Eigentlich ist Schmidts Zeitverschiebung eine Geschichte des erweiterten Erwachsenwerdens: Das Ende des Studiums, die ersten Jobs, sich verfestigende Beziehungen, die Liebe und dann das Kind, ein neuer Job, Zusammenziehen mit dem Partner und ein Happy End — das ist das Gerüst des Romans. Aber das ist auch der weniger interessante Teil des Romans. Schnell wird aber klar — der Titel ist in dieser Hinsicht ja überdeutlich … -, dass etwas anderes das eigentliche Thema ist: Die Zeit, genauer vielleicht: ihre Wahrnehmung, oder die wahrgenommene Positionierung der Ich-Erzählerin in ihrem strömenden Fließen.
Zeit ist ohnehin eine Illusion. (140)
Das Erleben und vor allem das Erzählen der Zeit verbindet sich mit ähnlich abstrakten Konzepten wie Fortuna oder Zufall.
Denn die Verspätung — um die Zeitverschiebung etwas banaler zu verpassen — ist das zentrale Moment des Texte. Die chronologische Verspätung ist das eine, aber Verspätung ist eben auch ein Lebensgefühl (oder genauer: das Lebensgefühl einer Phase des Lebens): Das übermächtige Gefühl des Verpassens, des „zwischen“, „noch nicht“, und des immer schon zu spät sein, des Eindrucks, immer schon den Anfang verpasst zu haben … Aber selbst das happy end schlägt sich doch auch noch auf das Zeit(empfinden) — hier des eigenen, kleinen Kindes — nieder: „Und nimmt sich alle Zeit der Welt.“ (189) ist der Schlusssatz, der schön zum Anfangssatz passt: „Ich war ohnehin zu spät, konnte mir also Zeit lassen.“ (5)
Das Thema der Zeitverschiebung ist damit auf individueller Ebene sozusagen erledigt. Aber es wird eben deutlich (wie so oft in diesem Roman: überdeutlich), dass es in der nächsten Generation (wieder/noch) ein Thema sein kann. Allerdings, da schließt sich der Kreis nicht ganz: Noch ist das ein Kind, das “alle Zeit der Welt” hat. Vielleicht gelingt ihm/ihr (?) ja das Erwachsenwerden der Zeit(empfindung) gemäß den gesellschaftlichen Konventionen/Erwartungen parallel zum restlichen Erwachsenwerden? (Wobei Zeitverschiebung ja eigentlich eher die Frage aufwirft, ob man ohne dieses spezielle, d.h. “normale” Empfinden der Zeit, das Behagen darin, überhaupt erwachsen geworden ist — der Text verneint das eher und situiert seine Protagonistin ja mehr als deutlich in einem Zwischen, einem Übergangsstadium (klassisch: Pubertät), unabhängig von ihrem Alter.
Gerade der Anfang ist durchaus charmant erzählt, das muss man Schmidt attestieren, mit lässiger und heiterer Ironie-Distanz. Überhaupt ist die Sprache oft lakonisch, knapp und direkt mit Tendenz zum Humor. Es gibt wenig Ausschmückung, das hohe Tempo des Geschehens nimmt der Text gut auf: Die Zeit ist einfach nie genug, vor allem — so behauptet die Erzählerin immer wieder — lebt sie im Bewusstsein, sie zu verschwenden und hat permanent das Gefühl, die Zeit nicht genügend auszukosten, nicht ausreichend zu nutzen, immer nicht das Digentliche (des Lebens) zu tun, sondern nur einen Notbehelf, eine Zwischenlösung. Leider wird die Erzählung und die Sprache zunehmend konventioneller — sozusagen parallel zum Leben, dem Lebensentwurf der Erzählerin. Und damit verliert der Text leider meines Erachtens etwas: Sicher, das ist in Übereinstimmung mit der geschilderten Entwicklung. Aber es machte den Text für mich gegen Ende auch deutlich langweiliger.
