Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

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Bücherreihe

Aus-Lese #52

Ich pro­bie­re mal wie­der etwas Neu­es … Da ich mei­ne Mel­dun­gen „Aus-Lese“ mit einer kur­zen sub­jek­ti­ven Skiz­ze der jewei­li­gen Lek­tü­re und mei­nes Ein­dru­ckes dazu ver­se­hen habe, bedeu­tet das einen (zwar klei­nen) gewis­sen Auf­wand, der mich in der letz­ten Zeit weit­ge­hend davon abge­hal­ten hat, die Serie fort­zu­füh­ren. Also gibt es jetzt einen neu­en Ver­such im deut­lich redu­zier­ten For­mat …

Hei­mi­to von Dode­rer: Unter schwar­zen Ster­nen. Erzäh­lun­gen. Mün­chen: Deut­scher Taschen­buch-Ver­lag 1973. 153 Sei­ten. ISBN 978−3−423−00889−1.

Der schma­le Band mit Erzäh­lun­gen – über­wie­gend aus den 1950er und 1960er Jah­ren – hat es nicht geschafft, mei­ne respekt­vol­le Distanz zu Dode­rer zu ver­rin­gern. Ich erken­ne (und schät­ze) die Kunst­fer­tig­keit und das Stil­be­wusst­sein des Autors, aber davon abge­se­hen blei­ben mir die Tex­te (das ging mir mit sei­nen Roma­nen ähn­lich) eher fremd.

Wolf­gang Schul­ler: Cice­ro. Dit­zin­gen: Reclam 2018 (Reclam 100 Sei­ten). 101 Sei­ten. ISBN 978−3−15−020435−1.

Eine net­te kur­ze Fei­er­abend­lek­tü­re, die den Men­schen Mar­cus Tul­li­us Cice­ro flott, unter­halt­sam, auch poin­tiert por­trä­tiert. Dabei klingt das gro­ße (selbst­ver­ständ­li­che) Fach­wis­sen der römi­schen Geschich­te immer mit. Mir fehlt aller­dings etwas die genaue­re und aus­führ­li­che­re Beschäf­ti­gung mit den Inhal­ten von Cice­ros Wer­ken. Der Band bleibt (absicht­lich) weit­ge­hend (nicht nur, aber doch über­wie­gend) am Äuße­ren von Cice­ros Leben. – Natür­lich wäre das auch viel ver­langt, bei­des auf 100 Sei­ten zufrie­den­stel­lend zu erle­di­gen, das ist mir durch­aus bewusst. Für mei­nen Geschmack hät­te eine zumin­dest teil­wei­se Ver­schie­bung des Fokus aber den­noch gut getan.

Ger­hard Pop­pen­berg: Herbst der Theo­rie. Erin­ne­run­gen an die alte Gelehr­ten­re­pu­blik Deutsch­land. Ber­lin: Matthes & Seitz 2018 (Fröh­li­che Wis­sen­schaft 111). 239 Sei­ten. ISBN 978−3−95757−386−5.

Ein fas­zi­nie­ren­der Text. Ich könn­te aber nur schwer genau sagen, was das eigent­lich ist – und wor­auf der Text hin­aus will. Auf der Suche nach so etwas wie einer geis­ti­gen Signa­tur der BRD liest Pop­pen­berg Autoren und ihre Rück­bli­cke auf die letz­ten Jahr­zehn­te. So kom­men Phil­ipp Felsch, Frank Wit­zel, Ulrich Raulff und Fried­rich Kitt­ler gemein­sam in den Blick, wer­den genau (!) gele­sen und mit durch­aus sujek­ti­ve gefärb­ten Dar­stel­lun­gen und Erin­ne­run­gen kom­bi­niert. Das klingt jetzt viel selt­sa­mer als es im Text ist. Der ist näm­lich durch­aus fas­zi­nie­rend und gelehrt – eine über­aus anre­gen­de Mischung und auch eine anre­gen­de Lek­tü­re.

Valen­tin Sen­ger: Kai­ser­hof­stra­ße 12. 4. Auf­la­ge der Neu­aus­ga­be. Frank­furt am Main: Schöff­ling 2012. 316 Sei­ten. ISBN 978−3−89561−485−9.

senger, kaiserhofstraße 12 (cover)Roman oder auto­bio­gra­phi­sche Erzäh­lung – eigent­lich ist das ja egal. Was es auf jeden Fall ist: Eine – ange­sichts des Sujets – erstaun­lich leich­te und leicht­fü­ßi­ge Erzäh­lung der jüdi­schen Fami­lie Sen­ger vor und wäh­rend des Natio­nal­so­zia­lis­mus. Das ein­zig­ar­ti­ge dar­an ist, das merkt der Erzäh­ler auch selbst, wie wun­der­voll das gelingt: Ein Wun­der ist das Über­le­ben, ein Wun­der ohne Stau­nen. Natür­lich gibt es, ganz klas­sisch, Schwie­rig­kei­ten zu über­win­den. Aber um Ende siegt doch die Leich­tig­keit, das Leben, die fast unver­schäm­te Unver­nunft und Unbe­sorgt­heit des Erzäh­lers und sei­ner Fami­lie. Das gan­ze ist sehr direkt, unmit­tel­bar erzählt – ein Text, dem man sich kaum ent­zie­hen kann (und es ja eigent­lich auch nicht möch­te). Die meis­ten­teils knap­pen Kapi­tel, fast Erin­ne­rungs­bruch­stü­cke (vor allem im ers­ten Teil, der frü­hen Kind­heit des Erzäh­lers) machen dne Text auch gut zugäng­lich und kon­su­mier­bar – sicher­lich auch ein Fak­tor, der zum Erfolg des Buches, das seit 1978 in meh­re­ren Auf­la­gen und Aus­ga­ben (und Ver­la­gen) erschie­nen ist.

Nor­bert Frei/​Christian Morina/​Franka Maubach/​Maik Tänd­ler: Zur rech­ten Zeit. Wider die Rück­kehr des Natio­na­lis­mus. Ber­lin: Ull­stein 2019. 224 Sei­ten. ISBN 978−3−550−20015−1.

frei et al., zur rechten zeit (cover)Der Titel kün­digt eigent­lich eher eine Streit­schrift an: „Wider die Rück­kehr des Natio­na­lis­mus“. Das kann der Band aber kaum ein­lö­sen. Was er aber kann, und das durch­aus recht gut und über­zeu­gend: Hin­ter­grün­de für Ent­wick­lun­gen geben. Die Autor*innen bie­ten näm­lich eine Rück­schau auf die deut­sche Geschich­te seit 1945, in West und Ost, mit dem Fokus auf die diver­sen rech­ten, natio­na­lis­ti­schen Strö­mun­gen, Dis­kus­sio­nen und Par­tei­en, von der Ent­na­zi­fi­zie­rung bis in die unge­fäh­re Gegen­wart. Das ist als Ein­ord­nung und Argu­men­ta­ti­ons­hil­fe gut gemacht und gut zu nut­zen. Die gesamt­deut­sche Per­spek­ti­ve ist dabei durch­aus hilf­reich – unsi­cher bin ich aller­dings, ob Bücher wie die­se ihr Ziel wirk­lich errei­chen kön­nen …

Sommerlektüre

Som­mer­lek­tü­re, via Insta­gram

Die Liebe des Lesens und der Bücher

Über die Lie­be des Lesens und der Bücher hat Charles Dant­zig ein net­tes, unter­halt­sa­mes Buch geschrie­ben. Eigent­lich ist es gar kein Buch, son­dern die Samm­lung von klei­nen Tex­ten, die der fran­zö­si­sche Schrift­stel­ler schon woan­ders publi­ziert hat­te. Unter dem Titel Wozu Lesen? hat der Steidl-Ver­lag das als ein schö­nes Buch her­aus­ge­bracht.

