Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

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#20books Book Challenge

Ich bin wieder mal hoff­nungs­los late to the par­ty, dafür gibt es gle­ich alles auf einen Stre­ich und hier, nicht auf Mastodon, wo die Chal­lenge herkommt: “20 Büch­er, die dich geprägt haben. Ein Buch pro Tag, 20 Tage lang.”.

Die Auswahl war gar nicht so ein­fach: Manche Büch­er waren sehr schnell klar, bei anderen war es schwieriger, sich auf ein konkretes Buch festzule­gen — oft ist es dann doch eher ein Autor/eine Autorin oder eine Gruppe von Tex­ten, die mich beson­ders bee­in­flussten. Nichts­destotrotz, das ist die Liste, die nach einigem Über­legen rauskam (ohne beson­dere Rei­hen­folge):

  1. Judith Kerr, Als Hitler das rosa Kan­inchen stahl
  2. Gudrun Pause­wang, Die Wolke
  3. Michael Ende, Momo
  4. Thomas Mann, Der Zauber­berg
  5. Peter Weiss, Ästhetik des Wider­stands
  6. Peter Kurzeck, Der Nußbaum gegenüber vom Laden, in dem du dein Brot kauf­st. Die Idylle wird bald ein Ende haben!
  7. Friedrich Hölder­lin, Hype­r­i­on oder der Eremit in Griechen­land
  8. Max Horkheimer/Theodor W. Adorn, Dialek­tik der Aufk­lärung. Philosophis­che Frag­mente
  9. Thomas Bern­hard, Aus­löschung. Ein Zer­fall
  10. Georg Büch­n­er, Lenz
  11. Georg Büch­n­er, Der Hes­sis­che Land­bote
  12. Georg Friedrich Wil­helm Hegel, Ästhetik
  13. Rainald Goetz, Irre
  14. Thomas Mann, Dok­tor Faus­tus
  15. Judith Buth­ler, Das Unbe­ha­gen der Geschlechter
  16. Friedrich Schiller, Über die ästhetis­ch­er Erziehung des Men­schen
  17. Michel de Mon­taigne, Essais
  18. Car­lo Ginzburg, Der Käse und die Würmer
  19. Thomas Mei­necke, Tomboy
  20. Thomas Kling, Erprobung herzstärk­ender Mit­tel, Geschmacksver­stärk­er, Brennstabm, Nacht.Sicht.Gerät. Aus­gewählte Gedichte 1981 — 1993
Bücherreihe

Aus-Lese #52

Ich pro­biere mal wieder etwas Neues … Da ich meine Mel­dun­gen “Aus-Lese” mit ein­er kurzen sub­jek­tiv­en Skizze der jew­eili­gen Lek­türe und meines Ein­druck­es dazu verse­hen habe, bedeutet das einen (zwar kleinen) gewis­sen Aufwand, der mich in der let­zten Zeit weit­ge­hend davon abge­hal­ten hat, die Serie fortzuführen. Also gibt es jet­zt einen neuen Ver­such im deut­lich reduzierten For­mat …

Heim­i­to von Doder­er: Unter schwarzen Ster­nen. Erzäh­lun­gen. München: Deutsch­er Taschen­buch-Ver­lag 1973. 153 Seit­en. ISBN 978–3‑423–00889‑1.

Der schmale Band mit Erzäh­lun­gen — über­wiegend aus den 1950er und 1960er Jahren — hat es nicht geschafft, meine respek­tvolle Dis­tanz zu Doder­er zu ver­ringern. Ich erkenne (und schätze) die Kun­st­fer­tigkeit und das Stil­be­wusst­sein des Autors, aber davon abge­se­hen bleiben mir die Texte (das ging mir mit seinen Roma­nen ähn­lich) eher fremd.

Wolf­gang Schuller: Cicero. Ditzin­gen: Reclam 2018 (Reclam 100 Seit­en). 101 Seit­en. ISBN 978–3‑15–020435‑1.

Eine nette kurze Feier­abendlek­türe, die den Men­schen Mar­cus Tul­lius Cicero flott, unter­halt­sam, auch pointiert porträtiert. Dabei klingt das große (selb­stver­ständliche) Fach­wis­sen der römis­chen Geschichte immer mit. Mir fehlt allerd­ings etwas die genauere und aus­führlichere Beschäf­ti­gung mit den Inhal­ten von Ciceros Werken. Der Band bleibt (absichtlich) weit­ge­hend (nicht nur, aber doch über­wiegend) am Äußeren von Ciceros Leben. — Natür­lich wäre das auch viel ver­langt, bei­des auf 100 Seit­en zufrieden­stel­lend zu erledi­gen, das ist mir dur­chaus bewusst. Für meinen Geschmack hätte eine zumin­d­est teil­weise Ver­schiebung des Fokus aber den­noch gut getan.

Ger­hard Pop­pen­berg: Herb­st der The­o­rie. Erin­nerun­gen an die alte Gelehrten­re­pub­lik Deutsch­land. Berlin: Matthes & Seitz 2018 (Fröh­liche Wis­senschaft 111). 239 Seit­en. ISBN 978–3‑95757–386‑5.

Ein faszinieren­der Text. Ich kön­nte aber nur schw­er genau sagen, was das eigentlich ist — und worauf der Text hin­aus will. Auf der Suche nach so etwas wie ein­er geisti­gen Sig­natur der BRD liest Pop­pen­berg Autoren und ihre Rück­blicke auf die let­zten Jahrzehnte. So kom­men Philipp Felsch, Frank Witzel, Ulrich Raulff und Friedrich Kit­tler gemein­sam in den Blick, wer­den genau (!) gele­sen und mit dur­chaus sujek­tive gefärbten Darstel­lun­gen und Erin­nerun­gen kom­biniert. Das klingt jet­zt viel selt­samer als es im Text ist. Der ist näm­lich dur­chaus faszinierend und gelehrt — eine über­aus anre­gende Mis­chung und auch eine anre­gende Lek­türe.

