vocal jazz ist ja normalerweise nicht unbedingt meine kragenweite . das hier aber schon. das ist nämlich ganz anders: befreiung der stimme. (gab es natürlich schon vorher, hat sich in der improvisierten musik aber anscheinend nicht so durchgesetzt wie das instrumentale spiel (zumindest in meiner (eingeschränkten) wahrnehmung)). das ist aber überhaupt der punkt: das ist nicht singen (wie der meiste vocal jazz), sondern vokales spiel. und vielleicht auch vokales spielen. das instrument ist halt mund, rachen, lippen, stimmbänder, luft (und was sonst noch so dazugehört). text spielt keine rolle. das gefällt mir, mag ich in der improvisierten musik nur selten (was auch daran liegt, dass die dann meist arg banal werden — und vor allem in den meisten fällen zu eindeutig, zu un-ambig sind, um den freien sinnen der improvisierten musik gerecht werden zu können.) das ist hier aber überhaupt nicht der fall. ganz und gar nicht. luma zeichnet sich durch ein überbordende offenheit aus: die ganzen, leider dann doch viel zu kurzen, 36 minuten, sind so ziemlich das genaue gegenteil von überdeterminiert.
also: hanna schörken ist anders. zart, aber bestimmt. sehr feinsinning und feingliedrig fächert sie ihre musik immer wieder auf. und zwar immer wieder neu. die flexibilität, die bandbreite der stimmlichen äußerungen ist faszinierend frappierend. und, das ist der wesentlich faktor für meine begeisterung, es ist nicht technische spielerei oder vorführerei der vokalen fähigkeiten, sondern einfach klanglich spannende, grenzen negierende (oder nicht einmal das — sie spielen einfach keine rolle) entdeckungen, phantasien, ideen, eindrücke, emotionen.
zum gelingen trägt auch die konzentration sehr bei: das sind meist kurze “stücke”, die elf werke, die auf luma versammelt sind. “songs” oder “lieder” mag man das ja nicht nennen. egal: hanna schörken, die mir auch in der ziemlich coolen gruppe The Dorf begnet ist, überzeugt mich sehr. allein dadurch, dass die ideen nicht totgeritten werden, ausquetscht bis zum letzen fitzel klang, sondern halt so lange dauern, wie es nötig ist. das ist auch eine kunst, die nicht alle improvisator*innen immer restlos beherrschen.
und in diesem kurzen (noch einmal: zu kurzen) album ist so viel schönheit, so viel wilde und zugänglich, unerschlossene und offene, zugänglich und zutrauliche schönheit. allein das vibrierende, sanft-füllige ending ist schon alles wert. ich kann gar nicht aufhören zu schwärmen …
„Solidarität gegen Amazon ist eine große Schimäre“ | Welt → zwar in der “welt”, aber trotzdem ein sehr treffendes interview mit klaus schöffling — das liegt aber vor allem eben an schöffling ;-). anlass war die insolvenz von KNV, aber es geht auch/eher um grundlegende fragen des buchmarkts
Ich weiß nicht, ob man jetzt nach dem Staat rufen muss. Richtig beklagen kann sich die Buchbranche, die ja auch mit der Buchpreisbindung vom Staat geschützt wird, eigentlich nicht.
Was hält Demokratien zusammen? | NZZ → aus anlass des todes von böckenförde wieder hervorgeholt: die sehr schöne, klare und deutliche einordnung des böckenförde-theorems in die deutsche geshcichte des 20. jahrhunderts
Diese Abende sind eine Qual | Zeit → florian zinnecker hat für die “zeit” ein nettes interview mit igor levit über die elbphilharmonie und ihre akustik geführt — und levit bleibt wieder einmal cool und überlegen
Improvisation was strong in the late ‘60s and early ‘70s. But then it got very polluted, like you can put everything into performing that you want to. There’s no leadership, no guidance. It’s nowhere near the way of Louis Armstrong, Duke Ellington, Miles Davis, Bessie Smith or Abbey Lincoln who were all right in terms of creating opportunities in their music. The people calling themselves improvisers today are like a soup. You can add everything in at once and cook it. But that’s a bad soup. You need to cook various portions and add in different things like spices which is what making music in the present is meant to be. It’s like what the Creator created in the beginning. It’s authenticity. You’re bringing something into being.
