Almut Tina Schmidt: Zeitver­schiebung. Graz, Wien: Droschl 2016. 189 Seit­en. ISBN 978–3‑85420–978‑2.

schmidt, zeitverschiebung (cover)Eigentlich ist Schmidts Zeitver­schiebung eine Geschichte des erweit­erten Erwach­sen­wer­dens: Das Ende des Studi­ums, die ersten Jobs, sich ver­fes­ti­gende Beziehun­gen, die Liebe und dann das Kind, ein neuer Job, Zusam­men­ziehen mit dem Part­ner und ein Hap­py End — das ist das Gerüst des Romans. Aber das ist auch der weniger inter­es­sante Teil des Romans. Schnell wird aber klar — der Titel ist in dieser Hin­sicht ja überdeut­lich … -, dass etwas anderes das eigentliche The­ma ist: Die Zeit, genauer vielle­icht: ihre Wahrnehmung, oder die wahrgenommene Posi­tion­ierung der Ich-Erzäh­lerin in ihrem strö­menden Fließen.

Zeit ist ohne­hin eine Illu­sion. (140)

Das Erleben und vor allem das Erzählen der Zeit verbindet sich mit ähn­lich abstrak­ten Konzepten wie For­tu­na oder Zufall.
Denn die Ver­spä­tung — um die Zeitver­schiebung etwas banaler zu ver­passen — ist das zen­trale Moment des Texte. Die chro­nol­o­gis­che Ver­spä­tung ist das eine, aber Ver­spä­tung ist eben auch ein Lebens­ge­fühl (oder genauer: das Lebens­ge­fühl ein­er Phase des Lebens): Das über­mächtige Gefühl des Ver­passens, des „zwis­chen“, „noch nicht“, und des immer schon zu spät sein, des Ein­drucks, immer schon den Anfang ver­passt zu haben … Aber selb­st das hap­py end schlägt sich doch auch noch auf das Zeit(empfinden) — hier des eige­nen, kleinen Kindes — nieder: „Und nimmt sich alle Zeit der Welt.“ (189) ist der Schlusssatz, der schön zum Anfangssatz passt: „Ich war ohne­hin zu spät, kon­nte mir also Zeit lassen.“ (5)

Das The­ma der Zeitver­schiebung ist damit auf indi­vidu­eller Ebene sozusagen erledigt. Aber es wird eben deut­lich (wie so oft in diesem Roman: überdeut­lich), dass es in der näch­sten Gen­er­a­tion (wieder/noch) ein The­ma sein kann. Allerd­ings, da schließt sich der Kreis nicht ganz: Noch ist das ein Kind, das “alle Zeit der Welt” hat. Vielle­icht gelingt ihm/ihr (?) ja das Erwach­sen­wer­den der Zeit(empfindung) gemäß den gesellschaftlichen Konventionen/Erwartungen par­al­lel zum restlichen Erwach­sen­wer­den? (Wobei Zeitver­schiebung ja eigentlich eher die Frage aufwirft, ob man ohne dieses spezielle, d.h. “nor­male” Empfind­en der Zeit, das Beha­gen darin, über­haupt erwach­sen gewor­den ist — der Text verneint das eher und situ­iert seine Pro­tag­o­nistin ja mehr als deut­lich in einem Zwis­chen, einem Über­gangssta­di­um (klas­sisch: Pubertät), unab­hängig von ihrem Alter.

Ger­ade der Anfang ist dur­chaus char­mant erzählt, das muss man Schmidt attestieren, mit läs­siger und heit­er­er Ironie-Dis­tanz. Über­haupt ist die Sprache oft lakonisch, knapp und direkt mit Ten­denz zum Humor. Es gibt wenig Auss­chmück­ung, das hohe Tem­po des Geschehens nimmt der Text gut auf: Die Zeit ist ein­fach nie genug, vor allem — so behauptet die Erzäh­lerin immer wieder — lebt sie im Bewusst­sein, sie zu ver­schwen­den und hat per­ma­nent das Gefühl, die Zeit nicht genü­gend auszukosten, nicht aus­re­ichend zu nutzen, immer nicht das Digentliche (des Lebens) zu tun, son­dern nur einen Not­be­helf, eine Zwis­chen­lö­sung. Lei­der wird die Erzäh­lung und die Sprache zunehmend kon­ven­tioneller — sozusagen par­al­lel zum Leben, dem Lebensen­twurf der Erzäh­lerin. Und damit ver­liert der Text lei­der meines Eracht­ens etwas: Sich­er, das ist in Übere­in­stim­mung mit der geschilderten Entwick­lung. Aber es machte den Text für mich gegen Ende auch deut­lich lang­weiliger.