Valentin Sen­ger: Kaiser­hof­s­traße 12. 4. Auflage der Neuaus­gabe. Frank­furt am Main: Schöf­fling 2012. 316 Seit­en. ISBN 978–3‑89561–485‑9.

senger, kaiserhofstraße 12 (cover)Roman oder auto­bi­ographis­che Erzäh­lung — eigentlich ist das ja egal. Was es auf jeden Fall ist: Eine — angesichts des Sujets — erstaunlich leichte und leicht­füßige Erzäh­lung der jüdis­chen Fam­i­lie Sen­ger vor und während des Nation­al­sozial­is­mus. Das einzi­gar­tige daran ist, das merkt der Erzäh­ler auch selb­st, wie wun­der­voll das gelingt: Ein Wun­der ist das Über­leben, ein Wun­der ohne Staunen. Natür­lich gibt es, ganz klas­sisch, Schwierigkeit­en zu über­winden. Aber um Ende siegt doch die Leichtigkeit, das Leben, die fast unver­schämte Unver­nun­ft und Unbe­sorgth­eit des Erzäh­lers und sein­er Fam­i­lie. Das ganze ist sehr direkt, unmit­tel­bar erzählt — ein Text, dem man sich kaum entziehen kann (und es ja eigentlich auch nicht möchte). Die meis­ten­teils knap­pen Kapi­tel, fast Erin­nerungs­bruch­stücke (vor allem im ersten Teil, der frühen Kind­heit des Erzäh­lers) machen dne Text auch gut zugänglich und kon­sum­ier­bar — sicher­lich auch ein Fak­tor, der zum Erfolg des Buch­es, das seit 1978 in mehreren Aufla­gen und Aus­gaben (und Ver­la­gen) erschienen ist.

Nor­bert Frei/Christian Morina/Franka Maubach/Maik Tändler: Zur recht­en Zeit. Wider die Rück­kehr des Nation­al­is­mus. Berlin: Ull­stein 2019. 224 Seit­en. ISBN 978–3‑550–20015‑1.

frei et al., zur rechten zeit (cover)Der Titel kündigt eigentlich eher eine Stre­itschrift an: “Wider die Rück­kehr des Nation­al­is­mus”. Das kann der Band aber kaum ein­lösen. Was er aber kann, und das dur­chaus recht gut und überzeu­gend: Hin­ter­gründe für Entwick­lun­gen geben. Die Autor*innen bieten näm­lich eine Rückschau auf die deutsche Geschichte seit 1945, in West und Ost, mit dem Fokus auf die diversen recht­en, nation­al­is­tis­chen Strö­mungen, Diskus­sio­nen und Parteien, von der Ent­naz­i­fizierung bis in die unge­fähre Gegen­wart. Das ist als Einord­nung und Argu­men­ta­tion­shil­fe gut gemacht und gut zu nutzen. Die gesamt­deutsche Per­spek­tive ist dabei dur­chaus hil­fre­ich — unsich­er bin ich allerd­ings, ob Büch­er wie diese ihr Ziel wirk­lich erre­ichen kön­nen …

Sommerlektüre

Som­mer­lek­türe, via Insta­gram

Die Liebe des Lesens und der Bücher

Über die Liebe des Lesens und der Büch­er hat Charles Dantzig ein nettes, unter­halt­sames Buch geschrieben. Eigentlich ist es gar kein Buch, son­dern die Samm­lung von kleinen Tex­ten, die der franzö­sis­che Schrift­steller schon woan­ders pub­liziert hat­te. Unter dem Titel Wozu Lesen? hat der Stei­dl-Ver­lag das als ein schönes Buch her­aus­ge­bracht.

Wozu Lesen? ist in aller erster Lin­ie ein absolutes, unbe­d­ingtes Glaubens­beken­nt­nis zum Lesen, ein Lobpreis, eine Seligsprechung: Gott ist nicht nur lesend, “Gott ist auf der Bib­lio­thek­sleit­er” (28) — der Gott der Lek­türe näm­lich. Die Lek­türe ist es, die den lesenden Men­schen verän­dert, begeis­tert und fasziniert: Immer wieder denkt Dantzig (sich und alle ern­sthaften) den Leser als ein empathisch-denk­enden Leser, einen empfänglichen Leser: Empfänglich in dem Sinne, das er offen für die Schön­heit eines Textes, eines einzel­nen Satzes oder eines bloßen Wortes ist …

Deshalb ist es auch nicht ver­wun­der­lich, dass er zu dem Schluss kommt:

Wir lesen aus purem Ego­is­mus, bewirken damit jedoch unge­wollt etwas Altru­is­tis­ches. Denn durch unsere Lek­türe hauchen wir einem schlafend­en Gedanken neues Leben ein. (32)

Das Vergnü­gen am Lesen selb­st, am Vor­gang des Entz­if­fern, Aufnehmen, Absorbieren, Ver­wan­deln, zu-eigen-machen — also am mitleben­den Lesen bes­timmt seine Kaskade möglich­er Antworten auf die zen­trale Frage des Ban­des, näm­lich: Wozu ist das Lesen gut? Und was macht es mit uns? Zum Beispiel das hier:

Man liest ein Buch nicht um der Geschichte willen, man liest ein Buch, um mit seinem Autor ein Tänzchen zu wagen. (41)

Dantzig sam­melt hier lauter kleine und kle­in­ste Miniatur-Essays, die meist von eige­nen Lek­türe-Erleb­nis­sen Dantzigs (die er unge­heuer präsent zu haben scheint) aus­ge­hen und oft nur ein etwas aus­ge­führter Gedanke oder Ein­fall sind, ver­packt in ein­er grif­fi­gen Sen­tenz oder For­mulierung. Zum Beispiel klingt das so:

Die Leute beste­hen auf ihre Gedanken­losigkeit. Dabei sind wir nur,[sic] während wir lesen, vor der Päd­a­gogik sich­er. (43)1