Ich verschwendete mehr und mehr Zeit damit zu fürchten, meine Zeit ernsthaft zu verschwenden. (105)
Niemand ist das Alphabet einer seltsamen, schwierigen Vater-Tochter-Beziehung, die durch Abwesenheiten wesentlich mitbestimmt ist und von der Tochter nach dem Tod ihres Vaters erforscht und aufgeschrieben wird. Der wird uns als Melancholiker gezeigt, der auch daran stirbt (naja, eigentlich dann doch am Herzinfarkt), dessen Leben bestimmt ist vom Wahnsinn der Melancholie (?) und der sich immer wieder temporär in stationärer Behandlung befindet, zugleich aber (!) hoch angesehener Jura-Professor. Niemand nutzt für diesen nachträglichen Abschied den emotionalen, psychischen und literarischen Nachlass des Vater, aus dessen Schriften (teilweise auch fiktional gedacht) wird immer wieder zitiert. Denn zugleich ist der Roman auch ein Versuch des Erinnerns, mehr noch: der Vergegenwärtigung des Vaters durch die Auseinandersetzung, Aufarbeitung (Durcharbeitung) des Verhältnisses der Ich-Erzählerin mit ihm und ein Versuch, ihn — als Menschen, als Person — zu verstehen. Schwierig ist das insofern, als er schon während dem Leben verschwindet, (oder das zumindest als — in seinen Niederschriften offenbartes — Ziel hatte): eben ein Niemand werden, ein Mann ohne Eigenschaften.
Die Erzählerin verliert sich wunderbar in ihren eigenen Sätzen, häuft immer mehr Details und Erinnerungen an, türmt das auf, fügt immer neue Ergänzungen, Präzisierungen, Erweiterungen an. Die Sätze fangen oft ganz harmlos an und ufern dann maßlos aus. Aber das ist ja aber gerade der schöne und sympathische Witz des Textes: die ungetüme, wilde, chaotisch-fragmentarische Erinnerung wird nur durch das Alphabet der Kapitel gezähmt — zumindest scheinbar. Und letztlich bleibt der Versuch der Ordnung, ein kohärentes Ganzes dadurch zu schaffen (von Anfang bis Schluss in einer festgefügten Abfolge) auch vergeblich, eben nur ein Versuch, der im Text einmal als „Ordnung ohne Bedeutung“ klassifiziert wird (147). Aber sie ist wohl doch mehr: Denn die Buchstaben stehen ja nicht alleine, sondern werden in den Kapitelüberschriften zum Wort (mit Ausnahme des “Y”, wo die Ordnung dann eben auch reflektiert wird …).
„Nun gehen die Buchstaben aus, diese Ordnung ohne Bedeutung, mit deren Hilfe ich versucht habe, seine Unordnung und meine in den Griff zu bekommen, unsere Erinnerungen zu glätten und stammelnd dieses sehr alte Wissen zu buchstabieren, zu dem ich nicht durchgedrungen bin, als ob diese Wörter und Sätze, die unter dem Impuls und der Notwendigkeit einer anderern Ordnung, der seinigen – einer Aufforderung oder eines Versprechens (einen Roman daraus machen) –, hingeschrieben wurden, sogleich wieder in ihre ursprünglichen Bestandteile auseinanderfallen würden […] (147)
Simeliberg hatte mich ziemlich begeistert. Glanz und Schatten kann da leider nicht ganz mithalten. Vor allem die starke Konzentration und die fremde Härte, jeweils in Form und Sprache, von Simeliberg fehlt mir hier. Ganz oft weiß ich spontan (und später) überhaupt nicht, was die Texte wollen und/oder sollen, die Fremdheit ist und bleibt oft ziemlich groß: Irgendwie finde ich nicht zu dem Text. Dessen “Thema” könnte man oft nennen: die kalte, erbarmungslose Welt des (Spät-)Kapitalismus und des Konsums, die Zurichtungsmaschinen und ‑mechanismen der („freien“) Gesellschaft, wie sie sich vor allem in der Fremdbestimmung (statt Individualität) äußern — aber der Fremdbestimmung einer gesichtslosen, anonymen Macht. Das spielen die Texte mit dem Vorführen von Rollenbildern und ‑klischees, v.a. denen der Geschlechter, durch. Gewalt spielt dabei immer wieder eine außerordentlich Rolle: als Ventil, als Ausbruch aus den unentkommbaren Zwängen, als Umschlagen der Energien. Nico Bleutge hat in seiner Rezension des Bandes vorgeschlagen, die Texte als zum Vortrag bestimmte zu lesen — vielleicht ist das wirklich hilfreich, denn “alleine”, als blanker Text, finde ich nur in einigen wenigen (zum Beispiel dem intensiven “Studentin” oder “Mais”) genügend Faszination bei der Lektüre.
