Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: lesung

Allerseelen

Paul Celan – Aller­see­len /​All Souls (Day) – cc Eng­lish, Türk, Deutsch

Beim Kli­cken auf das und beim Abspie­len des von You­Tube ein­ge­bet­te­ten Vide­os wer­den (u. U. per­so­nen­be­zo­ge­ne) Daten wie die IP-Adres­se an You­Tube übertragen.

—Paul Celan, Allerseelen

Indulgierte Idiosynkrasien

Ann Cot­ten liest von uner­wie­der­ter Lie­be, Prin­zi­pi­en­bas­te­lei, Selbst­schau und Ekel – und ein Text wie „Der schau­dern­de Fächer“, in dem Wen­dun­gen wie „indul­gier­te Idio­syn­kra­si­en“ vor­komm­men, ver­heißt mir Lese­ver­gnü­gen … Zum Anschauen/​Anhören muss man sich lei­der zur „Zeit“ hin­über bege­ben, das Video lässt sich nicht ein­bin­den: klick.

Ins Netz gegangen (16.7.)

Ins Netz gegan­gen (15.7.–16.7.):

  • „Wahr­schein­lich habe ich ein­fach ein Ohr dafür“ – Ver­le­ger Enge­ler über sei­ne Lie­be zur Lyrik und | The­ma | Deutsch­land­ra­dio Kul­tur – Gespräch mit Urs Enge­ler, u.a. über gute Gedichte:

    Inter­es­san­te Gedich­te, die haben bei jedem Lesen neue Erleb­nis­se auf Lager für uns. Es gibt ganz vie­le Din­ge zu beob­ach­ten, das heißt, man muss schon sehr gedul­dig sein, um hin­ter die­se Qua­li­tä­ten zu kom­men, aber qua­si je nach­hal­ti­ger ich beschäf­tigt wer­de durch einen Text, des­to inter­es­san­ter scheint er mir, und unterm Strich wür­de ich dann auch sagen, des­to mehr Qua­li­tä­ten scheint er mir zu haben, sprich, des­to bes­ser ist er.

  • 100 Jah­re Tour de France | ZEIT ONLINE – Schnee­fall im Juli: „Die Zeit“ berei­tet ihre Tour-de-France-Reportage(n) nach dem Snow-Fall-Modell der New York Times hübsch auf (trotz des klei­nen Feh­lers in der Überschrift …)
  • 30 Jah­re Spex – taz​.de – Died­rich Diede­rich­sen im taz-Inter­view über den Jubi­lä­ums­band der „Spex“ und die „Spex“ überhaupt:

    Etwas war so begeis­ternd, es gibt so viel dar­über zu wis­sen, man muss viel wei­ter in die Tie­fe gehen. Wenn man eine Güter­ab­wä­gung macht zwi­schen gelun­ge­ner Kom­mu­ni­ka­ti­on, also zwi­schen soge­nann­ter Ver­ständ­lich­keit und der Treue zum Gegen­stand, oder der Treue gegen­über der eige­nen Begeis­te­rung, bin ich für Letz­te­res. Die Rezep­ti­ons­ek­sta­se hat bei mir immer Vor­rang vor dem gelun­ge­nen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­vor­gang. Einer, der in eine Rezep­ti­ons­ek­sta­se gerät, ist doch viel inter­es­san­ter zu beob­ach­ten als jemand, der Infor­ma­tio­nen verteilt.

  • 7 Tage – 7 Fra­gen – FIX​POET​RY​.com – Nora Gom­rin­ger beant­wor­tet sie­ben Fra­gen Ulri­ke Draes­ners – z.B. so:

    Die Stim­me ist die Schlan­ge im Hals.

sTiL. und Spiel

Es ist immer ein schö­ner Tag, wenn die Post so einen unschein­ba­ren grau­en Umschlag aus Solo­thurn bringt. Denn dar­in ver­steckt sich immer ein gro­ßes Lese­er­leb­nis (wirk­lich, bis jetzt war das immer so!). Und die­ses Mal ist beim neu­en Lyrik­band sTiL.e(ins) Art und Welt­wa­isen von Kon­stan­tin Ames sogar noch eine CD dabei – das ist also ein mul­ti­me­dia­les Erlebnis …

Die Vor­freu­de ist also gleich mehr­fach hoch: Die rough­books sind eigent­lich (fast) immer eine span­nen­de Lek­tü­re. Und gele­se­ne Lyrik ist eben­falls ein Fas­zi­no­sum. Und schließ­lich ist Kon­stan­tin Ames ein Dich­ter, der viel verheißt.