Immer wieder man­i­festiert sich in diesen Notat­en (die mich in manchem an Hen­ning Rit­ters Notizhefte erin­nerten) die Ideee, gegen sich selb­st zu lesen, sich selb­st beim Lesen, durch das Lesen, mit dem Lesen in Frage zu stellen — also Neues zu pro­bieren, Argu­mente auszutesten, Bücher/Autoren wieder­holt zu lesen, um eine Abnei­gung zu über­winden … Im Grund ist das also das klas­sis­che Lek­türe-Argu­ment schlechthin: Lesen ermöglicht es, Alter­na­tiv­en zum Leben und der Welt zu erfahren und ken­nen zu ler­nen, sich selb­st auszupro­bieren in der Phan­tasie : “Stellen Sie sich selb­st in Frage. Stellen Sie das in Frage, was SIe in diesem Moment lesen.” (66), — ja, genau, das gilt natür­lich auch für diese Sen­ten­zen, die Dantzigschen Schluss-Moral­itäten sein­er Kurz­texte selb­st:

Die einzige Fage, die man sich im Hin­blick auf einen Chef stellen sollte, lautet: Würde er die Bib­lio­thek von Alexan­dria anzün­den? […] Man möge lieber meine Büch­er ver­bren­nen als Men­schen. (50)

Egal, welche der vie­len Modi des Lesens Dantzigs reflek­tiert und preisend betra­chtet — leicht­es und schw­eres Lesen, spielerisches und ern­stes, unter­hal­tendes und forschen­des: Immer ist das Lesen und Sein Leser begeis­terungs- und liebesfähig. Selb­st in der Ablehnung schlechter Büch­er (es ist wohl kein Zufall, dass ein Leser (und Schrift­steller) wie Dantzig, dem es so sehr (fast auss­chließlich) auf die empathis­che Lek­türe ankommt, von Büch­ern und nicht von Tex­ten spricht).

Wozu Lesen? selb­st ist übri­gens ein schönes Buch, bei dem Innen und Außen in gewiss­er Weise zur Deck­ung kom­men — da merkt man die Hand des Ver­legers … Und es ist ein Buch, wie es vielle­icht wirk­lich nur ein Fran­zose schreiben kann (um dieses nation­atlis­tis­che Klis­chee auch ein­mal zu bedi­enen=: leicht und ele­gant, mit Tief­gang, aber unaufgeregt, nie über­he­blich, dafür immer lustvoll — voller Lust an den Lek­türen, die zu diesen Tex­ten führten und voller Lust am Schreiben — und damit sprühend vor Lust am Ver­führen zum Lesen. Denn das ist ja das große, hehre und einzige Ziel dieses Buch­es: Nicht nur über das Lesen, seine viel­er­lei Vor- und Nachteile, zu sin­nieren, son­dern vor allem zum lustvollen, erfüll­ten Lesen anre­gen: “Leben ist Prosa, keine Poe­sie.” (63) — Vielle­icht, vielle­icht aber auch nicht — wenn man nur genug liest …

Charles Dantzig: Wozu Lesen? Göt­tin­gen: Stei­dl 2011. 205 Seit­en. 16 Euro. ISBN 9783869303666.

Show 1 foot­note

  1. Die Kom­maset­zung ist hier ein echt­es Ver­brechen am Text, das ich aber der Über­set­zerin und nicht dem Autor anlaste …

Real-Satire?

Heute im Zug habe ich mit großem Vergnü­gen Nor­bert Hoppes “Ich war Gut­ten­bergs Ghost” gele­sen. Die Mitreisenden haben immer mal wieder selt­sam geschaut, wenn ich aus heit­erem Him­mel laut aufgelacht habe. Aber manche Stellen sind ein­fach zu witzig …

Dann sagte der alte Mann [d.i. Karasek] wieder: “Krull” — und ging weg, den Hauss­mann holen, den Regis­seur, “Son­nenallee”, Sie wis­sen Bescheid? Und der fand auch sofort: Felix Krull! The­ater­rolle in Bochum … Ein Mann in Bomber­jacke, den sie Eichinger nan­nten, sagte “Quatsch” Lieber Film draus machen”, und hat­te schon den Bierdeck­el für den Ver­trag vor­bere­it­et … Boris Beck­er fragte, ob er mal vor­bei­dürfe zur Toi­lette, und hat­te noch nicht ein­mal eine dunkel­häutige Frau dabei, jeden­falls auf dem Hin­weg. Und am Ende schaute sog­ar Thomas Gottschalk noch kurz here­in (64)

Natür­lich ist das von vorne bis hin­ten erlogen, selb­st der Autor­name ist ein Pseu­do­nym. Aber es ist ein­fach richtig gut gemacht, wie Hoppe hier als ange­blich­er Schul­fre­und und Adju­tant von “KT” dessen Charak­ter, seine Entwick­lung, den Auf­stieg und den plöt­zlichen Sturz schreibt — mit ihm als wesentlichen Drahtzieher, ja sog­ar als Schöpfer des “Poli­tik­ers” Gut­ten­berg. Und als Ghost­writer der “Gut­ten­bergschen” Dis­ser­ta­tion — als Betrüger, der von Gut­ten­berg bet­ro­gen wurde, weil dieser ihn über die Herkun­ft der Textfrag­mente auf den ange­blichen 60 Disket­ten täuschte, so dass der Ghost­writer gar nichts dafür kon­nte, dass er zum Pla­gia­tor wurde. Tragisch, so etwas …

Ich glaube heute, dieses Tech­no-Zeug war für ihn auch irgend­wie Wag­n­er, nur mit anderen Mit­teln, aber wenn man genau hin­hört, ist es doch über­raschend ähn­lich im tiefen Gedröhne. im hys­ter­ischen Gefiepe und in der gesamten Ufer­losigkeit, ja, ich glaube, er meinte Wag­n­er, wenn er Tech­no hörte, das Totale, das Allum­fassende, das Gesamtkunst­werkhafte hat­te es ihm eben ange­tan […]. (102f.)

Das ganze ist wun­der­bar mit vie­len kleinen, tre­f­fend­en Seit­en­hieben auf die Poli­tik der Bun­desre­pub­lik und ihre Akteure, auf die deutsche Gesellschaft und die Medi­en, das Kul­turleben (nicht nur Helene Hege­mann, auch Ingo Schulze kommt vor …) gespickt. Und es stilis­tisch gekon­nt durchge­hend als simulierte Beichte bzw. “Jet­zt sage ich euch mal die Wahrheit”-Rede geschrieben — so gut, dass man ein­fach eine Menge Spaß damit hat. Und an nicht weni­gen Stellen wirkt die Satire dann doch wieder so real­is­tisch, dass man fast Angst bekommt — Angst um ein Land und eine Gesellschaft, in der so eine “Kar­riere” und so viele Fehlzuschrei­bun­gen samt den Heilser­wartun­gen möglich sind.

