Beim Klicken auf das und beim Abspielen des von YouTube eingebetteten Videos werden (u. U. personenbezogene) Daten wie die IP-Adresse an YouTube übertragen.
—Paul Celan, Allerseelen
—Paul Celan, Allerseelen
Ann Cotten liest von unerwiederter Liebe, Prinzipienbastelei, Selbstschau und Ekel — und ein Text wie “Der schaudernde Fächer”, in dem Wendungen wie “indulgierte Idiosynkrasien” vorkommmen, verheißt mir Lesevergnügen … Zum Anschauen/Anhören muss man sich leider zur “Zeit” hinüber begeben, das Video lässt sich nicht einbinden: klick.
Ins Netz gegangen (15.7.–16.7.):
Interessante Gedichte, die haben bei jedem Lesen neue Erlebnisse auf Lager für uns. Es gibt ganz viele Dinge zu beobachten, das heißt, man muss schon sehr geduldig sein, um hinter diese Qualitäten zu kommen, aber quasi je nachhaltiger ich beschäftigt werde durch einen Text, desto interessanter scheint er mir, und unterm Strich würde ich dann auch sagen, desto mehr Qualitäten scheint er mir zu haben, sprich, desto besser ist er.
Etwas war so begeisternd, es gibt so viel darüber zu wissen, man muss viel weiter in die Tiefe gehen. Wenn man eine Güterabwägung macht zwischen gelungener Kommunikation, also zwischen sogenannter Verständlichkeit und der Treue zum Gegenstand, oder der Treue gegenüber der eigenen Begeisterung, bin ich für Letzteres. Die Rezeptionsekstase hat bei mir immer Vorrang vor dem gelungenen Kommunikationsvorgang. Einer, der in eine Rezeptionsekstase gerät, ist doch viel interessanter zu beobachten als jemand, der Informationen verteilt.
Die Stimme ist die Schlange im Hals.
Es ist immer ein schöner Tag, wenn die Post so einen unscheinbaren grauen Umschlag aus Solothurn bringt. Denn darin versteckt sich immer ein großes Leseerlebnis (wirklich, bis jetzt war das immer so!). Und dieses Mal ist beim neuen Lyrikband sTiL.e(ins) Art und Weltwaisen von Konstantin Ames sogar noch eine CD dabei — das ist also ein multimediales Erlebnis …
Die Vorfreude ist also gleich mehrfach hoch: Die roughbooks sind eigentlich (fast) immer eine spannende Lektüre. Und gelesene Lyrik ist ebenfalls ein Faszinosum. Und schließlich ist Konstantin Ames ein Dichter, der viel verheißt.
Als Leser bleibt er aber spröde, finde ich: Mir sind seine Texte näher, wenn ich sie vor mir sehe — vor allem, weil ich dann halt mein Tempo selbst bestimmen kann. Und das ist oft wesentlich langsamer als die Lesegeschwindigkeit von Ames.
Denn seine Gedichte brauen Zeit. Ames ist ein Sprachjongleur, der seine Art des Sprachspiels, manchmal auch der Spielereien immer mehr perfektioniert. Voraussetzung ist zunächst einmal ein bewusstes Meiden der Normalität. Oder zumindest unternimmt er keine Anstrengung, in konventionelle Raster einzupassen — höchstens eben im Spiel, etwa mit den manchmal auftauchendne Binnen- oder End-Reimen.
Ames also als Sprachspieler vor dem Herren: Er klopft die Sprache ab, bohrt und quetscht, sucht die Doppeldeutigkeiten (und ist sich auch für Kalauer nicht zu schade), hämmertt an die versteckten Türen, kriecht in die Falten, taucht in die Tunnel … Und immer geht es darum: Was steckt eigentlich in der — unserer — Sprache? Und was dahinter? Vielleicht ist das wirklich dekonstruierende Dichtung (gibt es so etwas eigentlich überhaupt?): Ames nimmt auseinander, trennt und analysiert, splittet und reißt an den Worten, den Fügungen, den Sätzen. Nicht immer kommt dann dabei “etwas” heraus, nicht immer ensteht dabei etwas Neues. Das muss es aber ja auch gar nicht: Es geht ja zunächst einmal darum, Bewusstsein zu schaffen, Aufmerksamkeit auf das Verborgene zu lenken.