Wozu Lesen? ist in aller ers­ter Linie ein abso­lu­tes, unbe­ding­tes Glau­bens­be­kennt­nis zum Lesen, ein Lob­preis, eine Selig­spre­chung: Gott ist nicht nur lesend, „Gott ist auf der Biblio­theks­lei­ter“ (28) – der Gott der Lek­tü­re näm­lich. Die Lek­tü­re ist es, die den lesen­den Men­schen ver­än­dert, begeis­tert und fas­zi­niert: Immer wie­der denkt Dant­zig (sich und alle ernst­haf­ten) den Leser als ein empa­thisch-den­ken­den Leser, einen emp­fäng­li­chen Leser: Emp­fäng­lich in dem Sin­ne, das er offen für die Schön­heit eines Tex­tes, eines ein­zel­nen Sat­zes oder eines blo­ßen Wor­tes ist …

Des­halb ist es auch nicht ver­wun­der­lich, dass er zu dem Schluss kommt:

Wir lesen aus purem Ego­is­mus, bewir­ken damit jedoch unge­wollt etwas Altru­is­ti­sches. Denn durch unse­re Lek­tü­re hau­chen wir einem schla­fen­den Gedan­ken neu­es Leben ein. (32)

Das Ver­gnü­gen am Lesen selbst, am Vor­gang des Ent­zif­fern, Auf­neh­men, Absor­bie­ren, Ver­wan­deln, zu-eigen-machen – also am mit­le­ben­den Lesen bestimmt sei­ne Kas­ka­de mög­li­cher Ant­wor­ten auf die zen­tra­le Fra­ge des Ban­des, näm­lich: Wozu ist das Lesen gut? Und was macht es mit uns? Zum Bei­spiel das hier:

Man liest ein Buch nicht um der Geschich­te wil­len, man liest ein Buch, um mit sei­nem Autor ein Tänz­chen zu wagen. (41)

Dant­zig sam­melt hier lau­ter klei­ne und kleins­te Minia­tur-Essays, die meist von eige­nen Lek­tü­re-Erleb­nis­sen Dant­zigs (die er unge­heu­er prä­sent zu haben scheint) aus­ge­hen und oft nur ein etwas aus­ge­führ­ter Gedan­ke oder Ein­fall sind, ver­packt in einer grif­fi­gen Sen­tenz oder For­mu­lie­rung. Zum Bei­spiel klingt das so:

Die Leu­te bestehen auf ihre Gedan­ken­lo­sig­keit. Dabei sind wir nur,[sic] wäh­rend wir lesen, vor der Päd­ago­gik sicher. (43)1

Immer wie­der mani­fes­tiert sich in die­sen Nota­ten (die mich in man­chem an Hen­ning Rit­ters Notiz­hef­te erin­ner­ten) die Ideee, gegen sich selbst zu lesen, sich selbst beim Lesen, durch das Lesen, mit dem Lesen in Fra­ge zu stel­len – also Neu­es zu pro­bie­ren, Argu­men­te aus­zu­tes­ten, Bücher/​Autoren wie­der­holt zu lesen, um eine Abnei­gung zu über­win­den … Im Grund ist das also das klas­si­sche Lek­tü­re-Argu­ment schlecht­hin: Lesen ermög­licht es, Alter­na­ti­ven zum Leben und der Welt zu erfah­ren und ken­nen zu ler­nen, sich selbst aus­zu­pro­bie­ren in der Phan­ta­sie : „Stel­len Sie sich selbst in Fra­ge. Stel­len Sie das in Fra­ge, was SIe in die­sem Moment lesen.“ (66), – ja, genau, das gilt natür­lich auch für die­se Sen­ten­zen, die Dant­zig­schen Schluss-Mora­li­tä­ten sei­ner Kurz­tex­te selbst:

Die ein­zi­ge Fage, die man sich im Hin­blick auf einen Chef stel­len soll­te, lau­tet: Wür­de er die Biblio­thek von Alex­an­dria anzün­den? […] Man möge lie­ber mei­ne Bücher ver­bren­nen als Men­schen. (50)

Egal, wel­che der vie­len Modi des Lesens Dant­zigs reflek­tiert und prei­send betrach­tet – leich­tes und schwe­res Lesen, spie­le­ri­sches und erns­tes, unter­hal­ten­des und for­schen­des: Immer ist das Lesen und Sein Leser begeis­te­rungs- und lie­bes­fä­hig. Selbst in der Ableh­nung schlech­ter Bücher (es ist wohl kein Zufall, dass ein Leser (und Schrift­stel­ler) wie Dant­zig, dem es so sehr (fast aus­schließ­lich) auf die empa­thi­sche Lek­tü­re ankommt, von Büchern und nicht von Tex­ten spricht).

Wozu Lesen? selbst ist übri­gens ein schö­nes Buch, bei dem Innen und Außen in gewis­ser Wei­se zur Deckung kom­men – da merkt man die Hand des Ver­le­gers … Und es ist ein Buch, wie es viel­leicht wirk­lich nur ein Fran­zo­se schrei­ben kann (um die­ses natio­nat­lis­ti­sche Kli­schee auch ein­mal zu bedie­nen=: leicht und ele­gant, mit Tief­gang, aber unauf­ge­regt, nie über­heb­lich, dafür immer lust­voll – vol­ler Lust an den Lek­tü­ren, die zu die­sen Tex­ten führ­ten und vol­ler Lust am Schrei­ben – und damit sprü­hend vor Lust am Ver­füh­ren zum Lesen. Denn das ist ja das gro­ße, heh­re und ein­zi­ge Ziel die­ses Buches: Nicht nur über das Lesen, sei­ne vie­ler­lei Vor- und Nach­tei­le, zu sin­nie­ren, son­dern vor allem zum lust­vol­len, erfüll­ten Lesen anre­gen: „Leben ist Pro­sa, kei­ne Poe­sie.“ (63) – Viel­leicht, viel­leicht aber auch nicht – wenn man nur genug liest …

Charles Dant­zig: Wozu Lesen? Göt­tin­gen: Steidl 2011. 205 Sei­ten. 16 Euro. ISBN 9783869303666.

Show 1 foot­no­te

  1. Die Kom­ma­set­zung ist hier ein ech­tes Ver­bre­chen am Text, das ich aber der Über­set­ze­rin und nicht dem Autor anlas­te …

Real-Satire?