Überhaupt nicht adventlich oder weihnachtlich, aber trotzdem sehr schön, diese Session von The Elks beim “NOD NOW” Interpenetration Festival:
The Elks @ “NOD NOW” Interpenetration Festival
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Who’s the world’s leading eco-vandal? It’s Angela Merkel | The Guardian → george monbiot schreibt im “guardian”, was ich in deutschen medien auch gerne öfters lesen würde — eigentlich vergleicht er nur worte und taten, anspruch und wirklichkeit — und kommt eben fast zwangsläufig zu einem desaströsen ergebnis:
Merkel has a fatal weakness: a weakness for the lobbying power of German industry. Whenever a crucial issue needs to be resolved, she weighs her ethics against political advantage, and chooses the advantage. This, in large part, is why Europe now chokes in a fug of diesel fumes.
Die Flucht in die Performance ist für mich das Hauptproblem freier, improvisierter Neuer Musik. Gleich gefolgt von der Tendenz, ja nicht mal konkret, gar ekstatisch zu werden, das gefühlte Dauer-Mezzoforte für alle Parameter.
Ingo Dorfmüller berichtet über Dominik Sustecks Improvisationskunst:
Der Kölner Organist Dominik Susteck improvisiert
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Der Hype um die Smart City| taz → julia manske mag dem trend zur “smart city” nicht vorbehaltlos zustimmen — mit guten argumenten
Dafür zu plädieren, dass die Bürger breitflächig ihre Daten in der vernetzten Stadt teilen sollen, nur weil dies in anderen Ländern geschieht, ist ein Fehler. Vieles ist heute mit Daten möglich, ebenso wie vieles im Bio-Engineering-Bereich möglich ist. Dennoch haben wir uns darauf geeinigt, nicht alles zuzulassen. Wir sollten Ideen entwickeln, wie der Schutz der Privatsphäre Teil der zukünftig vernetzten Stadt werden kann.
Dom des Apostels der Deutschen entdeckt | Welt → sven felix kellerhoff nur ein bisschen reißerisch über die kirchenausgrabung in mainz (unter st. johannis) — nichts wesentliches neues, aber ganz nett geschrieben (aber: dass die “welt” die weite, strapaziöse anreise nach mainz nicht mehr selbst finanzieren kann — ganz schön erbärmlich …)
Dominik Susteck improvisiert: Eis (Version 2017)
Februar-Improvisationen 2017
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Eine kleine Intakt-Auslese aus dem zweiten Halbjahr — dank des vortrefflichen Abonnements bekomme ich ja immer alle Veröffentlichungen postwendend geliefert:
Musikalische Monster
Die Musical Monsters sind eigentlich gar keine neue Musik. Aufgenommen wurde das nämlich schon 1980 bein Jazzfestival Willisau. Dessen Chef Niklaus Troxler hat die Bänder gut aufgehoben. Und Intakt konnte sie jetzt, nach umständlicher Rechteabklärung, endlich veröffentlichen. Zu hören ist ein Quintett mit großen Namen: Don Cherry, Irène Schweizer, Pierre Favre, John Tchicai und Léon Francioli, das es so sonst nicht zu hören gibt. Am erstaunlichsten fand ich, wie wenig man die 36 Jahre, die die Aufnahme alt ist, der Musik anhört. Die vier großformatigen, größtenteils freien Improvisationen — es gibt ein paar melodisch fixierte Ankerpunkte, die als festgelegte Scharniere zwischen Solo- und Kollektivimprosiationen dienen — klingen erstaunlich frisch, ja fast zeitlos: Die intuitive Spontaneität und Intensität ist ziemlich fesselnd. Vor allem, weil sie von allem etwas bietet — verspielte Faxen, intime Momente, packende Energien … Und weil die fünf ziemlich gleichwertige, gleichermaßen faszinierende Musikerinnen sind, die sich immer wieder zu großen Momenten innerer Stärke aufschwingen, die in erstaunlicher Dichte aufeinander folgen und zuweilen sogar echtes Pathos erzeugen. Besonders faszinierend fand ich das in der zweiten Improvisation, mit über zwanzig Minuten auch die längste, in der sich großartige Soli (vor allem Tchicai sticht hier hervor) und spannende, in ihrer fragenden Offenheit ungemein fesselnde Gruppenimprovisationen ballen.
