7.–16.7.):

  • “Wahrschein­lich habe ich ein­fach ein Ohr dafür” — Ver­leger Engel­er über seine Liebe zur Lyrik und | The­ma | Deutsch­landra­dio Kul­tur — Gespräch mit Urs Engel­er, u.a. über gute Gedichte:

    Inter­es­sante Gedichte, die haben bei jedem Lesen neue Erleb­nisse auf Lager für uns. Es gibt ganz viele Dinge zu beobacht­en, das heißt, man muss schon sehr geduldig sein, um hin­ter diese Qual­itäten zu kom­men, aber qua­si je nach­haltiger ich beschäftigt werde durch einen Text, desto inter­es­san­ter scheint er mir, und unterm Strich würde ich dann auch sagen, desto mehr Qual­itäten scheint er mir zu haben, sprich, desto bess­er ist er.

  • 100 Jahre Tour de France | ZEIT ONLINE — Schneefall im Juli: “Die Zeit” bere­it­et ihre Tour-de-France-Reportage(n) nach dem Snow-Fall-Mod­ell der New York Times hüb­sch auf (trotz des kleinen Fehlers in der Über­schrift …)
  • 30 Jahre Spex — taz.de — Diedrich Diederich­sen im taz-Inter­view über den Jubiläums­band der “Spex” und die “Spex” über­haupt:

    Etwas war so begeis­ternd, es gibt so viel darüber zu wis­sen, man muss viel weit­er in die Tiefe gehen. Wenn man eine Güter­ab­wä­gung macht zwis­chen gelun­gener Kom­mu­nika­tion, also zwis­chen soge­nan­nter Ver­ständlichkeit und der Treue zum Gegen­stand, oder der Treue gegenüber der eige­nen Begeis­terung, bin ich für Let­zteres. Die Rezep­tion­sek­stase hat bei mir immer Vor­rang vor dem gelun­genen Kom­mu­nika­tionsvor­gang. Ein­er, der in eine Rezep­tion­sek­stase gerät, ist doch viel inter­es­san­ter zu beobacht­en als jemand, der Infor­ma­tio­nen verteilt.

  • 7 Tage — 7 Fra­gen – FIXPOETRY.com — Nora Gom­ringer beant­wortet sieben Fra­gen Ulrike Draes­ners — z.B. so:

    Die Stimme ist die Schlange im Hals.

sTiL. und Spiel

Es ist immer ein schön­er Tag, wenn die Post so einen unschein­baren grauen Umschlag aus Solothurn bringt. Denn darin ver­steckt sich immer ein großes Leseer­leb­nis (wirk­lich, bis jet­zt war das immer so!). Und dieses Mal ist beim neuen Lyrik­band sTiL.e(ins) Art und Welt­waisen von Kon­stan­tin Ames sog­ar noch eine CD dabei — das ist also ein mul­ti­me­di­ales Erleb­nis …

Die Vor­freude ist also gle­ich mehrfach hoch: Die rough­books sind eigentlich (fast) immer eine span­nende Lek­türe. Und gele­sene Lyrik ist eben­falls ein Faszi­nosum. Und schließlich ist Kon­stan­tin Ames ein Dichter, der viel ver­heißt.

Als Leser bleibt er aber spröde, finde ich: Mir sind seine Texte näher, wenn ich sie vor mir sehe — vor allem, weil ich dann halt mein Tem­po selb­st bes­tim­men kann. Und das ist oft wesentlich langsamer als die Lesegeschwindigkeit von Ames.

Denn seine Gedichte brauen Zeit. Ames ist ein Sprachjon­gleur, der seine Art des Sprach­spiels, manch­mal auch der Spiel­ereien immer mehr per­fek­tion­iert. Voraus­set­zung ist zunächst ein­mal ein bewusstes Mei­den der Nor­mal­ität. Oder zumin­d­est untern­immt er keine Anstren­gung, in kon­ven­tionelle Raster einzu­passen — höch­stens eben im Spiel, etwa mit den manch­mal auf­tauchendne Bin­nen- oder End-Reimen.