Als Leser bleibt er aber sprö­de, fin­de ich: Mir sind sei­ne Tex­te näher, wenn ich sie vor mir sehe – vor allem, weil ich dann halt mein Tem­po selbst bestim­men kann. Und das ist oft wesent­lich lang­sa­mer als die Lese­ge­schwin­dig­keit von Ames.

Denn sei­ne Gedich­te brau­en Zeit. Ames ist ein Sprach­jon­gleur, der sei­ne Art des Sprach­spiels, manch­mal auch der Spie­le­rei­en immer mehr per­fek­tio­niert. Vor­aus­set­zung ist zunächst ein­mal ein bewuss­tes Mei­den der Nor­ma­li­tät. Oder zumin­dest unter­nimmt er kei­ne Anstren­gung, in kon­ven­tio­nel­le Ras­ter ein­zu­pas­sen – höchs­tens eben im Spiel, etwa mit den manch­mal auf­tau­chend­ne Bin­nen- oder End-Reimen.

Ames also als Sprach­spie­ler vor dem Her­ren: Er klopft die Spra­che ab, bohrt und quetscht, sucht die Dop­pel­deu­tig­kei­ten (und ist sich auch für Kalau­er nicht zu scha­de), häm­mertt an die ver­steck­ten Türen, kriecht in die Fal­ten, taucht in die Tun­nel … Und immer geht es dar­um: Was steckt eigent­lich in der – unse­rer – Spra­che? Und was dahin­ter? Viel­leicht ist das wirk­lich dekon­stru­ie­ren­de Dich­tung (gibt es so etwas eigent­lich über­haupt?): Ames nimmt aus­ein­an­der, trennt und ana­ly­siert, split­tet und reißt an den Wor­ten, den Fügun­gen, den Sät­zen. Nicht immer kommt dann dabei „etwas“ her­aus, nicht immer ensteht dabei etwas Neu­es. Das muss es aber ja auch gar nicht: Es geht ja zunächst ein­mal dar­um, Bewusst­sein zu schaf­fen, Auf­merk­sam­keit auf das Ver­bor­ge­ne zu lenken.

Dazu gehört vor allem, die Viel­schich­tig­keit der Spra­che zu offen­ba­ren. Viel­leicht des­halb sind die­se Gedich­te immer in Bewe­gung, ken­nen kei­ne Ein­kehr oder Kon­tem­pla­ti­on, son­dern nur ein „fort“, ein „vor­wärts“ und ein „zurück“ – die Rich­tung scheint bei­na­he egal, so lan­ge die Bewe­gung nicht ins Sto­cken gerät. Und das ver­langt auch, nicht nur mit Asso­zia­tio­nen und Destruk­ti­on sowie Dekon­struk­ti­on von Wör­tern und Sät­zen zu spie­len, son­dern auch abzu­tau­chen in die Sozio­lek­te und Dia­lek­te von heu­te und von frü­her – genau­so grö­ßen­wahn­sinng wie sich das hier als Pro­gramm liest ist es auch manch­mal. Aber ohne Grö­ßen­wahn­sinn ja auch kei­ne gro­ße Kunst … Die Kunst zumin­dest man­cher die­ser Gedicht, könn­te man viel­leicht auch sagen, besteht dann aber dar­in, die­ses auf­de­cken­de (oder zer­stö­ren­de) Spiel in Sze­nen, Abläu­fen, Erzäh­lun­gen, Geschich­ten zu ermög­li­chen. Oder ermög­li­chen erst die­se Ver­läu­fe das Spiel? Ich weiß nicht mehr, wo vorn oder hin­ten ist, was Anfang oder was Ende, was Grund und was Fol­ge … – herrlich!

Kon­stan­tin Ames: sTiL.e(ins) Art und Welt­wa­isen. Ber­lin und Solo­thurn: rough­books 2012 (rough­book 024). 112 Sei­ten mit CD.

Rezitieren von Gedichten

Im Cult­mag hat Carl Wil­helm Macke 10 sehr sin­ni­ge Regeln bzw. Gebo­te über das rich­ti­ge, ange­mes­se­ne und zuläs­si­ge Rezi­tie­ren von lyri­schen Tex­ten nie­der­ge­schrie­ben. Sie sei­en jedem Ver­an­stal­ter, Rezi­ta­tor und Lyrik­lieb­ha­ber unbe­dingt ans Herz gelegt. Da heißt es unter anderem:

1. Wäh­rend der Lesung eines Gedichts ist aus feu­er­po­li­zei­li­chen und ver­si­che­rungs­recht­li­chen Grün­den das Anzün­den von Ker­zen strengs­tens untersagt.
[…] 3. Ob ein Gedicht ste­hend, sit­zend, lie­gend, knie­end oder auf dem Kopf ste­hend, in gebück­ter oder gera­der Hal­tung vor­ge­tra­gen wird, muss dem jewei­li­gen Rezi­ta­tor über­las­sen werden.
[…] 4. Ein nütz­li­ches Gedicht ist ein schlech­tes Gedicht und soll­te des­halb mög­lichst nicht vor­ge­tra­gen wer­den. Das Rezi­tie­ren von Pro­pa­gan­da­ge­dich­ten ist nach dem Fall der Ber­li­ner Mau­er, den Twin-Tower-Anschlä­gen vom 11. Sep­tem­ber 2001 strengs­tens untersagt.

Auch die ande­ren Gebo­te sind so scharf und tref­fend for­mu­liert. Man soll­te sie eigent­lich vor jeder Rezi­ta­ti­on als Pflicht­teil eben­falls vortragen …

immer wieder oktober: peter kurzeck liest in mainz

Da sitzt er also, ver­schwin­det fast hin­ter sei­nem Buch mit dem auf­fäl­li­gen oran­ge­far­be­nen Umschlag, wirkt noch klei­ner und zer­brech­li­cher als sonst. Aber sei­ne Stim­me, die dringt mühe­los über das Publi­kum hin­weg bis in die letz­te Rei­he und füllt das Anti­qua­ri­at am Ball­platz ganz und gar aus. Peter Kurz­eck, der aus Böh­men stam­men­de, bei Gie­ßen auf­ge­wach­se­ne, lan­ge in Frank­furt leben­de und nun in Süd­frank­reich schrei­ben­de Meis­ter der Erin­ne­rung und der Ver­ge­gen­wär­ti­gung liest aus sei­nem letz­ten Buch, „Okto­ber und wer wir selbst sind“. Die Lesun­gen Kurz­ecks sind immer ein Fest für sei­ne Leser und Fans, von denen es in Mainz inzwi­schen eine gan­ze Men­ge gibt – die Stüh­le im Anti­qua­ri­at reich­ten gar nicht für alle, eine schö­ner Erfolg für den Ver­an­stal­ter, das Lite­ra­tur­bü­ro Mainz. Denn Peter Kurz­eck liest nicht nur ein­fachr, was er mal, vor eini­gen Jah­ren, irgend­wann auf­ge­schrie­ben hat. Nein, er trägt es wirk­lich vor. Mit schwe­ben­den Beto­nun­gen, manch­mal fast sin­gend. Und immer mit gro­ßem, bei­na­he kind­li­chem Erstau­nen über die­sen Text, den er da vor sich lie­gen hat. Die­ses Erstau­nen, das ist eine ech­te Kurz­eck­sche Qua­li­tät. Es fin­det sich näm­lich schon im Buch selbst: Als Stau­nen über die Welt, die den Erzäh­ler umgibt. In „Okto­ber und wer wir selbst sind“ ist es das Frank­furt im Herbst 1983, die Woh­nung in Bocken­heim, die Wege in der Stadt und an ihren Rän­dern, mit Frau und Kind, zum Ein­kau­fen und zum Kin­der­la­den, im ver­gan­ge­nen Som­mer und begin­nen­den Herbst. Und natür­lich das Schrei­ben selbst – der Erzäh­ler hat gera­de sein drit­tes Buch begon­nen. Kurz­eck liest in Mainz aus den bei­den ers­ten Kapi­teln von „Okto­ber“, die genau den Moment beschrei­ben, in dem der Som­mer end­gü­lig vor­über ist. Aber in dem zugleich auch der Herbst schon da ist, schon etwas Neu­es begon­nen hat. Das klingt alles furcht­bar banal. Und ist es eigent­lich auch. Nicht aber für Peter Kurz­eck. Er ver­zau­bert das näm­lich: Durch die Erin­ne­rung an den All­tag, das übli­che und das unge­wöhn­li­che, das bana­le und außer­or­dent­li­che Gesche­hen wird das alles schon wie­der ganz anders und beson­ders. Und durch sei­nen fei­nen, prä­zi­sen, ver­knapp­ten und doch bered­ten Stil, der ihn schon so lan­ge zu einer ganz außer­ge­wöhn­li­chen Erschei­nung der deut­schen Gegen­warts­li­te­ra­tur macht, wird es gera­de­zu über­höht. Das Ergeb­nis, sein Buch und sei­ne Lesung, ist berüh­rend. Und mäch­ti­ger, auch dau­er­haf­ter als der klei­ne, unschein­ba­re Mann, der sie geschaf­fen hat.