Aber bei ARD und ZDF hieß es: Unsere Zuschauer mögen keine Kinder, die sind immer so laut und so frech und schießen mit dem Fußball Fen­ster­scheiben kaputt, wenn man Mit­tagss­chlaf hal­ten will. Sat.1 wollte nur mit­machen, wenn ein Pro­fil­er aus den Leichen der Opfer auf den Täter schließt. Und das richtige RTL bestand darauf, dass erst einbmal die Super­nan­ny mit allen Beteiligten redet. Aber ich hat­te Stephanie ver­sprochen, ihr Konzept unver­fälscht und ohne Wenn und Aber durchzubox­en. Da blieben am Ende nur der Home­shop­pingkanal und RTL2. Na ja, und dann doch wohl lieber RTL2, nicht wahr? (142f.)

Das Konzept für die unsägliche Sendung der Frau Gut­ten­berg hat­te natür­lich auch Hoppe en pas­ant mal entwick­elt. Am Ende übri­gens, auch eine schöne Pointe, find­et Hoppe doch wieder einen neuen Arbeit­splatz:

Ich habe inzwis­chen wieder einen Job, wieder als Reden­schreiber und als Stich­wort­ge­ber, auch lei­der wieder in Berlin, aber dafür dies­mal wenig­stens hüb­sch im Grü­nen.
Das Schloss Belle­vue ist Ihnen ein Begriff?
Die Wulffs — irre nette Leute, sag ich Ihnen. (Und die Haare von ihr! Die Haare!! Aber das ist ein anderes The­ma.)

Nor­bert Hoppe: Ich war Gut­ten­bergs Ghost. Eine Satire. Köln: Kiepen­heuer & Witsch. 156 Seit­en. ISBN 978–3‑452–04435‑5.

Westrand: Dieter M. Gräfs vagabundierende Lyrik

tja, das ist das ergeb­nis des man­is­chen bücherkaufens aus den rest­posten — so etwas rutscht auch immer wieder hinein. denn mit diesen gedicht­en kann ich nicht viel anfan­gen. das hat mehrere gründe — vielle­icht war ich ja auch nur nicht in der richti­gen stim­mung. aber ein­wände habe ich fol­gende:

  • die ständi­gen enjambe­ments: ich ver­ste­he diese über­frach­tung der gedichte damit ein­fach nicht, das ist längst vom stilmit­tel und aus­drucks­form zum manieris­mus verkom­men
  • die forcierte her­metik der bilder: das ist nicht nur vol­lkom­men bemüht, son­dern auch so ziel­los, ergeb­nis­los — es ergeben sich meist nicht ein­mal inter­es­sante fügun­gen aus der krampfhaften anstren­gung, möglichst ver­quere meta­phern zu bilden…
  • klar, die “ein­fache” lek­türe wird durch die dun­klen, verblassten, ver­schat­teten bilder absichtlich erschw­ert, ver­hin­dert und ver­langsamt bzw. auch nur unter­brochen, abge­brochen — jeden­falls irgend­wie ver­baut
  • das ner­vende daran ist aber vor allem, dass sich aus den fast nur in zweizeil­ern (zudem fast immer super kurzen zeilen) daherk­om­menden gedicht­en eigentlich nie ein fluss ein­stellt, schon gar nicht so etwas wie ein flow
  • und die ewigen anspielun­gen (die er zudem noch meint im appen­dix erk­lären zu müssen, weil sie solo eben doch nicht immer funk­tion­ieren) auf helden(-sagen) fan­gen auch nach weni­gen seit­en an zu ner­ven
  • kurzge­sagt: bil­dung­shu­berei, pseu­do-anspruchsvoll, ohne (erkennbaren) sinn und zweck und zusam­men­hang — das fängt schon mit dem mot­to (von gior­dano bruno, beze­ich­nen­der­weise zitiert nach rolf dieter brinkmanns rom, blicke) an und hört eigentlich erst mit dem appen­dix (auch der kann natür­lich nicht ein­fach anmerkun­gen oder anhang heißen) auf.

also: ein­fach ziel­los umher­schweifende, sich möglichst klug gebende, die bemühung dazu aber nie ver­hehlende lyrik — ziem­lich lang­weilig und spröde…

dieter m. gräf: wes­trand. gedichte. frankfurt/main: suhrkamp 2002.

kugelblitze sausen quer durch die lüfte und mittenhinein in mein literarisches nervenzentrum

noch eine frucht des woch­enen­des: endlich habe ich ulrike draes­ners let­zten gedicht­band mit dem titel kugel­blitz (münchen: luchter­hand 2005) gele­sen – er lag ja schon eine weile bere­it und hat auch schon zwei anläufe hin­ter sich gehabt, die allerd­ings bei­de ins leere liefen. auch dieses mal reichte die begeis­terung nicht für den ganzen band, der in drei große abschnitte (mit vor­spiel und nach­spiel) unterteilt ist: „(lieben)“, „(kriege)“ und „(später)“. fasziniert hat mich vor allem der erste teil, im zweit­en abschnitt fand ich viel mehr rou­tine und langeweile für den leser, der dritte teil zeigt aber dann wieder stark nach oben.

das ist wirk­lich zeit­genös­sis­che, mod­erne (oder schon zweite mod­erne?) lyrik. wesentlich­es, immer wieder auf­tauchen­des moment ist die erfahrung der natur beziehungsweise die prob­leme mit der erfahrbarkeit von natur, mit dem kon­takt zwis­chen men­sch und natur, v.a. die unfähigkeit des ver­ste­hens ihrer zeichen und die unerk­lär­lichkeit ihrer vorgänge: „nie / sagte jemand / ein begre­fil­ich­es / wort dazu“ (9). eben­so wiederkehrend: die gemachtheit der natur­erfahrung. dazu passen die dun­klen ver­gle­iche natur – technik/zivilisation, wie sie in der „enten­brust“ der straßen­bahn auf­taucht. und fol­gerichtig heißt ein gedicht dann auch „novo e raro mira­col di natu­ra“.