Ames also als Sprach­spiel­er vor dem Her­ren: Er klopft die Sprache ab, bohrt und quetscht, sucht die Dop­peldeutigkeit­en (und ist sich auch für Kalauer nicht zu schade), häm­mertt an die ver­steck­ten Türen, kriecht in die Fal­ten, taucht in die Tun­nel … Und immer geht es darum: Was steckt eigentlich in der — unser­er — Sprache? Und was dahin­ter? Vielle­icht ist das wirk­lich dekon­stru­ierende Dich­tung (gibt es so etwas eigentlich über­haupt?): Ames nimmt auseinan­der, tren­nt und analysiert, split­tet und reißt an den Worten, den Fügun­gen, den Sätzen. Nicht immer kommt dann dabei “etwas” her­aus, nicht immer enste­ht dabei etwas Neues. Das muss es aber ja auch gar nicht: Es geht ja zunächst ein­mal darum, Bewusst­sein zu schaf­fen, Aufmerk­samkeit auf das Ver­bor­gene zu lenken.

Dazu gehört vor allem, die Vielschichtigkeit der Sprache zu offen­baren. Vielle­icht deshalb sind diese Gedichte immer in Bewe­gung, ken­nen keine Einkehr oder Kon­tem­pla­tion, son­dern nur ein “fort”, ein “vor­wärts” und ein “zurück” — die Rich­tung scheint beina­he egal, so lange die Bewe­gung nicht ins Stock­en gerät. Und das ver­langt auch, nicht nur mit Assozi­a­tio­nen und Destruk­tion sowie Dekon­struk­tion von Wörtern und Sätzen zu spie­len, son­dern auch abzu­tauchen in die Sozi­olek­te und Dialek­te von heute und von früher — genau­so größen­wahnsin­ng wie sich das hier als Pro­gramm liest ist es auch manch­mal. Aber ohne Größen­wahnsinn ja auch keine große Kun­st … Die Kun­st zumin­d­est manch­er dieser Gedicht, kön­nte man vielle­icht auch sagen, beste­ht dann aber darin, dieses aufdeck­ende (oder zer­störende) Spiel in Szenen, Abläufen, Erzäh­lun­gen, Geschicht­en zu ermöglichen. Oder ermöglichen erst diese Ver­läufe das Spiel? Ich weiß nicht mehr, wo vorn oder hin­ten ist, was Anfang oder was Ende, was Grund und was Folge … — her­rlich!

Kon­stan­tin Ames: sTiL.e(ins) Art und Welt­waisen. Berlin und Solothurn: rough­books 2012 (rough­book 024). 112 Seit­en mit CD.

Rezitieren von Gedichten

Im Cult­mag hat Carl Wil­helm Macke 10 sehr sin­nige Regeln bzw. Gebote über das richtige, angemessene und zuläs­sige Rez­i­tieren von lyrischen Tex­ten niedergeschrieben. Sie seien jedem Ver­anstal­ter, Rez­i­ta­tor und Lyrik­lieb­haber unbe­d­ingt ans Herz gelegt. Da heißt es unter anderem:

1. Während der Lesung eines Gedichts ist aus feuer­polizeilichen und ver­sicherungsrechtlichen Grün­den das Anzün­den von Kerzen streng­stens unter­sagt.
[…] 3. Ob ein Gedicht ste­hend, sitzend, liegend, knieend oder auf dem Kopf ste­hend, in gebück­ter oder ger­ad­er Hal­tung vor­ge­tra­gen wird, muss dem jew­eili­gen Rez­i­ta­tor über­lassen wer­den.
[…] 4. Ein nüt­zlich­es Gedicht ist ein schlecht­es Gedicht und sollte deshalb möglichst nicht vor­ge­tra­gen wer­den. Das Rez­i­tieren von Pro­pa­gandagedicht­en ist nach dem Fall der Berlin­er Mauer, den Twin-Tow­er-Anschlä­gen vom 11. Sep­tem­ber 2001 streng­stens unter­sagt.