Eine geschichtswissenschaftliche Dissertation aus dem Jahr 1940 über ein Ereignis aus dem Jahr 1571 — lohnt die Lektüre eines solchen Textes heute noch? Durchaus, kann man sagen, wenn der Verfasser Format hatte. Und das muss man Felix Hartlaub bescheinigen. Deshalb ist Don Juan d’Austria und die Schlacht bei Lepanto tatsächlich auch noch interessant, als historische Darstellung eines historischen Ereignisses. Interessant ist auch die Form: Hartlaub arbeitet erzählend, er bringt (fast) keine Zitate und nutzt auch vergleichsweise wenige Quellen (und sowieso zur gedruckte): Als geschichtswissenschaftliche Qualifikationsschrift hätte das heute wohl keine Chance mehr. Auch als “Sachbuch” bin ich mir nicht ganz sicher, ob sich die Lektüre heute wirklich noch so unbedingt lohnt, wie die Herausgeber betonen … Sicher, die Stilisierung des sowieso schon zur Weltgeschichte hochstilisierten Ereignisses ist gekonnt umgesetzt. Aber viel mehr sehe ich da jetzt nicht unbedingt …
Die letzte Sinngebung des Tages von Lepanto gewann wir auch so noch nicht. An die Seite solcher Überlegungen muß wohl die Ahnung treten, daß der Tag von Lepanto zu den seltenen Ereignissen gehört, die, wenn man es so ausdrücken darf, auf einer höheren Ebene der Geschichte liegen und bei denen die Frage nach den tatsächlichen Folgen im letzten nicht angemessen ist. Nur materiell betrachtet, gehörte der Sieg freilich wohl zu den — im Verhältnis zu dem Erfolge — allzu verschwenderischen Blutopfern, an denen vor allem auch die deutsche Geschichte so reich ist. In dieser Hinsicht ist manche aus den unmittelbar folgenden Jahren erhaltene Äußerung aufschlußreich. Das ideal Bild der Schlacht aber, die noch überall, in den Galeeren im Hafen, in den Waffen und Narben gegenwärtig war, löste sich rasch aus dem Gefüge menschlicher Planungen; es war ganz in sich abgeschlossen, man konnte keinerlei Abwandlungen und Fortsetzungen ersinnen. (237)
außerdem gelesen:
- Axel Matthes: Georges Bataille nach Allem. Berlin: blauwerke 2016 (splitter 07). 66 Seiten. ISBN 978–3‑945002–07‑0.
- Günter de Bruyn: Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter. Eine Biographie. Überarbeitete und vermehrte Neufassung. Frankfurt: Fischer 2013. 350 Seiten. ISBN 9783100096449.
- Hans Jürgen von der Wense: Das Nordlicht. Herausgegeben von Valeska Bertoncini und Reiner Niehoff. Mit einem Beiwort von Valeska Bertoncini. Berlin: blauwerke 2016 (splitter 11). 58 Seiten. ISBN 9783945002117.
- Hans Jürgen von der Wense: Das lose Werk. Mappe Nr. 01: Wolken. Berlin: blauewerke 2016. ISBN 978–3‑945002–02‑5.
- Ruth Klüger: Marie von Ebner-Eschenbach. Anwältin der Unterdrückten. Wien: Mandelbaum 2016 (Autorinnen feiern Autorinnen). 56 Seiten. ISBN 9783854765219.
- Marlene Streeruwitz: Marlene Streeruwitz über Bertha von Suttner. Wien: Mandelbaum 2014 (Autorinnen feiern Autorinnen). 61 Seiten. ISBN 9783854764564.
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