Die Zeit steht, wie in Kon­tra­post zur Renais­sance schlecht­hin, so ins­be­son­de­re im Gegen­satz zur Situa­ti­on, in der die Buch­dru­cker­kunst erfun­den wur­de. Mag es näm­lich ein Zufall sein oder nicht, ihr Erschei­nen in Deutsch­land fällt in die Zeit, da das Buch im emi­nen­ten Sin­ne des Wor­tes, das Buch der Bücher durch Luthers Bibel­über­set­zung Volks­gut wur­de. Nun deu­tet alles dar­auf hin, daß das Buch in die­ser über­kom­me­nen Gestalt sei­nem Ende entgegengeht.
[…] Die Schrift, die im gedruck­ten Buche ein Asyl gefun­den hat­te, wo sie ihr auto­no­mes Dasein führ­te, wird uner­bitt­lich von Rekla­men auf die Stra­ße hin­aus­ge­zerrt und den bru­ta­len Hete­ro­no­mien des wirt­schaft­li­chen Cha­os unter­stellt. Das ist der stren­ge Schul­gang ihrer neu­en Form. Wenn vor Jahr­hun­der­ten sie all­mäh­lich sich nie­der­zu­le­gen begann, von der auf­rech­ten Inschrift zur schräg auf Pul­ten ruhen­den Hand­schrift ward; um endlich
sich im Buch­druck zu bet­ten, beginnt sie nun eben­so lang­sam sich wie­der vom Boden zu heben. Bereits die Zei­tung wird mehr in der Senk­rech­ten als in der Hori­zon­ta­le gele­sen, Film und Rekla­me drän­gen die Schrift voll­ends in die dik­ta­to­ri­sche Ver­ti­ka­le. Und ehe der Zeit­ge­nos­se dazu kommt, ein Buch auf­zu­schla­gen, ist über sei­ne Augen ein so dich­tes Gestö­ber von wan­del­ba­ren, far­bi­gen, strei­ten­den Let­tern nie­der­ge­gan­gen, daß die Chan­cen sei­nes Ein­drin­gens in die archai­sche Stil­le des Buches gering gewor­den sind. Heu­schre­cken­schwär­me von Schrift, die heu­te schon die Son­ne des ver­mein­ten Geis­tes den Groß­städ­tern ver­fins­tern, wer­den dich­ter mit jedem fol­gen­den Jah­re werden.
Wal­ter Ben­ja­min, Ein­bahn­stra­ße [1928], Abschnitt „Ver­ei­dig­ter Bücherrevisor“