Auch die anderen Gebote sind so scharf und tre­f­fend for­muliert. Man sollte sie eigentlich vor jed­er Rez­i­ta­tion als Pflicht­teil eben­falls vor­tra­gen …

immer wieder oktober: peter kurzeck liest in mainz

Da sitzt er also, ver­schwindet fast hin­ter seinem Buch mit dem auf­fäl­li­gen orange­far­be­nen Umschlag, wirkt noch klein­er und zer­brech­lich­er als son­st. Aber seine Stimme, die dringt müh­e­los über das Pub­likum hin­weg bis in die let­zte Rei­he und füllt das Anti­quar­i­at am Ballplatz ganz und gar aus. Peter Kurzeck, der aus Böh­men stam­mende, bei Gießen aufgewach­sene, lange in Frank­furt lebende und nun in Süd­frankre­ich schreibende Meis­ter der Erin­nerung und der Verge­gen­wär­ti­gung liest aus seinem let­zten Buch, „Okto­ber und wer wir selb­st sind“. Die Lesun­gen Kurzecks sind immer ein Fest für seine Leser und Fans, von denen es in Mainz inzwis­chen eine ganze Menge gibt – die Stüh­le im Anti­quar­i­at reicht­en gar nicht für alle, eine schön­er Erfolg für den Ver­anstal­ter, das Lit­er­atur­büro Mainz. Denn Peter Kurzeck liest nicht nur ein­fachr, was er mal, vor eini­gen Jahren, irgend­wann aufgeschrieben hat. Nein, er trägt es wirk­lich vor. Mit schweben­den Beto­nun­gen, manch­mal fast sin­gend. Und immer mit großem, beina­he kindlichem Erstaunen über diesen Text, den er da vor sich liegen hat. Dieses Erstaunen, das ist eine echte Kurzecksche Qual­ität. Es find­et sich näm­lich schon im Buch selb­st: Als Staunen über die Welt, die den Erzäh­ler umgibt. In „Okto­ber und wer wir selb­st sind“ ist es das Frank­furt im Herb­st 1983, die Woh­nung in Bock­en­heim, die Wege in der Stadt und an ihren Rän­dern, mit Frau und Kind, zum Einkaufen und zum Kinder­laden, im ver­gan­genen Som­mer und begin­nen­den Herb­st. Und natür­lich das Schreiben selb­st – der Erzäh­ler hat ger­ade sein drittes Buch begonnen. Kurzeck liest in Mainz aus den bei­den ersten Kapiteln von „Okto­ber“, die genau den Moment beschreiben, in dem der Som­mer endgülig vorüber ist. Aber in dem zugle­ich auch der Herb­st schon da ist, schon etwas Neues begonnen hat. Das klingt alles furcht­bar banal. Und ist es eigentlich auch. Nicht aber für Peter Kurzeck. Er verza­ubert das näm­lich: Durch die Erin­nerung an den All­t­ag, das übliche und das ungewöhn­liche, das banale und außeror­dentliche Geschehen wird das alles schon wieder ganz anders und beson­ders. Und durch seinen feinen, präzisen, verk­nappten und doch beredten Stil, der ihn schon so lange zu ein­er ganz außergewöhn­lichen Erschei­n­ung der deutschen Gegen­wart­slit­er­atur macht, wird es ger­adezu über­höht. Das Ergeb­nis, sein Buch und seine Lesung, ist berührend. Und mächtiger, auch dauer­hafter als der kleine, unschein­bare Mann, der sie geschaf­fen hat.

