zunächst der text, den ich an die main­zer rhein-zei­tung gelie­fert habe:

Ein­mal im Jahr ist erst­klas­si­ger Jazz auch in Mainz zu Hau­se. Denn wenn der SWR und das Land den SWR-Jazz­preis ver­ge­ben, dann müs­sen – so will es die Tra­di­ti­on – die Emp­fän­ger sich auch bewei­sen. Und den Main­zern wird so regel­mä­ßig ein Häpp­chen impro­vi­sier­ter Musik von Welt­ni­veau ser­viert. In die­sem Jahr war der Ber­li­ner Pia­nist Alex­an­der von Schlip­pen­bach für das Menü zustän­dig. Zunächst, und auch das ist eine schö­ne Tra­di­ti­on im Foy­er des Main­zer Funk­hau­ses, muss­te der Preis­trä­ger solis­tisch an die Arbeit.
Er macht das mit der Prä­zi­si­on eines Chir­ur­gen – aber auch mit mehr Ener­gie als ein Kern­kraft­werk frei­setzt. Vor allem aber spielt er mit unge­zü­gel­ter Lei­den­schaft: Bes­ser als jede bewusst­seins­er­wei­tern­de Dro­ge ver­set­ze er das Publi­kum in einen Rausch­zu­stand, aus dem kei­ner unver­än­der und unbe­rührt zurück­keh­ren kann. Denn das größ­te, was von Schlip­pen­bach hier leis­tet, ist die unge­zwun­ge Leben­dig­keit sei­ner Musik: Da ist wirk­lich nahe­zu jeder Ton per­fekt an sei­nem Platz und in sei­ner Wir­kung. Und doch atmet jeder Klang pure Frei­heit – Frei­heit, die nur durch den Ver­zicht auf Sicher­heit mög­lich wird. Dafür war der zwei­te Teil des Preis­trä­ger­kon­zer­tes ein noch bes­se­rer Beweis. Denn nach der offi­zi­el­len Über­ga­be der Urkun­de – den Scheck über 10.000 Euro, den SWR und das Land gemein­sam finan­zie­ren, hat­te er schon vor­her erhal­ten – kam er mit zwei ganz alten Weg­ge­fähr­ten auf die Büh­ne: Dem Saxo­pho­nis­ten Evan Par­ker und dem Schlag­wer­ker Paul Lovens. Die­se Drei sind schon über vier­zig Jah­re gemein­sam immer an vor­ders­ter Front im Kampf für den euro­päi­schen Free Jazz unter­wegs. Und der fast sieb­zig­jäh­ri­ge von Schlip­pen­bach nutz­te dann auch gleich noch die Gele­gen­heit, den Radio-Chefs ins Gewis­sen zu reden: Mehr Sen­de­zeit und dafür weni­ger Prei­se ver­lang­te er – nahm aber den SWR aus­drück­lich von sei­ner Schel­te aus. Dann zeig­te er mit sei­nem Trio aber auch, war­um er sich eine sol­che For­de­rung leis­ten darf. Denn was die­se alten Käm­pen da im Foy­er hören lie­ßen, war immer noch weit­aus radi­ka­ler als fast alles, das sonst in Deutsch­land den Namen Jazz trägt. In bes­ter und gera­de­zu klas­si­scher Free-Jazz-Manier ent­fes­sel­ten die alten Her­ren Ener­gien von unglaub­li­chem Aus­maß. Sie tob­ten und ras­ten durch ihren akus­ti­sche Kos­mos, sie brüll­ten und fauch­ten, häm­mer­ten und mei­ßel­ten Klang­bä­der aus kochen­dem Stahl. Aber sie beschränk­ten sich nie aufs rein Destruk­ti­ve, sie bän­dig­ten den Furor immer wie­der recht­zei­tig. Ob in den rasan­ten unend­li­chen Saxo­phon­so­li, den unge­bän­dig­ten Klang­for­schun­gen des Schlag­wer­kers oder den fas­zi­nie­rend prä­zi­sen, mes­ser­schar­fen Beglei­tun­gen von Alex­an­der von Schlip­pen­bach, die sich immer wie­der zu gran­di­os poin­tier­ten Soli aus­wei­te­ten: Stets spiel­ten die drei beängs­ti­gend eng zusam­men, immer blick­ten sie nur nach vorn und lie­fen doch nie ins Lee­re, son­de­ren fan­den immer wie­der Halt in der Frei­heit ihrer Aus­drucks­kraft – bis zur Erschöp­fung aller Betei­lig­ten.
und das waren mei­ne noti­zen:
alex­an­der von schlip­pen­bach solo:
  • theo­re­tisch-struk­tu­rel­le raf­fi­nes­se – aber trotz­dem mehr als hauch der frei­heit
  • weit­räu­mi­ge, groß­flä­chi­ge dra­ma­tur­gie: minu­ten­lan­ge auf­bau-arbei­ten
  • kräch­zend-hei­ser mit­sin­gend – oder mit füßen einen total absurd erschei­nen­den rhyth­mus mit­klop­fen, mit­stamp­fend
  • unmit­tel­bar­keit: jede beschrei­bung die­ser musik klingt viel zu kom­pli­ziert: natür­lich ist das kom­ple­xe musik – aber eben so, dass sie kei­ne ver­rück­te theo­re­ti­sche übung bleibt, son­dern musik mit emo­tio­na­len gehal­ten, die sich unauf­hör­lich in herz und hirn frisst und bohrt, kei­nen unbe­tei­ligt, unbe­rührt lässt
  • manisch – wirkt so unver­schämt leicht, wie er sich stei­gert immer wei­ter, immer neue höhen erklimmt
  • auf­he­bung jeg­li­cher distanz und dif­fe­renz: er spielt nciht nur stü­cke, son­dern er ist musik (kli­schee!!), es bricht immer wie­der aus ihm her­aus – & weil er intel­li­gent genug ist, kann er es steu­ern (in tei­len, in abläu­fen …)
  • viel­falt des ausdrucks/​des mate­ri­als
    • kein ber­ser­ker – obwohl er ganz schon rein­hau­en kann
    • auch kein poe­ti­scher weich­spü­ler – auch wenn er manch­mal (kurz) ins träu­men gerät
  • lako­nisch v.a. in den schlüs­sen – oft bloß rei­ne abbrü­che
  • swingt über­haupt nicht – das das muss jazz natür­lich schon lan­ge nicht mehr
  • irgend ein bas­tard aus kom­po­niert und impro­vi­siert, aus Neu­er Musik & Free Jazz – aber eine kreu­zung so raf­fi­niert, dass her­kunft oder gren­zen völ­lig ver­schwin­den, auf­ge­ben in syn­the­se, auf­ge­ho­ben wer­den (ganz streng im hegel­schen sin­ne nach oben!). sozu­sa­gen ein radi­ka­ler third stream (stimmt nat. über­haupt nicht) – ver­su­che dazu gab es zuhauf und meh­ren sich in letz­ter zeit auch wie­der – aber nur ganz, ganz sel­ten so fas­zi­nie­rend zwi­gend über­zeu­gend wie hier heu­te
  • oft ganz ein­fach nur wun­der­schön
  • set­list-anmer­kung von avs: t. monk, trink­le tink­le; e. dol­phy: some­thing sweet, some­thing ten­der & out the­re
  • „der pro­gres­si­ve jazz und die impro­vi­sier­te musik haben es weni­ger nötig, geför­dert und aus­ge­zeich­net zu wer­den, als von rund­funk­an­stal­ten pro­du­ziert und gesen­det zu wer­den“ – „lie­be freun­de, wacht auf, hört hin, gebt unse­rer musik den platz, der ihr zukommt:“ (alex­an­der von schlip­pen­bach bei der ver­lei­hung)

