ein eher seltenes vergnügen in mainz, zwei so herausragende jazz-musiker zusammen in mainz zu erleben. zu verdanken war es dem upart-verein, der damit sein zwanzigjähriges bestehen feierte. und — auch wenn das jetzt ein klischee ist — es war ein geschenk sowohl für den verein als auch für das publikum. immerhin war die alte patrone ganz gut besucht, ich schätze so ca. 100 vorwiegend ältere, vorwiegend männliche zuhörer.
das erste set gestalteten peter brötzman und ken vandermark allein. also im duo. mit wechselnden instrumenten — klarinette, alt- & tenorsaxophon, natürlich war auch das tárogató von Peter Brötzmann mit von der Partie. Schon der Start war bezeichnend und vielversprechend: Ohne jegliche Präliminarien, ohne ein Wort zu verlieren, marschieren die beiden auf die Bühne, nehmen die Instrumente in Hand und Mund und legen so richtig los. aber wirklich so richtig. brötzmann legt natürlich wieder enorm vor, energisch und markant wie immer, nicht mehr so aggressiv wie vor einigen jahren, aber immer noch von ungeheurer präsenz. und immer noch mit seinem unnachahmlichen ton, dem markant-growlenden, weit vibrierenden, enorm lebendigen klang. die unverdrossenheit und die vollkommene hingabe, mit der sie sich in die musik begeben, ist immer wieder umwerfend (auch wenn das nicht nur bei ihnen so ist …). mit wenigen motiven spielen sie gekonnt hin und her, die übergaben klappen nahtlos, man merkt immer wieder, dass die beiden sich alles andere als fremd sind (sie haben ja in den letzten in verschiedenen formen miteinander gespielt, z.b. bei sonore oder in brötzmanns chicago tentet.). so treiben sie sich auch gegenseitig immer wieder deutlich an — beiden wollen, das merkt man, etwas erreichen, neuen ausdruck finden (auch wenn es nicht immer ganz und gar gelingen mag).
im zweiten titel (die alle namenlos und ohne jegliche sprachliche würdigung blieben) wurde es dann noch einiges enger, inniger, klanglicher, feiner und nachdenklicher — aber auch wieder nur so lange, bis es zum wilden ausbruch, zum harten einspruch kommt — und damit findet das gegenseitige antreiben, vorwärtspreschen, die reibungen und verzahnungen, das intensive aufeinander eingehen, wieder neuen antrieb. mit der dritten improvisation wurde die sache dann deutlich offener, ungewissener, beide spielten jetzt zunehmend stärker mit den klanglichen aspekten, sangen in ihre instrumente, vandermark probierte endlose repetitionen mit zirkularatmung als hintergrund für brötzmanns ausflüge aus — sehr schön. und spannend. und auch wenn sich das duo öfters merklich beruhigte — gezähmt klang das nie, immer blieb der drang ins neue (wo auch immer das zu vermuten ist) spür- und hörbar.
das gehetzte treiben, das gegenseitige anschieben, die flucht ins extrem jenseits von gut und böse, nahmen vandermark & brötzmann im vierten titel allerdings problemlos wieder auf. spätestens jetzt wurde auch immer klarer, wo die beiden sich eigentlich befanden: im reich des reinen ausdrucks, der reinen kunst — rein in dem sinne, dass hier klang, musik, kunst einfach nur noch ist — ohne herkunft und ohne ziel, ohne irdische beschwernis. sehr erhebend, immer wieder, diese erfahrung. sie erreichen solche gebiete, weil sie gut eingependelt sind zwischen totaler freiheit und vollkommener übereinstimmung: sie gehen auf einander ein, unterstützen sich, schaffen und geben sich aber auch immer wieder selbst freiraum für eigene ideen und ausflüge. und wahre größe zeigen beide dann, wenn sie aus den ebenen der reinen kunst, der bloßen gegenwart, auch wieder zurückfinden, sich wieder einpendeln, vorangegangene motive erneut aufgreifen, das ganze sehr schön abrunden und durchaus auch ganz hymnisch, ja fast beschwichtigend, bestätigen: erhebende und reinigende musik, aber auch das ist — wieder — (noch) kein ziel, kein dauerzustand: alles erreichte bleibt momentan, bleibt vorläufig, bleibt instabil und ohne dauer. der fünfte titel operiert ähnlich: erst mal frei spielen, alles — naja, nicht alles … — kaputt spielen, dann hat man raum und platz für knallhart gepfefferte anmerkungen. und auch für einen ganz versöhnlichen, melodiösen schluss. wunderbar.