natur ist dabei (natür­lich [!]) nie ein­fach nur noch natur, son­dern erst in abgren­zung vom men­schen zur natur gewor­den. dabei wird sie aber ger­ade in ihrer zwit­ter­stel­lung inter­es­sant: natur scheint hier als das andere auf, das große gegenüber – aber (zumin­d­est schein­bar) befind­et es sich auch als solch­es wenig­stens teil­weise in der ver­fü­gungs­ge­walt des men­schen – die elek­triz­ität ist, beim titel des buch­es nicht ver­wun­der­lich, ein gern genutztes bild dafür: „hüh­n­er säu­bern ihr ei während du dir bere­its / einen ihrer schenkel in den mund“ (16, novo e raro micaol di natu­ra)

das vor­drin­gen der (noch unge­bändigten) natur in den zivil­i­sa­tion­sraum, das hoheits­ge­bi­et des men­schen als ver­nun­ft­be­gabtem tier – dafür ste­ht natür­lich schon das titel­gebende bild des kugel­blitzes: als blitz ist er zwar ein ele­mentares und vol­lkom­men unmit­tel­bares natur­ereig­nis. aber er ist es nicht in nor­maler erschei­n­ung, son­dern qua­si geformt, in behaupteter (näm­lich vom men­schen) kugel-form, also ein­er geometrisch „per­fek­ten“ form, d.h. der blitz wird zu ein­er rein nach ver­nun­ft­grün­den geformten erschei­n­ung (gedeutet). nicht nur natur wird zur zivil­i­sa­tion, son­dern auch und vor allem geschieht der trans­for­ma­tionsvor­gang in ent­ge­genge­set­zter rich­tung, vom men­schen in die natur. aber das führt zu rei­bun­gen, zu zusam­men­stößen: die natur bleibt eben auch dann noch, wenn men­schen sie nach eige­nen „ideen“ for­men wollen, „ver­schlossen“, dunkel und unver­ständlich: “ er dachte auf ihn. / so ver­ste­hen wir ‚natur‘. ist toll­wut / wenn ein­er sich wehrt? ach, es bud­delt / nach zufall, pfeift auf gedächt­nis, mis­cht.“ (77)

dazu wird dann vor draes­ner als kun­stvoll erdachter und aus­ge­führter kon­tra­punkt das dial­o­gis­che moment der gedichte (in der ersten und der drit­ten per­son, im indika­tiv und kon­junk­tiv), die anrede des „du“ einge­führt: der ver­such, die liebe zu beschreiben, zu kon­sta­tieren, zu behaupten und selb­stver­ständlich auch wieder zu for­men – samt den notwendig damti ein­herge­hen­den zweifeln. der erste große teil des buch­es heißt nicht umson­st „(liebe)“. und später heißt es ein­mal: „falls dies stimmt // wird auch das paar eine ver­mu­tung sein“ (22). die liebe, also die verbindung von ich und du zum wir, ste­ht dabei genau wie schon das sub­jekt für sich, immer in frage, ist nicht mehr ohne weit­eres als gelin­gende vorauszuset­zen: „das röhrchen der liebe (ver­loren)“ (28), „sicher­er auch // du?“ (30)

das ganze geschieht eigentlich immer in sehr geziel­tem auf­bau und mehrdeutigkeit­en: über­lap­pende sätze ohne gliederungsze­ichen, per­fek­tion des enjambe­ments, sein­er mehrdeutigkeit im syn­tak­tis­chen sinn sind mit­tel, die draes­ner per­fek­tion­iert hat. dazu passt auch der hohe grad an reflekiertheit – nie etwas unbe­dacht­es, kein wort, über das nicht nachgedacht wurde – genau das, was lyrik eben aus­machen (sollte). das wiederum entspricht der unmöglichkeit der unmit­tel­baren erfahrung, von der eigentlich auch jedes gedicht berichtet – das wahre träu­men: „sie dachte wie solch ein tier wohl schläft mit dem blu­men­topfrück­en / und sah mit braunem zuck­er bestreut all das vertäumte trara / (ange­blich des traums) aber sofort war er wach (die ohren) sofort // fiel er wieder um wie ein kind – wie es weint – alle / gefüh­le also seien erlernt“ (19). schuld an dieser grundle­gen­den ent­frem­dung des men­schen von sein­er umge­bung und sein­er selb­st ist z.b. die „nähe von maschi­nen“ (19, so heißt das gedicht)

wie es sich für echt mod­erne lyrik gehört (und das vergessen ja viele autoren und andere lei­der immer wieder) wird außer­dem auch die generelle prob­lematik des sub­jek­tes, sein­er iden­tität und die der ander­er men­schen (als adres­sat­en – der sprache, der lyrik, der liebe) the­ma­tisiert. „dies löchrige tuch ich spreche // dich // durch es. wenn ich sage ‚du‘. wenn / cih sage ‚ich wollte …‘ ‚ich …‘ ein / kinder­gesicht. oh ges­per­rt! löchriger // busch: so sprech ich dich wenn. / ich sage: du, eben, lüstern“ an ander­er stelle heißt es dann: „du bist. doch wo? / […] du bist nicht / wo nicht wen, du / gehst, der wald ste­ht still. / […] / […] ein / schat­ten ruft. was altes / weiß von dir. die kehle / streckt sich schon. der / wolf liebt seinen satz. / das rudel ruft.“ (81, vor gram­matik). und damit wird auch der näch­ste große the­menkom­plex dieser lyrik deut­lich: außer­dem in frage gestellt wer­den die worte in all­ge­meinen. genauer gesagt, wird auch hier nur die grundle­gende erfahrung der mod­erne, das alles in frage ste­ht, nur noch bekräftigt, aufgenom­men und ver­ar­beit­et. beson­ders gilt dies natür­lich für die verbindung wort – ding: „das eich­hörnchen drehte / die nuss eifrig wie wir das wort ‚nuss‘ / im gehirn“ (23). auch ein titel greift das auf: „tauch­er, rade­brech / (vom vier­fachen sinn der schrift)“ (82). die verge­gen­wär­ti­gung der schiller­schen bal­lade geht dann unge­fähr so: „anzüge mit füßen hin­gen / am gelän­der, im trock­n­er / hin­gen köpfe // je weit­er ein boot ent­fer­nt ist / umso tiefer nach unten muss man / um es zu hören // mit dem andrang der schwärze / gegen die maske vorm gesicht. // ertrinken.verstehen“ (82) – das ist natür­lich die tragik über­haupt: erst ertrinken, dann ver­ste­hen … die bei­den let­zten gedichte führen das noch ein­mal alles zusam­men. da heißt es dann „sehn­sucht rief mich / hast du ner­ven / gern komme ich gern / bin dein­er stimme ich / gefol­gt / immer so blu­men / blitzend, ver­wirrt (84), während die let­zten zeilen, das post­skrip­tum (außer­halb der drei großen teile) die schrift­form schon nahezu voll­ständig ver­loren ist und nur noch sprache ist – in lautschrift notiert, auf englisch – wenn ich das richtig entz­if­fert habe, ste­ht da: „you too / loved you / was invent­ed“