Heu­te im Zug habe ich mit gro­ßem Ver­gnü­gen Nor­bert Hop­pes „Ich war Gut­ten­bergs Ghost“ gele­sen. Die Mit­rei­sen­den haben immer mal wie­der selt­sam geschaut, wenn ich aus hei­te­rem Him­mel laut auf­ge­lacht habe. Aber man­che Stel­len sind ein­fach zu wit­zig …

Dann sag­te der alte Mann [d.i. Kara­sek] wie­der: „Krull“ – und ging weg, den Hauss­mann holen, den Regis­seur, „Son­nen­al­lee“, Sie wis­sen Bescheid? Und der fand auch sofort: Felix Krull! Thea­ter­rol­le in Bochum … Ein Mann in Bom­ber­ja­cke, den sie Eichin­ger nann­ten, sag­te „Quatsch“ Lie­ber Film draus machen“, und hat­te schon den Bier­de­ckel für den Ver­trag vor­be­rei­tet … Boris Becker frag­te, ob er mal vor­bei­dür­fe zur Toi­let­te, und hat­te noch nicht ein­mal eine dun­kel­häu­ti­ge Frau dabei, jeden­falls auf dem Hin­weg. Und am Ende schau­te sogar Tho­mas Gott­schalk noch kurz her­ein (64)

Natür­lich ist das von vor­ne bis hin­ten erlo­gen, selbst der Autor­na­me ist ein Pseud­onym. Aber es ist ein­fach rich­tig gut gemacht, wie Hop­pe hier als angeb­li­cher Schul­freund und Adju­tant von „KT“ des­sen Cha­rak­ter, sei­ne Ent­wick­lung, den Auf­stieg und den plötz­li­chen Sturz schreibt – mit ihm als wesent­li­chen Draht­zie­her, ja sogar als Schöp­fer des „Poli­ti­kers“ Gut­ten­berg. Und als Ghost­wri­ter der „Gut­ten­berg­schen“ Dis­ser­ta­ti­on – als Betrü­ger, der von Gut­ten­berg betro­gen wur­de, weil die­ser ihn über die Her­kunft der Text­frag­men­te auf den angeb­li­chen 60 Dis­ket­ten täusch­te, so dass der Ghost­wri­ter gar nichts dafür konn­te, dass er zum Pla­gia­tor wur­de. Tra­gisch, so etwas …

Ich glau­be heu­te, die­ses Tech­no-Zeug war für ihn auch irgend­wie Wag­ner, nur mit ande­ren Mit­teln, aber wenn man genau hin­hört, ist es doch über­ra­schend ähn­lich im tie­fen Gedröh­ne. im hys­te­ri­schen Gefie­pe und in der gesam­ten Ufer­lo­sig­keit, ja, ich glau­be, er mein­te Wag­ner, wenn er Tech­no hör­te, das Tota­le, das All­um­fas­sen­de, das Gesamt­kunst­werk­haf­te hat­te es ihm eben ange­tan […]. (102f.)

Das gan­ze ist wun­der­bar mit vie­len klei­nen, tref­fen­den Sei­ten­hie­ben auf die Poli­tik der Bun­des­re­pu­blik und ihre Akteu­re, auf die deut­sche Gesell­schaft und die Medi­en, das Kul­tur­le­ben (nicht nur Hele­ne Hege­mann, auch Ingo Schul­ze kommt vor …) gespickt. Und es sti­lis­tisch gekonnt durch­ge­hend als simu­lier­te Beich­te bzw. „Jetzt sage ich euch mal die Wahrheit“-Rede geschrie­ben – so gut, dass man ein­fach eine Men­ge Spaß damit hat. Und an nicht weni­gen Stel­len wirkt die Sati­re dann doch wie­der so rea­lis­tisch, dass man fast Angst bekommt – Angst um ein Land und eine Gesell­schaft, in der so eine „Kar­rie­re“ und so vie­le Fehl­zu­schrei­bun­gen samt den Heils­er­war­tun­gen mög­lich sind.

Aber bei ARD und ZDF hieß es: Unse­re Zuschau­er mögen kei­ne Kin­der, die sind immer so laut und so frech und schie­ßen mit dem Fuß­ball Fens­ter­schei­ben kaputt, wenn man Mit­tags­schlaf hal­ten will. Sat.1 woll­te nur mit­ma­chen, wenn ein Pro­fi­ler aus den Lei­chen der Opfer auf den Täter schließt. Und das rich­ti­ge RTL bestand dar­auf, dass erst einbmal die Super­nan­ny mit allen Betei­lig­ten redet. Aber ich hat­te Ste­pha­nie ver­spro­chen, ihr Kon­zept unver­fälscht und ohne Wenn und Aber durch­zu­bo­xen. Da blie­ben am Ende nur der Home­shop­ping­ka­nal und RTL2. Na ja, und dann doch wohl lie­ber RTL2, nicht wahr? (142f.)

Das Kon­zept für die unsäg­li­che Sen­dung der Frau Gut­ten­berg hat­te natür­lich auch Hop­pe en pasant mal ent­wi­ckelt. Am Ende übri­gens, auch eine schö­ne Poin­te, fin­det Hop­pe doch wie­der einen neu­en Arbeits­platz:

Ich habe inzwi­schen wie­der einen Job, wie­der als Reden­schrei­ber und als Stich­wort­ge­ber, auch lei­der wie­der in Ber­lin, aber dafür dies­mal wenigs­tens hübsch im Grü­nen.
Das Schloss Bel­le­vue ist Ihnen ein Begriff?
Die Wulffs – irre net­te Leu­te, sag ich Ihnen. (Und die Haa­re von ihr! Die Haa­re!! Aber das ist ein ande­res The­ma.)

Nor­bert Hop­pe: Ich war Gut­ten­bergs Ghost. Eine Sati­re. Köln: Kie­pen­heu­er & Witsch. 156 Sei­ten. ISBN 978−3−452−04435−5.

Westrand: Dieter M. Gräfs vagabundierende Lyrik

tja, das ist das ergeb­nis des mani­schen bücher­kau­fens aus den rest­pos­ten – so etwas rutscht auch immer wie­der hin­ein. denn mit die­sen gedich­ten kann ich nicht viel anfan­gen. das hat meh­re­re grün­de – viel­leicht war ich ja auch nur nicht in der rich­ti­gen stim­mung. aber ein­wän­de habe ich fol­gen­de:

  • die stän­di­gen enjam­be­ments: ich ver­ste­he die­se über­frach­tung der gedich­te damit ein­fach nicht, das ist längst vom stil­mit­tel und aus­drucks­form zum manie­ris­mus ver­kom­men
  • die for­cier­te her­me­tik der bil­der: das ist nicht nur voll­kom­men bemüht, son­dern auch so ziel­los, ergeb­nis­los – es erge­ben sich meist nicht ein­mal inter­es­san­te fügun­gen aus der krampf­haf­ten anstren­gung, mög­lichst ver­que­re meta­phern zu bil­den…
  • klar, die „ein­fa­che“ lek­tü­re wird durch die dunk­len, ver­blass­ten, ver­schat­te­ten bil­der absicht­lich erschwert, ver­hin­dert und ver­lang­samt bzw. auch nur unter­bro­chen, abge­bro­chen – jeden­falls irgend­wie ver­baut
  • das ner­ven­de dar­an ist aber vor allem, dass sich aus den fast nur in zwei­zei­lern (zudem fast immer super kur­zen zei­len) daher­kom­men­den gedich­ten eigent­lich nie ein fluss ein­stellt, schon gar nicht so etwas wie ein flow
  • und die ewi­gen anspie­lun­gen (die er zudem noch meint im appen­dix erklä­ren zu müs­sen, weil sie solo eben doch nicht immer funk­tio­nie­ren) auf helden(-sagen) fan­gen auch nach weni­gen sei­ten an zu ner­ven
  • kurz­ge­sagt: bil­dungs­hu­be­rei, pseu­do-anspruchs­voll, ohne (erkenn­ba­ren) sinn und zweck und zusam­men­hang – das fängt schon mit dem mot­to (von giord­a­no bru­no, bezeich­nen­der­wei­se zitiert nach rolf die­ter brink­manns rom, bli­cke) an und hört eigent­lich erst mit dem appen­dix (auch der kann natür­lich nicht ein­fach anmer­kun­gen oder anhang hei­ßen) auf.

also: ein­fach ziel­los umher­schwei­fen­de, sich mög­lichst klug geben­de, die bemü­hung dazu aber nie ver­heh­len­de lyrik – ziem­lich lang­wei­lig und sprö­de…

die­ter m. gräf: west­rand. gedich­te. frankfurt/​main: suhr­kamp 2002.

kugelblitze sausen quer durch die lüfte und mittenhinein in mein literarisches nervenzentrum

noch eine frucht des wochen­en­des: end­lich habe ich ulri­ke draes­ners letz­ten gedicht­band mit dem titel kugel­blitz (mün­chen: luch­ter­hand 2005) gele­sen – er lag ja schon eine wei­le bereit und hat auch schon zwei anläu­fe hin­ter sich gehabt, die aller­dings bei­de ins lee­re lie­fen. auch die­ses mal reich­te die begeis­te­rung nicht für den gan­zen band, der in drei gro­ße abschnit­te (mit vor­spiel und nach­spiel) unter­teilt ist: „(lie­ben)“, „(krie­ge)“ und „(spä­ter)“. fas­zi­niert hat mich vor allem der ers­te teil, im zwei­ten abschnitt fand ich viel mehr rou­ti­ne und lan­ge­wei­le für den leser, der drit­te teil zeigt aber dann wie­der stark nach oben.

das ist wirk­lich zeit­ge­nös­si­sche, moder­ne (oder schon zwei­te moder­ne?) lyrik. wesent­li­ches, immer wie­der auf­tau­chen­des moment ist die erfah­rung der natur bezie­hungs­wei­se die pro­ble­me mit der erfahr­bar­keit von natur, mit dem kon­takt zwi­schen mensch und natur, v.a. die unfä­hig­keit des ver­ste­hens ihrer zei­chen und die uner­klär­lich­keit ihrer vor­gän­ge: „nie /​sag­te jemand /​ein beg­re­fi­li­ches /​wort dazu“ (9). eben­so wie­der­keh­rend: die gemacht­heit der natur­er­fah­rung. dazu pas­sen die dunk­len ver­glei­che natur – technik/​zivilisation, wie sie in der „enten­brust“ der stra­ßen­bahn auf­taucht. und fol­ge­rich­tig heißt ein gedicht dann auch „novo e raro mira­col di natu­ra“.

natur ist dabei (natür­lich [!]) nie ein­fach nur noch natur, son­dern erst in abgren­zung vom men­schen zur natur gewor­den. dabei wird sie aber gera­de in ihrer zwit­ter­stel­lung inter­es­sant: natur scheint hier als das ande­re auf, das gro­ße gegen­über – aber (zumin­dest schein­bar) befin­det es sich auch als sol­ches wenigs­tens teil­wei­se in der ver­fü­gungs­ge­walt des men­schen – die elek­tri­zi­tät ist, beim titel des buches nicht ver­wun­der­lich, ein gern genutz­tes bild dafür: „hüh­ner säu­bern ihr ei wäh­rend du dir bereits /​einen ihrer schen­kel in den mund“ (16, novo e raro micaol di natu­ra)

das vor­drin­gen der (noch unge­bän­dig­ten) natur in den zivi­li­sa­ti­ons­raum, das hoheits­ge­biet des men­schen als ver­nunft­be­gab­tem tier – dafür steht natür­lich schon das titel­ge­ben­de bild des kugel­blit­zes: als blitz ist er zwar ein ele­men­ta­res und voll­kom­men unmit­tel­ba­res natur­er­eig­nis. aber er ist es nicht in nor­ma­ler erschei­nung, son­dern qua­si geformt, in behaup­te­ter (näm­lich vom men­schen) kugel-form, also einer geo­me­trisch „per­fek­ten“ form, d.h. der blitz wird zu einer rein nach ver­nunft­grün­den geform­ten erschei­nung (gedeu­tet). nicht nur natur wird zur zivi­li­sa­ti­on, son­dern auch und vor allem geschieht der trans­for­ma­ti­ons­vor­gang in ent­ge­gen­ge­setz­ter rich­tung, vom men­schen in die natur. aber das führt zu rei­bun­gen, zu zusam­men­stö­ßen: die natur bleibt eben auch dann noch, wenn men­schen sie nach eige­nen „ideen“ for­men wol­len, „ver­schlos­sen“, dun­kel und unver­ständ­lich: “ er dach­te auf ihn. /​so ver­ste­hen wir ‚natur‘. ist toll­wut /​wenn einer sich wehrt? ach, es bud­delt /​nach zufall, pfeift auf gedächt­nis, mischt.“ (77)

dazu wird dann vor draes­ner als kunst­voll erdach­ter und aus­ge­führ­ter kon­tra­punkt das dia­lo­gi­sche moment der gedich­te (in der ers­ten und der drit­ten per­son, im indi­ka­tiv und kon­junk­tiv), die anre­de des „du“ ein­ge­führt: der ver­such, die lie­be zu beschrei­ben, zu kon­sta­tie­ren, zu behaup­ten und selbst­ver­ständ­lich auch wie­der zu for­men – samt den not­wen­dig dam­ti ein­her­ge­hen­den zwei­feln. der ers­te gro­ße teil des buches heißt nicht umsonst „(lie­be)“. und spä­ter heißt es ein­mal: „falls dies stimmt /​/​wird auch das paar eine ver­mu­tung sein“ (22). die lie­be, also die ver­bin­dung von ich und du zum wir, steht dabei genau wie schon das sub­jekt für sich, immer in fra­ge, ist nicht mehr ohne wei­te­res als gelin­gen­de vor­aus­zu­set­zen: „das röhr­chen der lie­be (ver­lo­ren)“ (28), „siche­rer auch /​/​du?“ (30)