(geschrieben für die mainz­er rhein-zeitung)

paul ingendaay liest …

… und zwar aus seinem buch “warum du mich ver­lassen hast”. inter­es­san­ter als die lesung – nix beson­deres, solide, über­legt, aber ohne inspi­ra­tion (wie wohl auch das buch in diese rich­tung zu tendieren scheint) – aber die beobach­tung, wie er mit dem pub­likum umge­ht. zunächst ein­mal wird es immer gründlich zuge­tex­tet: so viel gelaber und geschwalle habe ich von einem „dichter“ oder autor oder textpro­duzent (was wohl am besten passt) sel­ten erlebt. und fast schon zu bewun­dern, die fähigkeit des ein­schleimens, in so viel gerede um nichtigkeit­en und banal­itäten ver­packt, dass es fast gar nicht auf­fällt. naja, nicht mein fall eben, so eine mediokre dichter­lesung – da frage ich mich doch immer, wozu das gut sein soll…

paul ingen­daay liest. er macht das, weil er ein buch geschrieben hat. und er möchte das gerne an ganz viele leute verkaufen. auch in mainz. deshalb set­zt er sich abends in die kleine buch­hand­lung “shake­speare und so” und liest. sein buch heißt “warum du mich ver­lassen hast”. und es ist ziem­lich dick. er kann also nur ganz wenig daraus vor­lesen. denn son­st säßen seine hör­er, die hof­fentlich auch bald seine leser sind, ziem­lich lange da herum. und sie müssten nichts tun als zuhör­ern.

aber das wäre ja nicht das schlimm­ste. denn paul ingen­daay kann gut vor­lesen. mit wenig aufwand macht er das. nüchtern und sach­lich klingt seine stimme angenehm durch die buch­hand­lung. aber er weiß auch genau, was bei den lesern und zuhör­eren gut ankommt. denn das hier in mainz ist ja nicht seine erste lesung. er weiß also genau, wo er die lach­er auf sein­er seite hat. oder wo er die stimme ein wenig heben muss. oder das es schön ist, dass er zwis­chen­durch mal eine weile ste­hend liest.

sein buch erzählt mit viel witz und sen­si­bil­ität von marko. marko ist 15 und lebt in den siebzigern in einem katholis­chen inter­nat. das ist auch schon fast alles. denn es geht um “mäd­chen, büch­er und gott”. die mäd­chen fehlen marko und seinen fre­un­den sehr. das gibt anlass zu aller­lei lusti­gen und trau­ri­gen verzwei­flungstat­en. büch­er dage­gen gibt es mehr als genug. die kann man lesen und dann lange darüber reden. ob es genug gott gibt, ist hinge­gen nicht so ganz klar.

das ist also eine menge stoff. eben 500 seit­en dick. zum vor­lesen hat der autor sich ein paar pas­sagen aus dem anfang her­aus gesucht. da gibt es näm­lich ganz viel zu lachen. später tauchen noch span­nende ver­wick­lun­gen und hochdrama­tis­che vorgänge auf. aber die will paul ingen­daay noch nicht ver­rat­en. denn das buch soll man ja noch lesen.

dafür beant­wortet er nach dem lesen auch noch die fra­gen der hör­er. mit viel geduld. denn bes­timmt ist er schon ganz oft gefragt wor­den, was in seinem buch wahrheit und dich­tung ist. oder wie es ihm in sein­er jugend im katholis­chen inter­nat erg­ing.

kaufen darf und kann man das buch natür­lich auch gle­ich. und wenn man will, unter­schreibt paul ingen­daay das auch noch — damit auch jed­er glaubt, dass er es selb­st geschrieben hat. und das man ihn ein­mal leib­haftig gese­hen hat. das kann man dann seinen enkeln erzählen, später, wenn man alt ist. aber ob dann noch jemand weiß, wer paul ingen­daay ist? vielle­icht wird er dann ja ger­ade wieder­ent­deckt. als ein muster­beispiel des for­mvol­len­de­ten erzäh­lens, dass dem leser freude bere­it­et. oder so ähn­lich.

paul ingen­day: warum du mich ver­lassen hast. münchen: schirmer­graf 2006.

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