der zweite teil, „(kriege)“, blieb mir zumin­d­est bei der ersten lek­türe jet­zt ver­schlossen­er, nüchtern­er und oft auch deut­lich gewoll­ter. die poli­tis­che absicht etwa lässt sich zu leicht spüren und fassen – das tut der (kunst-)erfahrung der lyrik nicht gut. dabei ver­lieren die gedichte gle­icher­maßen an deut­lichkeit wie an der so faszinierend, weil stu­pend beherrscht­en mehrdeutigkeit.
„mit eige­nen augen sehen: getrimmt / zoomen begriffe weg. bis wir tröpfel­nd / vor sehn­sucht und glauben daliegen wie / der kopf ein­er geliebten katze unter / ein­er hand, die uns stre­ichelt oder stre­icht,“ (62f)

das ist alles zusam­men natür­lich ein fast wahnsin­niges pro­gramm. wer glaubt, ob all dieser fra­gen, dieser the­o­retisch-reflek­tieren­den gedankengän­gen gin­ge der kun­stcharak­ter der gedichte ver­loren, der itt. denn es ist kein wahn, keine hybris. denn die gedichte bleiben trotz der gefahr der the­o­retis­chen über­las­tung meist, d.h. in ihren über­wiegen­den teilen, immer auch sinnliche gebilde. eine unmit­tel­bare qual­ität der fügung ihrer worte (weniger der rhyth­men, mehr aus dem klang und den ver­mis­cht­en, kreuz und quer geschichteten bildlichkeit­en gear­beit­et) fes­selt das lesende auge und hirn, die vorstel­lungskraft. und sie zeu­gen von der faszinieren­den konzen­tra­tion, die diese gedichte bes­timmt. mehr lässt sich von lyrik eigentlich kaum noch ver­lan­gen. manch­es ist dabei dur­chaus gren­zw­er­tig – qual­itätsmäßig gese­hen: wenn genau diese konzen­tra­tion sich ver­liert, wirkt das ganze sehr schnell nur noch manieris­tisch. aber es bleibt festzuhal­ten: das sind 85 seit­en pure poe­sie unser­er zeit mit der ver­heißung, diese auch zu über­dauern. w

abtrünnig: eine trümmerlandschaft aus text

eine inten­sive und denkaufwändi­ge lek­türe: rein­hard jir­gl: abtrün­nig. roman aus der nervösen zeit. münchen: hanser 2005. ich bin jet­zt nach ein­er lan­gen – mehrere wochen – lesereise bis ans ende vorge­drun­gen. und ich kann jedem nur empfehlen, sich dieser erfahrung, die manch­mal zwar den charak­ter eines exerz­i­tiums annehmen kann, zu unterziehen. den jir­gl, schon lange ein­er mein­er favoriten unter den noch leben­den und schreiben­den autoren, hat hier ein beein­druck­endes kunst­werk geschaf­fen. und als solch­es muss man es auch ganz bewusst und offen­siv rezip­ieren: als kun­st – nicht als unter­hal­tung, denn als bet­tlek­türe taugt dieser roman sicher­lich über­haupt nicht.

da ist zunächst ein­mal seine per­son­ale son­derorthogra­phie, die hier – wie etwa auch in der genealo­gie des tötens – sehr eigen­willig erscheint. v.a. scheint sie ihre sys­tem­a­tisierung ein wenig ver­loren zu haben. kri­tiken the­ma­tisieren diese sehr augeschein­liche beson­der­heit der späteren jir­glschen texte beson­ders gern. in der tat muss man aber sagen, dass sie ent­ge­gen etwaiger befürch­tun­gen kein lese­hin­der­nis darstellt – sie wird sehr schnell sehr ver­traut. was sie allerd­ings ger­ade in abtrün­nig nicht wird, ist vol­lkom­men ver­ständlich: vieles bleibt zumin­d­est bei der ersten lek­türe (vielle­icht hülfe da eine sys­tem­a­tis­che durch­dringung?) auf dem niveau der spiel­erei, weil sich ein­er­seits keine bedeu­tungszuwachs oder ‑dif­feren­zierung erken­nen lässt, ander­er­seits auch wed­er eine absicht noch eine wenig­stens ver­mut­bare regel­haftigkeit. in manchen pas­sagen wirkt diese extreme ver­mehrung der sig­nifikanzen oder zumin­d­est außeror­dentliche verdeut­lichung der vieldeutigkeit des geschriebe­nen wortes, ins­beson­dere natür­lich durch die (ortho-)graphische eigen­willigkeit, wie eine kün­stlich forcierte annäherung an die mündlichkeit, das orale erzählen. ander­er­seits ist sie in ihrer vielgestaltigkeit, die ja weit über die vere­in­heitlichende, normierte (und damit ein­schränk­ende) regelorthogra­phie hin­aus­ge­ht, auch offen­bar der ver­such der dis­am­bigu­ierung – der allerd­ings wieder dazu führt, das das schrift­bild extrem her­metisch, abschreck­end & unüber­sichtlich wirkt & auch tat­säch­lich wird: entz­if­fer­bar ist das kaum noch, weil das sys­tem nicht so ein­fach zu durch­schauen ist (ist es über­haupt ein sys­tem?). und das führt schließlich auch dazu, dass man ihm leicht den vor­wurf der spiel­erei machen kann. tat­säch­lich scheint manch­es auch nur das zu sein, lässt sich manche wort-ver­for­mung auch kaum anders auf­fassen. in sein­er gesamtheit ist das, wenn man außer­dem noch die for­malen irreg­u­lar­ien und stolper­steine – etwa die querver­linkun­gen und textbausteine – bedenkt, ein kom­plett ver­minter text und damit (auch) ein angriff auf den leser: die irreg­ulären satze­ichen als kleine sprengkör­p­er, als angriffe auf das schnelle, ein­fache & gewöhn­liche ver­ste­hen.