Don Cherry, John Tchicai, Irène Schweizer, Léon Francioli, Pierre Favre: Musical Monsters. Intakt Records CD 269, 2016. 59:28 Minuten.
Tiefe Gedächtnismusik
Für Deep Memory hat sich Barry Guy, der die CD im Trio mit Marilyn Crispell und Paul Lytton aufnahm, von den Bildern Hughie O’ Donoghues zu Kompositionen anregen lassen. Die sieben Stücke tragen die Titel der Bilder: Sleeper, Dark Days, Fallen Angeld oder Silenced Music heißen sie etwa. Das sind aber keine musikalischen Ekphrasen, sondern eher Kompositionen, die sich von dem Bild — seinen Farben, seiner Gestalt und vor allem vielleicht: seiner Stimmung — zu akustischen Eindrücken inspirieren lassen. Vieles davon lässt sich in weiten Bögen, oft verträumt-versponnen und/oder nachdenklich, tragen und speist sich nicht unwesentlich aus dem intimen Zusammenspiel des Trios, das ja schon seit gefühlten Ewigkeiten immer wieder miteinander musiziert und der Effekthascherei ausgesprochen abhold ist. Und das auch auf Deep Memory vor allem durch seine kammermusikalische Dichte und Intensität der farbenprächtigen, tendenziell melancholischen Klangmalerei gefällt. Die befinden sich, so hört es sich an, eigentlich immer auf der gleichen Wellenlänge, um dieses strapazierte, hier aber sehr passende Bild zu benutzen.
Barry Guy, Marilyn Crispell, Paul Lytton: Deep Memory. Intakt Records CD 273, 2016. 52:07 Minuten.
Am großen Rad drehen
Big Wheel Live ist die zweite CD von Christopher Irniger Pilgrim, wie der spannende Saxofonist, Komponist & Bandleader Irniger sein Quintett mit Stefan Aeby, Davie Gisler, Raffaele Bossard und Michi Stulz nennt. Auch wenn das “Live” wirklich auf Live-Aufnahmen (in Berlin, Ratzeburg und Altenburg) zurückgeht, klingt die CD richtig gut. Und das ist in sofern besonders schön, weil gerade Aeby ein sehr klangsinniger Pianist ist. Die ganze Musik auf Big Wheel Live zeichnet sich meines Erachtens nicht nur durch ihren kraftvollen Sound aus, sondern vor allem durch ihre Räumlichkeit und Tiefe. Oft ist das nur lose verbunden, nur locker gewebt, gibt so den Fünfen aber viel Chancen zum ausgreifenden Erforschen. Und der Freiraum zum Erkunden, die Öffnung in alle Himmelsrichtungen wird weidlich genutzt: Man hört eigentlich immer eine permanente Suchbewegung, die stets fortschreitet, die beim schönen Augenblick verweilt, sondern immer weiter will — wie es gute improvisierte Musik eben (fast) immer tut. Neben Aeby, der sich immer mehr zu einem sehr interessanten Pianist entwickeln zu scheint, hat mir hier vor allem die oft sehr spannende, überraschende Spielweise des Schlagzeugers Michi Stulz gefallen. Gitarrist Dave Gisler und Irnigers Saxophon umspielen sich oft sehr eng. Entscheidend aber in allen sechs Titeln: Das bleibt immer im Fluss, die Ideen versanden eigentlich nie, sondern finden immer neue Pfade und Wege.