das gan­ze geschieht eigent­lich immer in sehr geziel­tem auf­bau und mehr­deu­tig­kei­ten: über­lap­pen­de sät­ze ohne glie­de­rungs­zei­chen, per­fek­ti­on des enjam­be­ments, sei­ner mehr­deu­tig­keit im syn­tak­ti­schen sinn sind mit­tel, die draes­ner per­fek­tio­niert hat. dazu passt auch der hohe grad an refle­kiert­heit – nie etwas unbe­dach­tes, kein wort, über das nicht nach­ge­dacht wur­de – genau das, was lyrik eben aus­ma­chen (soll­te). das wie­der­um ent­spricht der unmög­lich­keit der unmit­tel­ba­ren erfah­rung, von der eigent­lich auch jedes gedicht berich­tet – das wah­re träu­men: „sie dach­te wie solch ein tier wohl schläft mit dem blu­men­topf­rü­cken /​und sah mit brau­nem zucker bestreut all das ver­täum­te tra­ra /​(angeb­lich des traums) aber sofort war er wach (die ohren) sofort /​/​fiel er wie­der um wie ein kind – wie es weint – alle /​gefüh­le also sei­en erlernt“ (19). schuld an die­ser grund­le­gen­den ent­frem­dung des men­schen von sei­ner umge­bung und sei­ner selbst ist z.b. die „nähe von maschi­nen“ (19, so heißt das gedicht)

wie es sich für echt moder­ne lyrik gehört (und das ver­ges­sen ja vie­le autoren und ande­re lei­der immer wie­der) wird außer­dem auch die gene­rel­le pro­ble­ma­tik des sub­jek­tes, sei­ner iden­ti­tät und die der ande­rer men­schen (als adres­sa­ten – der spra­che, der lyrik, der lie­be) the­ma­ti­siert. „dies löch­ri­ge tuch ich spre­che /​/​dich /​/​durch es. wenn ich sage ‚du‘. wenn /​cih sage ‚ich woll­te …‘ ‚ich …‘ ein /​kin­der­ge­sicht. oh gesperrt! löch­ri­ger /​/​busch: so sprech ich dich wenn. /​ich sage: du, eben, lüs­tern“ an ande­rer stel­le heißt es dann: „du bist. doch wo? /​[…] du bist nicht /​wo nicht wen, du /​gehst, der wald steht still. /​[…] /​[…] ein /​schat­ten ruft. was altes /​weiß von dir. die keh­le /​streckt sich schon. der /​wolf liebt sei­nen satz. /​das rudel ruft.“ (81, vor gram­ma­tik). und damit wird auch der nächs­te gro­ße the­men­kom­plex die­ser lyrik deut­lich: außer­dem in fra­ge gestellt wer­den die wor­te in all­ge­mei­nen. genau­er gesagt, wird auch hier nur die grund­le­gen­de erfah­rung der moder­ne, das alles in fra­ge steht, nur noch bekräf­tigt, auf­ge­nom­men und ver­ar­bei­tet. beson­ders gilt dies natür­lich für die ver­bin­dung wort – ding: „das eich­hörn­chen dreh­te /​die nuss eif­rig wie wir das wort ‚nuss‘ /​im gehirn“ (23). auch ein titel greift das auf: „tau­cher, rade­brech /​(vom vier­fa­chen sinn der schrift)“ (82). die ver­ge­gen­wär­ti­gung der schil­ler­schen bal­la­de geht dann unge­fähr so: „anzü­ge mit füßen hin­gen /​am gelän­der, im trock­ner /​hin­gen köp­fe /​/​je wei­ter ein boot ent­fernt ist /​umso tie­fer nach unten muss man /​um es zu hören /​/​mit dem andrang der schwär­ze /​gegen die mas­ke vorm gesicht. /​/​ertrinken.verstehen“ (82) – das ist natür­lich die tra­gik über­haupt: erst ertrin­ken, dann ver­ste­hen … die bei­den letz­ten gedich­te füh­ren das noch ein­mal alles zusam­men. da heißt es dann „sehn­sucht rief mich /​hast du ner­ven /​gern kom­me ich gern /​bin dei­ner stim­me ich /​gefolgt /​immer so blu­men /​blit­zend, ver­wirrt (84), wäh­rend die letz­ten zei­len, das post­skrip­tum (außer­halb der drei gro­ßen tei­le) die schrift­form schon nahe­zu voll­stän­dig ver­lo­ren ist und nur noch spra­che ist – in laut­schrift notiert, auf eng­lisch – wenn ich das rich­tig ent­zif­fert habe, steht da: „you too /​loved you /​was inven­ted“

der zwei­te teil, „(krie­ge)“, blieb mir zumin­dest bei der ers­ten lek­tü­re jetzt ver­schlos­se­ner, nüch­ter­ner und oft auch deut­lich gewoll­ter. die poli­ti­sche absicht etwa lässt sich zu leicht spü­ren und fas­sen – das tut der (kunst-)erfahrung der lyrik nicht gut. dabei ver­lie­ren die gedich­te glei­cher­ma­ßen an deut­lich­keit wie an der so fas­zi­nie­rend, weil stu­pend beherrsch­ten mehr­deu­tig­keit.
„mit eige­nen augen sehen: getrimmt /​zoo­men begrif­fe weg. bis wir tröp­felnd /​vor sehn­sucht und glau­ben dalie­gen wie /​der kopf einer gelieb­ten kat­ze unter /​einer hand, die uns strei­chelt oder streicht,“ (62f)

das ist alles zusam­men natür­lich ein fast wahn­sin­ni­ges pro­gramm. wer glaubt, ob all die­ser fra­gen, die­ser theo­re­tisch-reflek­tie­ren­den gedan­ken­gän­gen gin­ge der kunst­cha­rak­ter der gedich­te ver­lo­ren, der itt. denn es ist kein wahn, kei­ne hybris. denn die gedich­te blei­ben trotz der gefahr der theo­re­ti­schen über­las­tung meist, d.h. in ihren über­wie­gen­den tei­len, immer auch sinn­li­che gebil­de. eine unmit­tel­ba­re qua­li­tät der fügung ihrer wor­te (weni­ger der rhyth­men, mehr aus dem klang und den ver­misch­ten, kreuz und quer geschich­te­ten bild­lich­kei­ten gear­bei­tet) fes­selt das lesen­de auge und hirn, die vor­stel­lungs­kraft. und sie zeu­gen von der fas­zi­nie­ren­den kon­zen­tra­ti­on, die die­se gedich­te bestimmt. mehr lässt sich von lyrik eigent­lich kaum noch ver­lan­gen. man­ches ist dabei durch­aus grenz­wer­tig – qua­li­täts­mä­ßig gese­hen: wenn genau die­se kon­zen­tra­ti­on sich ver­liert, wirkt das gan­ze sehr schnell nur noch manie­ris­tisch. aber es bleibt fest­zu­hal­ten: das sind 85 sei­ten pure poe­sie unse­rer zeit mit der ver­hei­ßung, die­se auch zu über­dau­ern. w

abtrünnig: eine trümmerlandschaft aus text

eine inten­si­ve und denkauf­wän­di­ge lek­tü­re: rein­hard jirgl: abtrün­nig. roman aus der ner­vö­sen zeit. mün­chen: han­ser 2005. ich bin jetzt nach einer lan­gen – meh­re­re wochen – lese­rei­se bis ans ende vor­ge­drun­gen. und ich kann jedem nur emp­feh­len, sich die­ser erfah­rung, die manch­mal zwar den cha­rak­ter eines exer­zi­ti­ums anneh­men kann, zu unter­zie­hen. den jirgl, schon lan­ge einer mei­ner favo­ri­ten unter den noch leben­den und schrei­ben­den autoren, hat hier ein beein­dru­cken­des kunst­werk geschaf­fen. und als sol­ches muss man es auch ganz bewusst und offen­siv rezi­pie­ren: als kunst – nicht als unter­hal­tung, denn als bett­lek­tü­re taugt die­ser roman sicher­lich über­haupt nicht.