in abtrün­nig ist die geschichte, die fabel, weit­ge­hend zur neben­sache gewor­den – noch nie war das bei jir­gl (soweit ich sehe) so sehr der fall wie hier. im kern geht es um zwei män­ner, zwei liebende, die auf ver­schlun­genen wegen nach berlin kom­men und dort auf tragisch-groteske weise am und im leben scheit­ern. das ist aber auch schon wieder nur halb richtig, weil der zweite liebende, ein aus der ddr-nva in den bgs über­nommen­er gren­zschützer, der ein­er flüch­t­en­den osteu­ropäerin zum ille­galen gren­züber­gang nach deutsch­land ver­hil­ft, auf der suche nach ihr nach berlin kommt, dort als tax­i­fahrer arbeit­et, sie wiederfind­et und just in dem moment, als sie zurück in ihre heimat gekehrt ist, um für die geplante heirat die notwendi­gen papiere zu organ­is­eren, von ihrem offen­bar psy­chisch gestörten brud­er erstochen wird, weil also dieser zweite liebende, dessen geschichte natür­lich durch begeg­nung mit der des anderen mannes verknüpft ist, gar keine beson­ders große rolle spielt.

wesentlich­er als das ist aber das moment, der abtrün­nig als „roman aus der nervösen zeit“ charak­ter­isiert. das ist das autis­tis­che monolo­gisieren, das durch­brochen wird von essa­yarti­gen pas­sagen und genial erzählten teilen. natür­lich spiegelt das wiederum nur das große, zen­trale prob­lem der haupt­fig­ur und der mod­er­nen gesellschaft über­haupt: die suche nach dem ich, der iden­tität, dem holis­tis­chen sub­jekt, dem eige­nen lebens- und sin­nen­twurf – ein suche, die grandios scheit­ern muss und nur frag­mente, zer­störung und beschädigte personen/figuren/menschen hin­ter­lässt. der ein­druck eines großen bruch­w­erkes bleibt dabei nicht aus: frag­men­tierte per­sön­lichkeit­en, sich auflösende soziale bindun­gen und gewis­senheit­en, kurz eine recht radikal aus­gerichtete gesellschaft­skri­tik sucht ihre form – und ver­liert sich dabei manch­es mal in essay-ein­schüben: abtrün­nig ist in erster lin­ie ein/das buch vom scheit­ern, seine bibel sozusagen: „es gibt kein richtiges leben im falschen“ – oder: das gelin­gen ist ganz und gar unmöglich gewor­den – & das muss man auch genau so kat­e­go­r­i­al for­mulieren, denn es gilt nicht nur für die fig­uren des textes, son­dern auch für ihn selb­st. deshalb ist er so, wie er ist; ist er in ein­er nach herkömm­lichen maßstäben defiz­itären ver­fas­sung – er kann natür­lich auch nicht mehr anders sein, das lässt die mod­erne welt, die „nervöse zeit“ nicht mehr zu. und genau wie diese ist er eine ziem­lich gewaltige zu-mutung für den leser. denn er will ja nichts anderes, als diese schöne neue welt erk­lären oder min­destens aufzeigen – deshalb natür­lich auch die (zeitweise dur­chaus über­hand nehmenden) essay-pas­sagen, die den kun­stcharak­ter des gesamten textes bee­in­flussen – & das dur­chaus mit gren­zw­er­ti­gen ergeb­nis­sen. denn im ganzen ist das wohl so etwas wie ein anar­chis­tis­ches kunst­werk – hoff­nungs­los unüber­sichtlich, kreuz und quer ver­linkt durch die selt­samen „link“-kästen, die ver­weise vor und zurück im text, die eingestreuten zitate und auch wieder­hol­un­gen, neuan­läufe der beschrei­bung ein­er sit­u­a­tion aus ver­schiede­nen blick­winkeln. das alles hat zum ergeb­nis, das der roman, der vom tod der gesellschaft, vom tod des sozialen lebens, spricht, auch den tod des romans beschreibt, exem­pli­fiziert – und auch reflex­iert. denn auch wenn es gar nicht oder höchst sel­ten expliz­it geschieht – vieles im text (etwa schon die dat­en der nieder­schrift (oder die behaupteten dat­en – schließlich befind­en wir uns mit ihnen immer noch im fik­tionalen text)) deutet auf eine reflex­ion der möglichkeit­en des schreibens in ein­er nervösen, defiz­itären, verkomme­nen und immer weit­er verk­om­menden gesellschaft hin. und wenn ein text wie abtrün­nig das ergeb­nis dieser prozesse ist, kann man nun sagen, dass das schreiben unmöglich oder gar obso­let wird? das scheint mir zweifel­haft – denn trotz sein­er unzweifel­haft zu kon­sta­tieren­den schwächen ist abtrün­nig als gesamtes doch ein beein­druck­endes kunst­werk bemerkenswert­er güte. inter­es­sant wird allerd­ings die fort­set­zung – mir scheint es ger­ade mit diesem buch so, als schriebe sich der sowieso schon am rande des ästhetis­chen und ins­beson­dere des lit­er­arischen diskurs­es ste­hende jir­gl immer mehr ins abseits: ob er diese bewe­gung noch frucht­bar weit­er­führen kann?