Christoph Irniger Pilgrim: Big Wheel Live. Intakt Records CD 271, 2016. 62:44 Minuten.
Das unsterbliche Trio
Vielleicht ist es das europäische Jazztrio schlechthin, sicherlich wohl das am längsten amtierende: Alexander von Schlippenbach, Evan Parker und Paul Lovens sind das Schlippenbach-Trio. Und zwar schon ewig. Und jedes Jahr sind wie wieder unterwegs (die schöne Film-Dokumentation Aber das Wort Hund bellt ja nicht hat die jährliche “Winterreise” des Trios ja sehr anschaulich gemacht), immer wieder in der gleichen Besetzung mit immer anderer Musik — nicht ohne Selbstironie nennt Schlippenbach das im Begleitheft deshalb “das unsterbliche Trio”. Erstaunlich daran ist vor allem, dass es nicht langweilig wird, dass diese große Vertrautheit miteinander nicht in Belanglosigkeiten mündet. Auch das Warsaw Concert ist wieder eine aufnahmetechnisch und musikalisch gut gelungene Live-Aufnahme vom Oktober 2015. Und beim Schlippenbach-Trio heißt das: Eine einzige lange Improvisation ohne Pausen oder Unterbrechungen, ohne Verabredungen und ohne Komposition — knapp 52 Minuten sind das (dazu kommt noch eine kurze, fast humoristische Zugabe). Der erste Eindruck: Nette Musik — das funktioniert einfach, das passt. Und das ist wirklich Musik der Freiheit: Weil sie sich (und dem Publikum) nichts (mehr) beweisen müssen. Und: Weil sie viel können, enorm viel, sowohl alleine mit ihren Instrumenten als auch zusammen als Trio. Deshalb schöpften sie mit lockerer Hand auch in Warschau eine Vielfalt der Stimmungen. Vieles klingt vielleicht etwas altersmilde in der Klarheit und dem lyrischen Ausdruck (wenn man das so deuten möchte), stellenweise aber durchaus auch bohrend und insistierend. Das ist einfach ausgezeichneter, gelungener, “klassischer” Free Jazz, den man gerne wiederholt anhört und versucht nachzuvollziehen.
Schlippenbach Trio: Warsaw Concert. Intakt Records CD 275, 2016. 56:36 Minuten.
Zur Erleuchtung
Stefan Aeby war ja auch schon im Christoph Irniger Pilgrim vertreten, hier ist nun noch einmal als “Chef” mit seinem eigenen Trio zu hören, das aber mit Michi Stulz am Schlagzeug noch eine weitere Person mit dem Pilgrim-Ensemble teilt. To the Light ist eine Musik des Klanges: Ich höre hier nicht so sehr rhythmisch und/oder harmonische Strukturen, sondern vor allem Klänge. Klänge, die sich immer wieder zu kleinen Szenen und imaginären Bildern formen. Das Trio passt da in dieser Hinsicht ausgezeichnet zusammen: Nicht nur Stefan Aeby am Klavier ist ein bisschen ein Klangmagier, auch der Bass von André Pousaz hat erstaunliche Qualitäten (besonders schön im Titelstück wahrzunehmen, das sowieso eine ziemlich großartige Sache ist). Und Michi Stulz, mit halligen Becken und eng klingenden Toms zaubert für einen Schlagzeuger erstaunlich flächige Klänge. Das ist ein poetischer Sound, eine weiche und wandelbare Klanggestalt, die mir ausgezeichnet gefällt. Vieles ist (mindestens tendenziell) leicht verträumt und klingt mit romantisch-impressionistischem Einschlag, ist dabei aber keineswegs schwindsüchtig, sondern durchaus mit gesunder Kraft und Potenz musiziert, die aber nie auftrumpfend ausgespielt wird: So klingen Musiker, die sich nichts beweisen müssen, möchte ich vermuten. Die Musiker muss man sich wohl immer als lauschende Instrumentalisten vorstellen: Vielleicht ist es ja sowieso gerade das (Zu-)Hören, das gute Improvisatorinnen (oder Jazzer) ausmacht. Oder, wie es Florian Keller im Begleittext sehr treffend formuliert: “Eine Musik, die die Figur des Lauschers entstehen lässt. Und diesem viel Raum für seine Fantasie gewährt.”