da ist zunächst ein­mal sei­ne per­so­na­le son­der­or­tho­gra­phie, die hier – wie etwa auch in der genea­lo­gie des tötens – sehr eigen­wil­lig erscheint. v.a. scheint sie ihre sys­te­ma­ti­sie­rung ein wenig ver­lo­ren zu haben. kri­ti­ken the­ma­ti­sie­ren die­se sehr augeschein­li­che beson­der­heit der spä­te­ren jirgl­schen tex­te beson­ders gern. in der tat muss man aber sagen, dass sie ent­ge­gen etwa­iger befürch­tun­gen kein lese­hin­der­nis dar­stellt – sie wird sehr schnell sehr ver­traut. was sie aller­dings gera­de in abtrün­nig nicht wird, ist voll­kom­men ver­ständ­lich: vie­les bleibt zumin­dest bei der ers­ten lek­tü­re (viel­leicht hül­fe da eine sys­te­ma­ti­sche durch­drin­gung?) auf dem niveau der spie­le­rei, weil sich einer­seits kei­ne bedeu­tungs­zu­wachs oder ‑dif­fe­ren­zie­rung erken­nen lässt, ande­rer­seits auch weder eine absicht noch eine wenigs­tens ver­mut­ba­re regel­haf­tig­keit. in man­chen pas­sa­gen wirkt die­se extre­me ver­meh­rung der signi­fi­kan­zen oder zumin­dest außer­or­dent­li­che ver­deut­li­chung der viel­deu­tig­keit des geschrie­be­nen wor­tes, ins­be­son­de­re natür­lich durch die (ortho-)graphische eigen­wil­lig­keit, wie eine künst­lich for­cier­te annä­he­rung an die münd­lich­keit, das ora­le erzäh­len. ande­rer­seits ist sie in ihrer viel­ge­stal­tig­keit, die ja weit über die ver­ein­heit­li­chen­de, nor­mier­te (und damit ein­schrän­ken­de) regel­or­tho­gra­phie hin­aus­geht, auch offen­bar der ver­such der dis­am­bi­gu­ie­rung – der aller­dings wie­der dazu führt, das das schrift­bild extrem her­me­tisch, abschre­ckend & unüber­sicht­lich wirkt & auch tat­säch­lich wird: ent­zif­fer­bar ist das kaum noch, weil das sys­tem nicht so ein­fach zu durch­schau­en ist (ist es über­haupt ein sys­tem?). und das führt schließ­lich auch dazu, dass man ihm leicht den vor­wurf der spie­le­rei machen kann. tat­säch­lich scheint man­ches auch nur das zu sein, lässt sich man­che wort-ver­for­mung auch kaum anders auf­fas­sen. in sei­ner gesamt­heit ist das, wenn man außer­dem noch die for­ma­len irre­gu­la­ri­en und stol­per­stei­ne – etwa die quer­ver­lin­kun­gen und text­bau­stei­ne – bedenkt, ein kom­plett ver­min­ter text und damit (auch) ein angriff auf den leser: die irre­gu­lä­ren sat­zei­chen als klei­ne spreng­kör­per, als angrif­fe auf das schnel­le, ein­fa­che & gewöhn­li­che ver­ste­hen.

in abtrün­nig ist die geschich­te, die fabel, weit­ge­hend zur neben­sa­che gewor­den – noch nie war das bei jirgl (soweit ich sehe) so sehr der fall wie hier. im kern geht es um zwei män­ner, zwei lie­ben­de, die auf ver­schlun­ge­nen wegen nach ber­lin kom­men und dort auf tra­gisch-gro­tes­ke wei­se am und im leben schei­tern. das ist aber auch schon wie­der nur halb rich­tig, weil der zwei­te lie­ben­de, ein aus der ddr-nva in den bgs über­nom­me­ner grenz­schüt­zer, der einer flüch­ten­den ost­eu­ro­päe­rin zum ille­ga­len grenz­über­gang nach deutsch­land ver­hilft, auf der suche nach ihr nach ber­lin kommt, dort als taxi­fah­rer arbei­tet, sie wie­der­fin­det und just in dem moment, als sie zurück in ihre hei­mat gekehrt ist, um für die geplan­te hei­rat die not­wen­di­gen papie­re zu orga­ni­se­ren, von ihrem offen­bar psy­chisch gestör­ten bru­der ersto­chen wird, weil also die­ser zwei­te lie­ben­de, des­sen geschich­te natür­lich durch begeg­nung mit der des ande­ren man­nes ver­knüpft ist, gar kei­ne beson­ders gro­ße rol­le spielt.