(geschrie­ben für die main­zer rhein-zeitung)

paul ingendaay liest …

… und zwar aus sei­nem buch „war­um du mich ver­las­sen hast“. inter­es­san­ter als die lesung – nix beson­de­res, soli­de, über­legt, aber ohne inspi­ra­ti­on (wie wohl auch das buch in die­se rich­tung zu ten­die­ren scheint) – aber die beob­ach­tung, wie er mit dem publi­kum umgeht. zunächst ein­mal wird es immer gründ­lich zuge­tex­tet: so viel gela­ber und geschwal­le habe ich von einem „dich­ter“ oder autor oder text­pro­du­zent (was wohl am bes­ten passt) sel­ten erlebt. und fast schon zu bewun­dern, die fähig­keit des ein­schlei­mens, in so viel gere­de um nich­tig­kei­ten und bana­li­tä­ten ver­packt, dass es fast gar nicht auf­fällt. naja, nicht mein fall eben, so eine medio­kre dich­ter­le­sung – da fra­ge ich mich doch immer, wozu das gut sein soll…

paul ingen­da­ay liest. er macht das, weil er ein buch geschrie­ben hat. und er möch­te das ger­ne an ganz vie­le leu­te ver­kau­fen. auch in mainz. des­halb setzt er sich abends in die klei­ne buch­hand­lung „shake­speare und so“ und liest. sein buch heißt „war­um du mich ver­las­sen hast“. und es ist ziem­lich dick. er kann also nur ganz wenig dar­aus vor­le­sen. denn sonst säßen sei­ne hörer, die hof­fent­lich auch bald sei­ne leser sind, ziem­lich lan­ge da her­um. und sie müss­ten nichts tun als zuhörern.

aber das wäre ja nicht das schlimms­te. denn paul ingen­da­ay kann gut vor­le­sen. mit wenig auf­wand macht er das. nüch­tern und sach­lich klingt sei­ne stim­me ange­nehm durch die buch­hand­lung. aber er weiß auch genau, was bei den lesern und zuhö­re­ren gut ankommt. denn das hier in mainz ist ja nicht sei­ne ers­te lesung. er weiß also genau, wo er die lacher auf sei­ner sei­te hat. oder wo er die stim­me ein wenig heben muss. oder das es schön ist, dass er zwi­schen­durch mal eine wei­le ste­hend liest.

sein buch erzählt mit viel witz und sen­si­bi­li­tät von mar­ko. mar­ko ist 15 und lebt in den sieb­zi­gern in einem katho­li­schen inter­nat. das ist auch schon fast alles. denn es geht um „mäd­chen, bücher und gott“. die mäd­chen feh­len mar­ko und sei­nen freun­den sehr. das gibt anlass zu aller­lei lus­ti­gen und trau­ri­gen ver­zweif­lungs­ta­ten. bücher dage­gen gibt es mehr als genug. die kann man lesen und dann lan­ge dar­über reden. ob es genug gott gibt, ist hin­ge­gen nicht so ganz klar.

das ist also eine men­ge stoff. eben 500 sei­ten dick. zum vor­le­sen hat der autor sich ein paar pas­sa­gen aus dem anfang her­aus gesucht. da gibt es näm­lich ganz viel zu lachen. spä­ter tau­chen noch span­nen­de ver­wick­lun­gen und hoch­dra­ma­ti­sche vor­gän­ge auf. aber die will paul ingen­da­ay noch nicht ver­ra­ten. denn das buch soll man ja noch lesen.

dafür beant­wor­tet er nach dem lesen auch noch die fra­gen der hörer. mit viel geduld. denn bestimmt ist er schon ganz oft gefragt wor­den, was in sei­nem buch wahr­heit und dich­tung ist. oder wie es ihm in sei­ner jugend im katho­li­schen inter­nat erging.

kau­fen darf und kann man das buch natür­lich auch gleich. und wenn man will, unter­schreibt paul ingen­da­ay das auch noch – damit auch jeder glaubt, dass er es selbst geschrie­ben hat. und das man ihn ein­mal leib­haf­tig gese­hen hat. das kann man dann sei­nen enkeln erzäh­len, spä­ter, wenn man alt ist. aber ob dann noch jemand weiß, wer paul ingen­da­ay ist? viel­leicht wird er dann ja gera­de wie­der­ent­deckt. als ein mus­ter­bei­spiel des form­voll­ende­ten erzäh­lens, dass dem leser freu­de berei­tet. oder so ähnlich.

paul ingen­day: war­um du mich ver­las­sen hast. mün­chen: schirm­er­graf 2006.

Präsentiert von WordPress & Theme erstellt von Anders Norén