Stefan Aeby Trio: To the Light. Intakt Records CD 274, 2016. xx:28 Minuten.
Entgrenzung und die Sprache der Flüchtlingsdebatte | FAZ → ein sehr guter text von tobias rüther über die zunehmend unsägliche, untragbare, verheerende rhetorik im politischen diskurs, vor allem wenn es um “flüchtlingsfragen” geht (woran die faz aber auch ihren anteil hat …)
Als Geschäftsmodell des akademischen Kapitalismus ist OA Realität, als Programm dafür, die Menschheit im gemeinsamen intellektuellen Gespräch und Streben nach Wissen zu vereinigen, ist es eine Utopie.
OA hat das auch vorher schon virulente Problem eines hemmungslosen Publikationswahns noch weiter verschärft und mit der vermeintlichen Transparenz eine noch größere Unübersichtlichkeit geschaffen.
Das kritischste Risiko für die Energiewende wirkt im Vergleich gar nicht so spannend: dauerhaft niedrige Weltmarktpreise für fossile Energien.
„Das Geld wandert ab aus diesem Beruf“ | Volltext → interessantes interview mit ulrike draesner über lyrik und deren wertschätzung, die änderungen für das schreiben, die die allzeit verfügbaren daten & informationen mit sich bringen
Am Abend meditiere ich auf dem Saxofon die jüngsten Ereignisse dieser enigmatischen Reise, ihre numerologischen Implikationen, und bin ab sofort als 23 neu inkarniert. […] Zersplitterte Zeitpyramide. Simulationszeitalter. Anything Goes – Jazz ist eigentlich ein querstehendes Gefühl.
Thomas Brussig: Wasserfarben. Berlin: Aufbau Digital 2016. 183 Seiten. ISBN 978–3‑8412–1084‑5.
Wasserfarben ist der erste Roman von Brussig, 1991 unter einem Pseudonym erschienen und jetzt als E‑Book veröffentlicht, deshalb ist er sozusagen bei mir gelandet. Es wird erzählt von einem Abiturient in Ost-Berlin am Übergangspunkt zwischen noch Schule und bald Leben. Es soll also ganz offensichtlich ein coming-of-age-Roman sein. Das ist es aber nicht so recht — weil der “Held” sich wenig bis gar nicht entwickelt und erst am Ende von seinem älteren Bruder erklärt bekommt, wie man erwachsen wird … Der Text ist vielleicht typisch Brussig: gewollt rotzig und trotzig. Und dieses bemühte Wollen merkt man dem Text leider immer wieder an — nicht an allen Stellen, aber doch häufig. Genau wie er bemüht “frech” sein will ist er auch etwas bemüht witzig. Vor allem aber fehlt mir die eigentliche Motivation des Erzählers, warum er so ist, wie er ist. Das wird einfach nicht klar.