Ich ver­schwen­dete mehr und mehr Zeit damit zu fürcht­en, meine Zeit ern­sthaft zu ver­schwen­den. (105)

Gwe­naëlle Aubry: Nie­mand. Graz, Wien: Droschl 2013. 150 Seit­en. ISBN 978–3‑85420–843‑3.

aubry, niemand (cover)Nie­mand ist das Alpha­bet ein­er selt­samen, schwieri­gen Vater-Tochter-Beziehung, die durch Abwe­sen­heit­en wesentlich mitbes­timmt ist und von der Tochter nach dem Tod ihres Vaters erforscht und aufgeschrieben wird. Der wird uns als Melan­cho­lik­er gezeigt, der auch daran stirbt (naja, eigentlich dann doch am Herz­in­farkt), dessen Leben bes­timmt ist vom Wahnsinn der Melan­cholie (?) und der sich immer wieder tem­porär in sta­tionär­er Behand­lung befind­et, zugle­ich aber (!) hoch ange­se­hen­er Jura-Pro­fes­sor. Nie­mand nutzt für diesen nachträglichen Abschied den emo­tionalen, psy­chis­chen und lit­er­arischen Nach­lass des Vater, aus dessen Schriften (teil­weise auch fik­tion­al gedacht) wird immer wieder zitiert. Denn zugle­ich ist der Roman auch ein Ver­such des Erin­nerns, mehr noch: der Verge­gen­wär­ti­gung des Vaters durch die Auseinan­der­set­zung, Aufar­beitung (Dur­char­beitung) des Ver­hält­niss­es der Ich-Erzäh­lerin mit ihm und ein Ver­such, ihn — als Men­schen, als Per­son — zu ver­ste­hen. Schwierig ist das insofern, als er schon während dem Leben ver­schwindet, (oder das zumin­d­est als — in seinen Nieder­schriften offen­bartes — Ziel hat­te): eben ein Nie­mand wer­den, ein Mann ohne Eigen­schaften.

Die Erzäh­lerin ver­liert sich wun­der­bar in ihren eige­nen Sätzen, häuft immer mehr Details und Erin­nerun­gen an, türmt das auf, fügt immer neue Ergänzun­gen, Präzisierun­gen, Erweiterun­gen an. Die Sätze fan­gen oft ganz harm­los an und ufern dann maß­los aus. Aber das ist ja aber ger­ade der schöne und sym­pa­this­che Witz des Textes: die ungetüme, wilde, chao­tisch-frag­men­tarische Erin­nerung wird nur durch das Alpha­bet der Kapi­tel gezähmt — zumin­d­est schein­bar. Und let­ztlich bleibt der Ver­such der Ord­nung, ein kohärentes Ganzes dadurch zu schaf­fen (von Anfang bis Schluss in ein­er fest­ge­fügten Abfolge) auch verge­blich, eben nur ein Ver­such, der im Text ein­mal als „Ord­nung ohne Bedeu­tung“ klas­si­fiziert wird (147). Aber sie ist wohl doch mehr: Denn die Buch­staben ste­hen ja nicht alleine, son­dern wer­den in den Kapitelüber­schriften zum Wort (mit Aus­nahme des “Y”, wo die Ord­nung dann eben auch reflek­tiert wird …).