wesent­li­cher als das ist aber das moment, der abtrün­nig als „roman aus der ner­vö­sen zeit“ cha­rak­te­ri­siert. das ist das autis­ti­sche mono­lo­gi­sie­ren, das durch­bro­chen wird von essay­ar­ti­gen pas­sa­gen und geni­al erzähl­ten tei­len. natür­lich spie­gelt das wie­der­um nur das gro­ße, zen­tra­le pro­blem der haupt­fi­gur und der moder­nen gesell­schaft über­haupt: die suche nach dem ich, der iden­ti­tät, dem holis­ti­schen sub­jekt, dem eige­nen lebens- und sinn­ent­wurf – ein suche, die gran­di­os schei­tern muss und nur frag­men­te, zer­stö­rung und beschä­dig­te personen/​figuren/​menschen hin­ter­lässt. der ein­druck eines gro­ßen bruch­wer­kes bleibt dabei nicht aus: frag­men­tier­te per­sön­lich­kei­ten, sich auf­lö­sen­de sozia­le bin­dun­gen und gewis­sen­hei­ten, kurz eine recht radi­kal aus­ge­rich­te­te gesell­schafts­kri­tik sucht ihre form – und ver­liert sich dabei man­ches mal in essay-ein­schü­ben: abtrün­nig ist in ers­ter linie ein/​das buch vom schei­tern, sei­ne bibel sozu­sa­gen: „es gibt kein rich­ti­ges leben im fal­schen“ – oder: das gelin­gen ist ganz und gar unmög­lich gewor­den – & das muss man auch genau so kate­go­ri­al for­mu­lie­ren, denn es gilt nicht nur für die figu­ren des tex­tes, son­dern auch für ihn selbst. des­halb ist er so, wie er ist; ist er in einer nach her­kömm­li­chen maß­stä­ben defi­zi­tä­ren ver­fas­sung – er kann natür­lich auch nicht mehr anders sein, das lässt die moder­ne welt, die „ner­vö­se zeit“ nicht mehr zu. und genau wie die­se ist er eine ziem­lich gewal­ti­ge zu-mutung für den leser. denn er will ja nichts ande­res, als die­se schö­ne neue welt erklä­ren oder min­des­tens auf­zei­gen – des­halb natür­lich auch die (zeit­wei­se durch­aus über­hand neh­men­den) essay-pas­sa­gen, die den kunst­cha­rak­ter des gesam­ten tex­tes beein­flus­sen – & das durch­aus mit grenz­wer­ti­gen ergeb­nis­sen. denn im gan­zen ist das wohl so etwas wie ein anar­chis­ti­sches kunst­werk – hoff­nungs­los unüber­sicht­lich, kreuz und quer ver­linkt durch die selt­sa­men „link“-kästen, die ver­wei­se vor und zurück im text, die ein­ge­streu­ten zita­te und auch wie­der­ho­lun­gen, neu­an­läu­fe der beschrei­bung einer situa­ti­on aus ver­schie­de­nen blick­win­keln. das alles hat zum ergeb­nis, das der roman, der vom tod der gesell­schaft, vom tod des sozia­len lebens, spricht, auch den tod des romans beschreibt, exem­pli­fi­ziert – und auch refle­xiert. denn auch wenn es gar nicht oder höchst sel­ten expli­zit geschieht – vie­les im text (etwa schon die daten der nie­der­schrift (oder die behaup­te­ten daten – schließ­lich befin­den wir uns mit ihnen immer noch im fik­tio­na­len text)) deu­tet auf eine refle­xi­on der mög­lich­kei­ten des schrei­bens in einer ner­vö­sen, defi­zi­tä­ren, ver­kom­me­nen und immer wei­ter ver­kom­men­den gesell­schaft hin. und wenn ein text wie abtrün­nig das ergeb­nis die­ser pro­zes­se ist, kann man nun sagen, dass das schrei­ben unmög­lich oder gar obso­let wird? das scheint mir zwei­fel­haft – denn trotz sei­ner unzwei­fel­haft zu kon­sta­tie­ren­den schwä­chen ist abtrün­nig als gesam­tes doch ein beein­dru­cken­des kunst­werk bemer­kens­wer­ter güte. inter­es­sant wird aller­dings die fort­set­zung – mir scheint es gera­de mit die­sem buch so, als schrie­be sich der sowie­so schon am ran­de des ästhe­ti­schen und ins­be­son­de­re des lite­ra­ri­schen dis­kur­ses ste­hen­de jirgl immer mehr ins abseits: ob er die­se bewe­gung noch frucht­bar wei­ter­füh­ren kann?

eine wunderbar sprechende „gegensprechstadt“

ja genau, so heißt näm­lich der neu­es­te lyrik­band von ger­hard falk­ner. genau­er gesagt: gegen­sprech­stadt – ground zero. und im grun­de ist es auch gar kein lyrik­band, son­dern nur ein gedicht, ein lan­ges eben – so ca. 70 sei­ten. und es kommt nicht nur in der kook­books-typi­schen aus­stat­tung daher, son­dern auch noch mit cd. dadrauf hat falk­ner gro­ße tei­le (lei­der nicht alles) sei­nes gedich­tes gele­sen, und david moss macht ein wenig musik dazu. aller­dings sehr wenig – das ist ziem­lich ent­täu­schend: ein mit­schnitt einer live-lesung, zu der moss nicht beson­ders viel ein­ge­fal­len ist – ein eher unge­wöhn­li­cher zustand für die­sen künst­ler.

egal, eigent­lich geht es ja vor allem um das gedicht. nach­dem mich falk­ners alte meis­ter nicht so sehr begeis­tern konn­te, schafft gegen­sprech­stadt das vom ers­ten bis zum letz­ten vers. das ist nicht nur das bes­te (und in dem umfang auch ers­te) ber­lin-gedicht, das ich ken­ne. das ist auch eine sehr zeit­ge­mä­ße form des dich­tens: mit geschich­te gesät­tigt, ohne des­halb so bedeu­tungs­hu­be­risch-bil­dungs­schwer daher­zu­kom­men wie die letz­ten durs-grün­bein-bän­de. falk­ner treibt das spiel mit den allu­sio­nen, den zita­ten und den quer­ver­wei­sen ziem­lich kunst­voll – und ziem­lich weit. es ist öfters kurz davor, wirk­lich zu ner­ven, die stän­di­gen halb-bedeu­ten­den pop­kul­tu­rel­len anspie­lun­gen. aber sie tun es dann meis­tens eben doch nicht. denn „moti­ve bekann­ter gedich­te“ „sind humus. mon­ta­ge­teil. zitat. anlei­he. link. refe­renz. ver­beu­gung.“ (74) – ein klei­ner hieb auf die „pop­li­te­ra­ten“ darf in einem sol­chen fall nicht feh­len: „eine zeit, in der man bei künst­lern /​wenn man sie aus­zieht /​auf ck- oder joop!-unterwäsche stößt /​(als letz­te schicht sozu­sa­gen /​vor der eigent­li­chen inspi­ra­ti­on) /​ist reif für eine revi­si­on /​sie soll­te bei tschechow /​wie­der in die leh­re gehen, /​oder mit pyn­chon her­aus­zu­fin­den ver­su­chen /​wo die wirk­li­chen ver­fol­ger ste­cken /​damit sie zurück­fin­det /​(um im bild der spra­che zu blei­ben) /​zum ehr­li­chen baum­woll­ripp mit ein­griff /​denn gro­ße poe­sie /​auch wo sie glück­lich ver­wirrt /​ist mar­ken und moden abhold“ (36)

das gan­ze chan­giert dann ziem­lich unre­gel­mä­ßig (nach dem ers­ten lek­tü­re­ein­druck) zwi­schen his­to­risch vor­ge­form­ten lang­ge­dicht und der vor­lie­be für ein­zel­im­pres­sio­nen, anein­an­der­ge­reiht und sequen­ziert. die üer­gän­ge – und das macht gegen­sprech­stadt wahr­schein­lich so geschmei­dig – blei­ben aber immer flie­ßend. denn falk­ner schafft es eben, dem all­täg­li­chen nach­zu­bli­cken, das musi­ka­li­sche detail der stadt ber­lin über­all zu fin­den und in wor­te zu fas­sen – aber auch, die gro­ßen momen­te, die revo­lu­tio­nen und kata­stro­phen, den 11. sep­tem­ber, den 3. okto­ber und den 15. märz (falk­ners geburts­tag, iden des märz) mit ein­zu­be­zie­hen.