Wasserfarben ist dabei sowieso von einem eher lahmen Witz und hinkendem Esprit gekennzeichnet. Das passt insofern, als auch die beschriebene DDR-Jugend in den 80ern so halb aufsässig ist: nicht ganz angepasst, aber auch kein Hang zur Totalverweigerung oder wenigstens “ordentlicher” Opposition. Das, der Held und seine Freunde und Bekannte, denen er im Lauf der Erzählung begegnet, zeigen dafür sehr schön den Druck, den das System aufbauen und ausüben konnte, vor allem in der Schule, aber auch im Privatleben, wo Arnold, der Protagonist und Erzähler (der den Leser schön brav siezt und auch sonst so seine extrem angepassten Momente hat), durchaus aneckt — vor allem wohl aus einem unspezifischen Freiheitsdrang, weniger aus grundsätzlicher Opposition. Das Buch hat durchaus einige nette Momente, die auch mal zum Schmunzeln anregen können, erschien mir auf die Dauer aber etwas fad — so wie die Jugend und die DDR selbst vielleicht. Nicht umsonst beschreiben die sich als “wasserfarben” im Sinne von: diese Jugend hat die Farbe von Wasser, ist also ziemlich blass, durchscheinend, aber auch vielfältig.
Alke Stachler: Dünner Ort. Mit fotografischen Illustrationen von Sarah Oswald. Salzburg: edition mosaik 2016 (edition mosaik 1.2). 64 Seiten. ISBN 9783200044548.
Meinen Eindruck dieses feinen Büchleins, dass es mir nach anfänglicher Distanz doch ziemlich angetan hat, habe ich an einem anderen Ort aufgeschrieben: klick.
John Corbett/span>: A Listener’s Guide to Free Improvisation. Chicago, London: The University of Chicago Press 2016. 172 Seiten. ISBN 978–0‑226–35380‑7.
Diese gelungene Einführung in die frei improvisierte Musik für interessierte Hörer und Hörerinnen habe ich auch schon in einem Extra-Beitrag gelobt: klick.
Nora Gomringer: ach du je. Luzern: Der gesunde Menschenversand 2015 (edition spoken script/Sprechtexte 16).153 Seiten. ISBN 9783038530138.
Dieser Band versammelt Sprechtexte Gomringers. Die zielen auf die Stimme und ihre körperliche Materialität, sie setzen sie voraus, sie machen sie zu einem Teil des Textes selbst — oder, wie es im Nachwort heißt: “Die Niederschrift ist für sie ein Behelf, um das lyrische schlechthin zur Erfüllung zu bringen.” (144). Das ist gewissermaßen Vorteil und Problem zugleich. Dass man den Texten ihre Stimme sozusagen immer anmerkt, ist konsequent. Und sie passen damit natürlich sehr gut in die “edition spoken script”. Ich — und das ist eben eine rein subjektive Position — mag das allerdings oft nicht so gerne, zu sprechende/gesprochene Texte lesen — da fehlt einfach wesentliche Dimension beim “bloßen” Lesen. Und was übrig bleibt, funktioniert nicht immer, nicht unbedingt so richtig gut. Das soll aber auch gar keine Rüge sein und keinen Mangel anzeigen: Sprechtexte, die als solche konzipiert und geschrieben wurden, sind eben mit bzw. in der Stimme gedacht. Ist ja logisch. Wenn die nun im gedruckten Text wegfällt, fehlt eine Dimension des Textes, die sich imaginativ für mich nicht immer reibungs-/nahtlos ersetzen lässt. Ich denke durchaus, dass mindeste ein Teil der Texte gut sind. Gefallen hat mir zum Beispiel das wiederholte Ausprobieren und Bedenken, was Sprache vermag und in welcher Form: was sich also (wie) sagen lässt. Anderes dagegen schien mir doch recht banal. Und manchmal auch etwas laut und etwas „in your face“, eine Spur zu aufdringlich und über-direkt. Insgesamt hinterlässt der Band damit bei mir einen sehr divergenten, uneinheitlichen Eindruck.
Modern
Einen Baum pflanzen Auf ihm ein Haus bauen Da rein ein Kind setzen Das Kind zweisprachig Anschreien (116)
Urs Leimgruber/Jacques Demierre/Barre Phillips: Listening. Carnet de Route — LDP 2015. Nantes: Lenka Lente 2016. 269 Seiten. ISBN 9791094601051.