eine wunderbar sprechende “gegensprechstadt”

ja genau, so heißt näm­lich der neueste lyrik­band von ger­hard falkn­er. genauer gesagt: gegen­sprech­stadt — ground zero. und im grunde ist es auch gar kein lyrik­band, son­dern nur ein gedicht, ein langes eben — so ca. 70 seit­en. und es kommt nicht nur in der kook­books-typ­is­chen ausstat­tung daher, son­dern auch noch mit cd. dadrauf hat falkn­er große teile (lei­der nicht alles) seines gedicht­es gele­sen, und david moss macht ein wenig musik dazu. allerd­ings sehr wenig — das ist ziem­lich ent­täuschend: ein mitschnitt ein­er live-lesung, zu der moss nicht beson­ders viel einge­fall­en ist — ein eher ungewöhn­lich­er zus­tand für diesen kün­stler.

egal, eigentlich geht es ja vor allem um das gedicht. nach­dem mich falkn­ers alte meis­ter nicht so sehr begeis­tern kon­nte, schafft gegen­sprech­stadt das vom ersten bis zum let­zten vers. das ist nicht nur das beste (und in dem umfang auch erste) berlin-gedicht, das ich kenne. das ist auch eine sehr zeit­gemäße form des dicht­ens: mit geschichte gesät­tigt, ohne deshalb so bedeu­tung­shu­berisch-bil­dungss­chw­er daherzukom­men wie die let­zten durs-grün­bein-bände. falkn­er treibt das spiel mit den allu­sio­nen, den zitat­en und den querver­weisen ziem­lich kun­stvoll — und ziem­lich weit. es ist öfters kurz davor, wirk­lich zu ner­ven, die ständi­gen halb-bedeu­ten­den pop­kul­turellen anspielun­gen. aber sie tun es dann meis­tens eben doch nicht. denn “motive bekan­nter gedichte” “sind humus. mon­tageteil. zitat. anlei­he. link. ref­erenz. ver­beu­gung.” (74) — ein klein­er hieb auf die “poplit­er­at­en” darf in einem solchen fall nicht fehlen: “eine zeit, in der man bei kün­stlern / wenn man sie auszieht / auf ck- oder joop!-unterwäsche stößt / (als let­zte schicht sozusagen / vor der eigentlichen inspi­ra­tion) / ist reif für eine revi­sion / sie sollte bei tsche­chow / wieder in die lehre gehen, / oder mit pyn­chon her­auszufind­en ver­suchen / wo die wirk­lichen ver­fol­ger steck­en / damit sie zurück­find­et / (um im bild der sprache zu bleiben) / zum ehrlichen baum­woll­ripp mit ein­griff / denn große poe­sie / auch wo sie glück­lich ver­wirrt / ist marken und mod­en abhold” (36)

das ganze chang­iert dann ziem­lich unregelmäßig (nach dem ersten lek­türeein­druck) zwis­chen his­torisch vorge­formten langgedicht und der vor­liebe für einze­limpres­sio­nen, aneinan­derg­erei­ht und sequen­ziert. die üergänge — und das macht gegen­sprech­stadt wahrschein­lich so geschmei­dig — bleiben aber immer fließend. denn falkn­er schafft es eben, dem alltäglichen nachzublick­en, das musikalis­che detail der stadt berlin über­all zu find­en und in worte zu fassen — aber auch, die großen momente, die rev­o­lu­tio­nen und katas­tro­phen, den 11. sep­tem­ber, den 3. okto­ber und den 15. märz (falkn­ers geburt­stag, iden des märz) mit einzubeziehen.

rhyth­misch erscheint das aufs erste, ohne genauere analyse, sehr leicht und unbeschw­ert: ein ungezwun­gener umgang mit vers­for­men macht das gedicht — und davon legt ger­ade falkn­ers lesung beson­ders deut­lich zeug­nis ab — sehr fließend. diese “poly­mere poe­sie”, wie der autor das nen­nt, kreist immer wieder um phänomene der zeit, ihrer sub­jek­tiv total zer­split­terten wahrnehmung, um das zählen. sprache scheint da als medi­um und bewe­gung gle­icher­maßen ret­tung zu bieten — als flucht­punkt und als ver­ar­beitungsmöglichkeit: “auch dieses gedicht ist ein gedicht ohne einen / helden ist natür­lich ein gedicht / ohne einen helden ist natür­lich / ein gedicht” (56). und ein gedicht ist das hier auf jeden fall — ein wirkl­cih beein­druck­endes — schon lange nicht mehr so begeis­tert lyrik ver­schlun­gen.

ger­hard falkn­er: gegen­sprech­stadt — ground zero. gedicht & cd mit music by david moss. idstein: kook­books 2005.

noch einmal bier-prosa. diesmal von franz dobler

nach “blut & bier”, den ja wirk­lich sehr unge­wasch­enen sto­ries von franz xaver kroetz, kommt gle­ich die näch­ste alko­hol-lek­türe: bier­herz. flüs­sige prosa von franz dobler (ham­burg: nau­tilus 1994). so richtig sauber ist das hier natür­lich auch nicht, das wäre von franz dobler auch wohl zu viel ver­langt. den anfang macht die wiederver­w­er­tung des vor­wortes zu einem the­ater­stück mit dem über­raschen­den namen “bier­herz”, in dem dobler v.a. erk­lärt, dass man mit seinem stück so ziem­lich alles machen kann, so lange nur der text von irgend jemand gesprochen wird. das ganze fix verquirlt mit ein paar tief­schür­fend­en und jed­er menge flach­schür­fend­en gedanken und ideen zum bier und seinem kon­sum und fer­tig sind die ersten dreißig seit­en des neuen büch­leins.… danach kommt lei­der nicht mehr viel: eine kleines “reise­tage­buch” durch louisiana und texas mit ein paar lau­ni­gen beschrei­bun­gen der musik‑, tanz‑, bar- und bierver­hält­nisse dorten ist da noch der höhep­unkt. der rest total ver­nach­läs­sig­bar: anek­doten, lau­nig erzählt, abso­lut unschein­bar und ohne beson­dere stilmerk­male, ästhetis­che eigen­heit­en oder son­stige her­aus­ra­gende eigen­schaften: flüs­sig eben, und schnell ver­ronnen.…

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