rhyth­misch erscheint das aufs ers­te, ohne genaue­re ana­ly­se, sehr leicht und unbe­schwert: ein unge­zwun­ge­ner umgang mit vers­for­men macht das gedicht – und davon legt gera­de falk­ners lesung beson­ders deut­lich zeug­nis ab – sehr flie­ßend. die­se „poly­me­re poe­sie“, wie der autor das nennt, kreist immer wie­der um phä­no­me­ne der zeit, ihrer sub­jek­tiv total zer­split­ter­ten wahr­neh­mung, um das zäh­len. spra­che scheint da als medi­um und bewe­gung glei­cher­ma­ßen ret­tung zu bie­ten – als flucht­punkt und als ver­ar­bei­tungs­mög­lich­keit: „auch die­ses gedicht ist ein gedicht ohne einen /​hel­den ist natür­lich ein gedicht /​ohne einen hel­den ist natür­lich /​ein gedicht“ (56). und ein gedicht ist das hier auf jeden fall – ein wirk­lcih beein­dru­cken­des – schon lan­ge nicht mehr so begeis­tert lyrik ver­schlun­gen.

ger­hard falk­ner: gegen­sprech­stadt – ground zero. gedicht & cd mit music by david moss. idstein: kook­books 2005.

noch einmal bier-prosa. diesmal von franz dobler

nach „blut & bier“, den ja wirk­lich sehr unge­wa­sche­nen sto­ries von franz xaver kroetz, kommt gleich die nächs­te alko­hol-lek­tü­re: bier­herz. flüs­si­ge pro­sa von franz dobler (ham­burg: nau­ti­lus 1994). so rich­tig sau­ber ist das hier natür­lich auch nicht, das wäre von franz dobler auch wohl zu viel ver­langt. den anfang macht die wie­der­ver­wer­tung des vor­wor­tes zu einem thea­ter­stück mit dem über­ra­schen­den namen „bier­herz“, in dem dobler v.a. erklärt, dass man mit sei­nem stück so ziem­lich alles machen kann, so lan­ge nur der text von irgend jemand gespro­chen wird. das gan­ze fix ver­quirlt mit ein paar tief­schür­fen­den und jeder men­ge flach­schür­fen­den gedan­ken und ideen zum bier und sei­nem kon­sum und fer­tig sind die ers­ten drei­ßig sei­ten des neu­en büch­leins.… danach kommt lei­der nicht mehr viel: eine klei­nes „rei­se­ta­ge­buch“ durch loui­sia­na und texas mit ein paar lau­ni­gen beschrei­bun­gen der musik‑, tanz‑, bar- und bier­ver­hält­nis­se dor­ten ist da noch der höhe­punkt. der rest total ver­nach­läs­sig­bar: anek­do­ten, lau­nig erzählt, abso­lut unschein­bar und ohne beson­de­re stil­merk­ma­le, ästhe­ti­sche eigen­hei­ten oder sons­ti­ge her­aus­ra­gen­de eigen­schaf­ten: flüs­sig eben, und schnell ver­ron­nen.…

joachim lottmann beobachtet zombies in freier wildbahn

der neu­es­te anschlag lott­manns auf guten geschmack und über­kom­me­ne wer­te: joa­chim lott­mann: zom­bie nati­on. köln: kie­pen­heu­er & witsch 2006.

der erzäh­ler – ein autor-klon mit dem namen johan­nes­loh­mer, „erfin­der“ des pop-romans – beob­ach­tet sich beim recher­chie­ren /​schrei­ben eines fami­li­en­ro­mans, der sei­nem jugend­ro­man fol­gen soll: „der ers­te fami­li­en­ro­man der pop­li­te­ra­tur“ behaup­tet der klap­pen­text (was natür­lich blöd­sinn ist, allein fich­te hat da ja schon eini­ges dazu geschrie­ben). und natür­lich ist „zom­bie nati­on“ auch gar kei­ner. höchs­tens als per­si­fla­ge auf die aktu­el­le schwem­me auf dem bücher­markt. dazu ist lott­mann ja immer wie­der gut: als seis­mo­graph. und als schlag­wort-lie­fe­rant – ein bei­spiel? aber klar doch, gleich auf dem umschlag: „was frau­en den män­nern antun, ist der eigent­li­che irak-krieg unse­rer epo­che.“ das steht da ein­fach mal so und war­tet, dass jemand drauf anspringt. was ja hier­mit offi­zi­ell erle­digt wäre …

„die letz­ten tage der ber­li­ner repu­blik“ sind das zen­trum des romans – die ansprü­che sind gesun­ken, die mensch­heit war ein­mal, heu­te geht es nur noch um uns: die mit­drei­ßi­ger oder vier­zi­ger kul­tur­schaf­fen­den… typisch für lott­mann ist natür­lich wie­der der iro­nie-over­kill, sein schein-rea­lis­mus, inklu­si­ve voll­zi­tat eini­ger jour­na­lis­ti­schen arbei­ten lott­manns
(aus der sz und der taz), ver­quickt noch dazu mit eini­gen pri­va­ten abson­der­lich­kei­ten – und schon ist das neue buch fer­tig. schnell geschrie­ben, schnell gele­sen und wahr­schein­lich auch schnell wie­der ver­ges­sen.

das fabu­lie­ren hat lott­mann aber ganz gut draf: die hyper­tro­phe meta­phern­schlacht im geis­te einer simu­lier­ten erzäh­le­ri­schen unschuld, die natür­lich stän­dig geschickt umspielt wird – genau wie das ima­gi­nier­te zwie­ge­spräch zwi­schen erzäh­ler und ima­gi­nä­rem leser ger­ne mal reflek­tiert, umge­dreht wird, um dann doch kei­ne rück­sicht zu neh­men oder gera­de erst recht, je nach momen­ta­ner stim­mung: „es fällt mir schwer, den leser mit einer wie­der­ga­be eines frem­den lebens zu behel­li­gen, anstatt über das eige­ne leben zu berich­ten.“ – „der lite­ra­tur­be­trieb ver­zei­he mir, aber ich konn­te nicht anders, als wie­der mit ihr zu schla­fen.“

das gesamt­pa­ket wird dann mit dem herr­li­chen rosa des umschlags abge­run­det: die züch­ti­ge unschuld – aber dann natür­lich die streich­zei­chung der bar­bu­si­gen jung­frau mit gül­de­nem haar –, die beob­ach­tung der schreck­lich ange­pass­ten jugend des jah­res 2005 und ver­zweif­lung über ihre sinn­lo­sig­keit beschäf­ti­gen lott­mann: wer schon in sei­ner jugend das leben sei­ner eltern führt – was soll aus dem noch wer­den? und wenn das ein gan­zes volk so macht? dann amü­siert man sich mit sei­ner heim­li­chen lie­be, der bild-zei­tung: „ein schö­ner beginn, eine tol­le geschich­te, mit einem nach­teil: sie stand in der bild­zei­tung und war somit erfun­den.“

und wer sind nun eigent­lich die zom­bies? und die zom­bie nati­on? kei­ne ahnung. aber sie haben die gro­ße koali­ti­on ver­schul­det und ver­ant­wor­tet.

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