Listening ist das Tourtagebuch des Improvisationstrios LDP, also des Saxophonisten Urs Leimgruber, des Pianisten Jacques Demierre und des Bassisten Barre Phillips. Ursprünglich haben die drei das als Blog geschrieben und auch veröffentlicht. Drei Musiker also, die in drei Sprachen schreiben — was dazu führt, dass ich es nicht ganz gelesen habe, mein Französisch ist doch etwas arg eingerostet. Das geht mal ein paar Sätze, so manches habe ich dann aber doch übersprungen. Und die ganz unterschiedliche Sichtweisen und Stile beim Erzählen des Tourens haben. Da geht es natürlich auch um den Touralltag, das Reisen spielt eine große Rolle. Wichtiger aber noch sind die Veranstalter, die Organisation und vor allem die Orte und Räume, in den sich die Musik des Trios entwickeln kann. Und immer wieder wird die Mühe des Ganzen deutlich: Stunden- bis tagelang fahren, unterwegs sein für ein bis zwei Stunden Musik. Und doch ist es das wert, sowohl den Produzenten als auch den Rezipienten der freien Musik.
The performing musician’s handicap is that each concert is the last one ever. It’s never going to get any better than it is today. The concert is ‚do or die‘ time. This moment is your truth and the groups truth. (65)
Die Räume, Publika und auch die bespielten Instrumente werden immer wieder beschrieben und bewerten. Demierre führt zum Beispiel genau Buch, welche Klaviere und Flügel er bespielt, bis hin zur Seriennummer der Instrumente. Und da ist vom Steinway-Konzertflügel der D‑Reihe bis zum abgewrackten “upright” alles dabei … Leimgruber interessiert sich mehr für die Städte und Organisationszusammenhänge, in denen die Konzerte stattfinden. Und natürlich immer wieder die Musik: Wie sie entsteht und was dabei herauskommt, wenn man in vertrauter Besetzung Tag für Tag woanders neu und immer wieder frei improvisiert. Und wie die Reaktionen sind. Da finden sich, im Text des Tourtagebuch verteilt, immer wieder interessante Reflexionen des Improvisierens und Selbstpositionierungen, die ja bei solcher, in gewisser Weise marginaler, Musik immer auch Selbstvergewisserungen sind. Nur geübt wird eigentlich überhaupt nicht (außer Barre Phillips, der sich nach monatelanger Abstinenz aus Krankheitsgründen wieder neu mit seinem Bass vertraut machen muss). Und im Trio gibt’s immerhin kurze Soundchecks, die aber wohl vor allem der Erprobung und Anpassung an die jeweilige Raumakustik dienen. Und nicht zuletzt bietet der Band noch viele schöne Fotos von Jacques Demierre.
Konzentriertes Hören, Verantwortung, materielle Voraussetzungen und spontane Eingaben bilden die Basis der Musik. Wir agieren, intensivieren, dekonstruieren, eliminieren, addieren und multiplizieren… Wir praktizieren Musik in Echtzeit, sie entsteht, indem sie entsteht. Gesten und Spielweisen vermischen sich und lösen sich ab. Wir halten nichts fest. Das Ausgelassene zählt genauso wie das Eingefügte. Jedes Konzert ist auf seine Art ein Original. Jede Situation ist anders. Der akustische Raum, das Publikum, die gesamte Stimmung im Hier und Jetzt. (134f.)
Hubert Fichte: Ich beiße Dich zum Abschied ganz zart. Briefe an Leonore Mau. Hrsg. von Peter Braun. Frankfurt am Main: S. Fischer 2016. 256 Seiten. ISBN 978–3‑10–002515‑9.
Zusammengerechnet sind es knapp 60 Seiten Briefe, für die man 26 Euro bezahlt. Und viele der Briefe Hubert Fichtes an seine Lebensgefährtin Leonore Mau sind (sehr) knappe, kurze Mitteilungen, die oft in erster Linie die Banalitäten des (Zusammen-)Lebens zum Inhalt haben.