Dazu gehört vor allem, die Vielschichtigkeit der Sprache zu offenbaren. Vielleicht deshalb sind diese Gedichte immer in Bewegung, kennen keine Einkehr oder Kontemplation, sondern nur ein “fort”, ein “vorwärts” und ein “zurück” — die Richtung scheint beinahe egal, so lange die Bewegung nicht ins Stocken gerät. Und das verlangt auch, nicht nur mit Assoziationen und Destruktion sowie Dekonstruktion von Wörtern und Sätzen zu spielen, sondern auch abzutauchen in die Soziolekte und Dialekte von heute und von früher — genauso größenwahnsinng wie sich das hier als Programm liest ist es auch manchmal. Aber ohne Größenwahnsinn ja auch keine große Kunst … Die Kunst zumindest mancher dieser Gedicht, könnte man vielleicht auch sagen, besteht dann aber darin, dieses aufdeckende (oder zerstörende) Spiel in Szenen, Abläufen, Erzählungen, Geschichten zu ermöglichen. Oder ermöglichen erst diese Verläufe das Spiel? Ich weiß nicht mehr, wo vorn oder hinten ist, was Anfang oder was Ende, was Grund und was Folge … — herrlich!
Konstantin Ames: sTiL.e(ins) Art und Weltwaisen. Berlin und Solothurn: roughbooks 2012 (roughbook 024). 112 Seiten mit CD.
Im Cultmag hat Carl Wilhelm Macke 10 sehr sinnige Regeln bzw. Gebote über das richtige, angemessene und zulässige Rezitieren von lyrischen Texten niedergeschrieben. Sie seien jedem Veranstalter, Rezitator und Lyrikliebhaber unbedingt ans Herz gelegt. Da heißt es unter anderem:
1. Während der Lesung eines Gedichts ist aus feuerpolizeilichen und versicherungsrechtlichen Gründen das Anzünden von Kerzen strengstens untersagt.
[…] 3. Ob ein Gedicht stehend, sitzend, liegend, knieend oder auf dem Kopf stehend, in gebückter oder gerader Haltung vorgetragen wird, muss dem jeweiligen Rezitator überlassen werden.
[…] 4. Ein nützliches Gedicht ist ein schlechtes Gedicht und sollte deshalb möglichst nicht vorgetragen werden. Das Rezitieren von Propagandagedichten ist nach dem Fall der Berliner Mauer, den Twin-Tower-Anschlägen vom 11. September 2001 strengstens untersagt.
Auch die anderen Gebote sind so scharf und treffend formuliert. Man sollte sie eigentlich vor jeder Rezitation als Pflichtteil ebenfalls vortragen …
Da sitzt er also, verschwindet fast hinter seinem Buch mit dem auffälligen orangefarbenen Umschlag, wirkt noch kleiner und zerbrechlicher als sonst. Aber seine Stimme, die dringt mühelos über das Publikum hinweg bis in die letzte Reihe und füllt das Antiquariat am Ballplatz ganz und gar aus. Peter Kurzeck, der aus Böhmen stammende, bei Gießen aufgewachsene, lange in Frankfurt lebende und nun in Südfrankreich schreibende Meister der Erinnerung und der Vergegenwärtigung liest aus seinem letzten Buch, „Oktober und wer wir selbst sind“. Die Lesungen Kurzecks sind immer ein Fest für seine Leser und Fans, von denen es in Mainz inzwischen eine ganze Menge gibt – die Stühle im Antiquariat reichten gar nicht für alle, eine schöner Erfolg für den Veranstalter, das Literaturbüro Mainz. Denn Peter Kurzeck liest nicht nur einfachr, was er mal, vor einigen Jahren, irgendwann aufgeschrieben hat. Nein, er trägt es wirklich vor. Mit schwebenden Betonungen, manchmal fast singend. Und immer mit großem, beinahe kindlichem Erstaunen über diesen Text, den er da vor sich liegen hat. Dieses Erstaunen, das ist eine echte Kurzecksche Qualität. Es findet sich nämlich schon im Buch selbst: Als Staunen über die Welt, die den Erzähler umgibt. In „Oktober und wer wir selbst sind“ ist es das Frankfurt im Herbst 1983, die Wohnung in Bockenheim, die Wege in der Stadt und an ihren Rändern, mit Frau und Kind, zum Einkaufen und zum Kinderladen, im vergangenen Sommer und beginnenden Herbst. Und natürlich das Schreiben selbst – der Erzähler hat gerade sein drittes Buch begonnen. Kurzeck liest in Mainz aus den beiden ersten Kapiteln von „Oktober“, die genau den Moment beschreiben, in dem der Sommer endgülig vorüber ist. Aber in dem zugleich auch der Herbst schon da ist, schon etwas Neues begonnen hat. Das klingt alles furchtbar banal. Und ist es eigentlich auch. Nicht aber für Peter Kurzeck. Er verzaubert das nämlich: Durch die Erinnerung an den Alltag, das übliche und das ungewöhnliche, das banale und außerordentliche Geschehen wird das alles schon wieder ganz anders und besonders. Und durch seinen feinen, präzisen, verknappten und doch beredten Stil, der ihn schon so lange zu einer ganz außergewöhnlichen Erscheinung der deutschen Gegenwartsliteratur macht, wird es geradezu überhöht. Das Ergebnis, sein Buch und seine Lesung, ist berührend. Und mächtiger, auch dauerhafter als der kleine, unscheinbare Mann, der sie geschaffen hat.