schip­pen­bach-trio

  • paul lovens, ein schlag­zeu­ger, der mehr auf becken zau­bert als trom­melt
  • hard­core-free-jazz der güte­klas­se a – ver­rückt, dass das immer noch so frisch und unver­dor­ben ist/​sein kann
  • rasend, herz­schlag auf­peit­schend – bes­ser und bewusst­seins­er­wei­tern­der als jede dro­ge
  • mehr ener­gie frei­set­zend als jedes akw – nur mit anders­ar­ti­ger kon­at­mi­na­ti­on – denn kapern das publi­kum, ver­pas­sen gehirn­wä­sche – was unter bedin­gun­gen gro­ßer frei­heit mög­lich ist, was der bewuss­te und gewoll­te ver­zicht auf psychische/​physische sicher­heit an gele­gen­hei­ten, mög­lich­kei­ten her­vor­brin­gen kann …
  • den neben ener­gie-clus­tern, ‑bom­ben, auch locke­res, offe­nes trio-spiel
  • bis zur (schein­bar) tota­len auf­lö­sung
  • drei beses­se­ne
  • eini­ge duos – ech­tes zusam­men­spiel, gegen­sei­ti­ges hel­fen statt wett­kampf
  • da bleibt kein ton auf dem ande­ren, – etwa so, als wür­de man einen rasen­den ice in vol­ler fahrt umbau­en wol­len
  • sprü­hen nicht nur fun­ken, son­dern auch schweiß­trop­fen