Ich will: keinerlei familiäre Bindungen. Ich will frei leben — als Sohn Pans — wenn Du willst und ich will schreiben. (28)
Die Briefe zeichnen nicht unbedingt ein neues Fichte-Bild — aber als Fan muss man das natürlich lesen. Auch wenn ich mit schlechtem Gewissen lese, weil es dem Autorwillen ausdrücklich widerspricht, denn der wollte diese Dokumente vernichtet haben (was Leonore Mau in Bezug auf seinen sonstigen schriftlichen Nachlass auch weitgehend befolgte, bei den Briefen (zumindest diesen) aber unterließ, so dass sie nach ihrem Tod jetzt sozusagen gegen beider willen doch öffentlich werden können und das Private der beiden Künstlerpersonen also der Öffentlichkeit einverleibt werden kann …) Vor allem bin ich mir nicht sicher, ob sich — wie Herausgeber Peter Braun im Nachwort breit ausführt — daraus wirklich ein “Relief” im Zusammenspiel mit den Werken bildet. Und wie immer bin ich mir ziemlich unsicher, ob das den Werken (es geht ja vor allem um die unfertige “Geschichte der Empfindlichkeit”) wirklich gut tut (bzw. der Lektüre), wenn man sie mit den Briefen — und damit mit ihrem Autor — so eng verschränkt. Und ob es in irgend einer Weise notwendig ist, scheint mir auch zweifelhaft. Ja, man erkennt die autobiographische Grundierung mancher Jäcki-Züge und auch der Irma-Figur nach der Lektüre der Briefe noch einmal. Aber verleitet das Briefe-Lesen dann nicht doch dazu, aus Jäcki Hubert und aus Irm Leonore zu machen und damit wieder am Text der Werke vorbei zu lesen? Andererseits: ein wirklich neues Bild, eine unentdeckte Lesart der Glossen oder der Alten Welt scheint sich dann selbst für Braun doch nicht zu ergeben.
Ich will Freiheit, Freiheit — und dazu bedarfs Witzes und Lachens. (42)
Selbst Willi Winkler, durchaus enthusiastischer Fichteaner, befindet in der Süddeutschen Zeitung: “Diese Briefe, einmal muss es doch heraus, sind nämlich von sensationeller Belanglosigkeit” und schießt dann noch recht böse gegen die tatsächlich manchmal auffallenden Banalitäten des Kommentars (mein Lieblingskommentar: „Darmgeräusche: Darmgeräusche sind ein Ausdruck der Peristaltik von Magen und Darm und insofern Anzeichen für deren normale oder gestörte Tätigkeit.“ (167)) und das etwas hochtrabende Nachwort von Herausgeber Braun. Überhaupt macht das Drumherum, das ja eine ganze Menge Raum einnimmt, eher wenig Spaß. Das liegt auch an der eher unschönen, lieblose Gestaltung. Und den — wie man es bei Fichte und Fischer ja leider gewöhnt ist — vagen, ungenauen Editionsrichtlinien. Der Titel müsste eigentlich auch anders heißen, das Zitat geht nämlich noch ein Wort weiter und heißt dann: “Ich beiße dich zum Abschied ganz zart / wohin.” So steht es zumindest im entsprechenden Brief, war dem Verlag aber wohl zu heikel. Und das ist dann doch schade …
Aber für uns ist ja nur das Unvorsichtige das richtige. (141)
außerdem gelesen:
T. E. Lawrence: Wüsten-Guerilla. Übersetzt von Florian Tremba. Herausgegeben von Reiner Niehoff. Berlin: blauwerke 2015 (= splitter 05/06). 98 Seiten. ISBN 9783945002056.
Björn Kuhligk: Ich habe den Tag zerschnitten. Riga: hochroth 2013. 26 Seiten. ISBN 97839934838309.
Christian Meierhofer: Georg Philipp Harsdörffer. Hannover: Wehrhahn 2014 (Meteore 15). 134 Seiten. ISBN 978–3‑86525–418‑4.