(geschrieben für die mainzer rhein-zeitung)
… und zwar aus seinem buch “warum du mich verlassen hast”. interessanter als die lesung – nix besonderes, solide, überlegt, aber ohne inspiration (wie wohl auch das buch in diese richtung zu tendieren scheint) – aber die beobachtung, wie er mit dem publikum umgeht. zunächst einmal wird es immer gründlich zugetextet: so viel gelaber und geschwalle habe ich von einem „dichter“ oder autor oder textproduzent (was wohl am besten passt) selten erlebt. und fast schon zu bewundern, die fähigkeit des einschleimens, in so viel gerede um nichtigkeiten und banalitäten verpackt, dass es fast gar nicht auffällt. naja, nicht mein fall eben, so eine mediokre dichterlesung – da frage ich mich doch immer, wozu das gut sein soll…
paul ingendaay liest. er macht das, weil er ein buch geschrieben hat. und er möchte das gerne an ganz viele leute verkaufen. auch in mainz. deshalb setzt er sich abends in die kleine buchhandlung “shakespeare und so” und liest. sein buch heißt “warum du mich verlassen hast”. und es ist ziemlich dick. er kann also nur ganz wenig daraus vorlesen. denn sonst säßen seine hörer, die hoffentlich auch bald seine leser sind, ziemlich lange da herum. und sie müssten nichts tun als zuhörern.
aber das wäre ja nicht das schlimmste. denn paul ingendaay kann gut vorlesen. mit wenig aufwand macht er das. nüchtern und sachlich klingt seine stimme angenehm durch die buchhandlung. aber er weiß auch genau, was bei den lesern und zuhöreren gut ankommt. denn das hier in mainz ist ja nicht seine erste lesung. er weiß also genau, wo er die lacher auf seiner seite hat. oder wo er die stimme ein wenig heben muss. oder das es schön ist, dass er zwischendurch mal eine weile stehend liest.
sein buch erzählt mit viel witz und sensibilität von marko. marko ist 15 und lebt in den siebzigern in einem katholischen internat. das ist auch schon fast alles. denn es geht um “mädchen, bücher und gott”. die mädchen fehlen marko und seinen freunden sehr. das gibt anlass zu allerlei lustigen und traurigen verzweiflungstaten. bücher dagegen gibt es mehr als genug. die kann man lesen und dann lange darüber reden. ob es genug gott gibt, ist hingegen nicht so ganz klar.
das ist also eine menge stoff. eben 500 seiten dick. zum vorlesen hat der autor sich ein paar passagen aus dem anfang heraus gesucht. da gibt es nämlich ganz viel zu lachen. später tauchen noch spannende verwicklungen und hochdramatische vorgänge auf. aber die will paul ingendaay noch nicht verraten. denn das buch soll man ja noch lesen.
dafür beantwortet er nach dem lesen auch noch die fragen der hörer. mit viel geduld. denn bestimmt ist er schon ganz oft gefragt worden, was in seinem buch wahrheit und dichtung ist. oder wie es ihm in seiner jugend im katholischen internat erging.
kaufen darf und kann man das buch natürlich auch gleich. und wenn man will, unterschreibt paul ingendaay das auch noch — damit auch jeder glaubt, dass er es selbst geschrieben hat. und das man ihn einmal leibhaftig gesehen hat. das kann man dann seinen enkeln erzählen, später, wenn man alt ist. aber ob dann noch jemand weiß, wer paul ingendaay ist? vielleicht wird er dann ja gerade wiederentdeckt. als ein musterbeispiel des formvollendeten erzählens, dass dem leser freude bereitet. oder so ähnlich.
paul ingenday: warum du mich verlassen hast. münchen: schirmergraf 2006.
Präsentiert von WordPress & Theme erstellt von Anders Norén