und nach der pause dann etwas ganz anderes. ken vandermark war wieder dabei. das war’s aber auch schon mit den gemeinsamkeiten. mit seinem quartett “frame” (eigentlich Vandermark 5 abzüglich Dave Rempis, aber auch — so scheint mir — eine spur konsequenter, extremer in den gegensätzen zwischen fixierten abschnitten und freier improvisation) verfolgte vandermark nämlich ganz andere wege. eigentlich eher pfade, trampelwege, unwegsames gelände, verschlungene tritte durch abgründiges terrain. mit teilweise komponierten, teilweise stark improvisierten teilen, gesteuert durch handzeichen und markante schnitte, bauten die vier vor allem reichlich (um nicht zu sagen hyper-) komplexe strukturen auf — zu später stunde keine leichte kost mehr … unter der oberfläche brodelt es dabei ständig. aber eben nicht nur dort, sondern überall. sehr viel verspielte experimente gibt es da, basierend auf dem auf harten beat ton tim daisy und den wirbelnden, grundlosen bässen nate mcbrides. dazu dann noch fred lonberg-holm seltsame cello-spielerein und vandermark klarinetten- und saxophon-girlanden — und fertig ist ein schweres, aber auch köstliches gebräu. die vier starteten das abenteuer (nicht nur für die zuhörer, auch für die musiker sind besetzung und material (kürzlich aufgenommen) noch recht frisch & unbekannt, was sich durchaus auch hörbar macht …) mit “lens”, das schon alle typischen elemente von frame aufweist: komplexe, verwickelte strukturen, wechselweise gleitenden metamorphosen und harte einschnitte, undurchschaubares gewusel, dröhnbass und glitzernd klare saxophon-melodien zugleich. mit “Huesca Alphabet” ging es dann entsprechend weiter: zunächst ganz verträumt und versunken ein streicher-intro, verzauber-verwunschene atmosphäre, dann zunehmend “klassische” free-jazz ergänzungen, die sich in total verquer scheinenden schichtungen türmen: holpernder beat, stotternde klarinette, sägendes cello und ein autistischer bass — wunderbar zarte versuchung ist das. und dann wieder, ganz plötzlich, einige takte (fast) stillstand, völlig aus der welt gefallene musik — und weiter geht es wie zuvor. angetrieben jetzt von einer zunehmend extremer werdene expressivität — bis zum nächsten, von daisy geforderten/bestimmten, hiatus, der sich deht und dehnt, bevor das alte schma sich wieder stück für stück, aber zugleich auch neu und anders, in vertrauter manier wieder etabliert — nur um wenig später wieder im freien, ausgelassenen getobe zu münden. da kommt keine langweile auf … vor allem auch deshalb, weil alle vier unheimlich konzentriert spielen und zusammen eine fast unfassbare vielfalt an bewegungen, konstellationen, idiomen, einfällen, klangbildern, motiven und stilen zusammenbringen.
“Theater Piece For Jimmy Lyons” fängt dann wieder mit durchbrochenen motiven an, baut einen zarten und peitschenden drive zugleich auf, um wieder so ein überirdisch scheinendes cello-solo zu entfalten — bis zum nächsten cut. so geht das hier immer weiter: wenn man sich gerade bequem eingehört hat, wird wieder alles anders. und neu. und so weiter. das führt tendenziell zur hyperkomplexität, die sich irgendwann fast hermetisch gibt: verstehen wird hier wirklich schwierig. erleben macht aber viel freude. die freiheit, ihre absolute unvorhersehbarkeit und ihre absolute ungewissheit sind ein genuss. in der alten patrone folgte dann noch “straw”, ein dichtes gewusel, ein dickicht von gefrickel höchsten grades (inkl. der elektronik der streicher), ein kunstvoll angelegtes labyrinth der irrgänge und ein reiner urwald zugleich — kurz: total irre, aber auch total mitreißend, überwältigend, wie hier ungeheure kräfte entfesselt werden. ein mirakel dann auch noch, wie sich das immer doch noch irgendwie zusammenfügt, wie sich die vier immer wieder finden — manchmal, so scheint es mir (in unkenntnis des materials und der aufnahmen), aber auch nur noch gerade so …
als zugabe zu den vier recht ausgedehnten titeln gab es dann auch noch “m.e.s”., das ein weiteres mal die völlige und wiederholte entfesselung, in allen dimension, mit gewaltiger materialanhäufung (eine richtige ideenhalde ist das …) feiert — und sich doch der rettenden struktur, der fixierten idee auf dem notenständer gewiss bleibt. großartig, insgesamt, dieser abend. ein würdiges jubiläumskonzert für den upart-verein.
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