„Nun gehen die Buch­staben aus, diese Ord­nung ohne Bedeu­tung, mit deren Hil­fe ich ver­sucht habe, seine Unord­nung und meine in den Griff zu bekom­men, unsere Erin­nerun­gen zu glät­ten und stam­mel­nd dieses sehr alte Wis­sen zu buch­sta­bieren, zu dem ich nicht durchge­drun­gen bin, als ob diese Wörter und Sätze, die unter dem Impuls und der Notwendigkeit ein­er ander­ern Ord­nung, der seini­gen – ein­er Auf­forderung oder eines Ver­sprechens (einen Roman daraus machen) –, hingeschrieben wur­den, sogle­ich wieder in ihre ursprünglichen Bestandteile auseinan­der­fall­en wür­den […] (147)

Michael Fehr: Glanz und Schat­ten. Erzäh­lun­gen. Luzern: Der gesunde Men­schen­ver­sand 2017. 141 Seit­en. ISBN 9783038530398.

fehr, glanz und schatten (cover)Sime­liberg hat­te mich ziem­lich begeis­tert. Glanz und Schat­ten kann da lei­der nicht ganz mithal­ten. Vor allem die starke Konzen­tra­tion und die fremde Härte, jew­eils in Form und Sprache, von Sime­liberg fehlt mir hier. Ganz oft weiß ich spon­tan (und später) über­haupt nicht, was die Texte wollen und/oder sollen, die Fremd­heit ist und bleibt oft ziem­lich groß: Irgend­wie finde ich nicht zu dem Text. Dessen “The­ma” kön­nte man oft nen­nen: die kalte, erbar­mungslose Welt des (Spät-)Kapitalismus und des Kon­sums, die Zurich­tungs­maschi­nen und ‑mech­a­nis­men der („freien“) Gesellschaft, wie sie sich vor allem in der Fremdbes­tim­mung (statt Indi­vid­u­al­ität) äußern — aber der Fremdbes­tim­mung ein­er gesicht­slosen, anony­men Macht. Das spie­len die Texte mit dem Vor­führen von Rol­len­bildern und ‑klis­chees, v.a. denen der Geschlechter, durch. Gewalt spielt dabei immer wieder eine außeror­dentlich Rolle: als Ven­til, als Aus­bruch aus den unen­tkomm­baren Zwän­gen, als Umschla­gen der Energien. Nico Bleutge hat in sein­er Rezen­sion des Ban­des vorgeschla­gen, die Texte als zum Vor­trag bes­timmte zu lesen — vielle­icht ist das wirk­lich hil­fre­ich, denn “alleine”, als blanker Text, finde ich nur in eini­gen weni­gen (zum Beispiel dem inten­siv­en “Stu­dentin” oder “Mais”) genü­gend Fasz­i­na­tion bei der Lek­türe.

Felix Hart­laub: Don Juan d’Aus­tria und die Schlacht bei Lep­an­to. Her­aus­gegeben von Wol­fram Pyta und Wolf­gang M. Schwiedrzik. Neckargemünd, Wien: Edi­tion Mnemosyne 2017 (Gegen­Satz 8). 292 Seit­en. ISBN 9783934012301.

felix hartlaub, don juan d'austria (cover)
Eine geschichtswis­senschaftliche Dis­ser­ta­tion aus dem Jahr 1940 über ein Ereig­nis aus dem Jahr 1571 — lohnt die Lek­türe eines solchen Textes heute noch? Dur­chaus, kann man sagen, wenn der Ver­fass­er For­mat hat­te. Und das muss man Felix Hart­laub bescheini­gen. Deshalb ist Don Juan d’Aus­tria und die Schlacht bei Lep­an­to tat­säch­lich auch noch inter­es­sant, als his­torische Darstel­lung eines his­torischen Ereigniss­es. Inter­es­sant ist auch die Form: Hart­laub arbeit­et erzäh­lend, er bringt (fast) keine Zitate und nutzt auch ver­gle­ich­sweise wenige Quellen (und sowieso zur gedruck­te): Als geschichtswis­senschaftliche Qual­i­fika­tion­ss­chrift hätte das heute wohl keine Chance mehr. Auch als “Sach­buch” bin ich mir nicht ganz sich­er, ob sich die Lek­türe heute wirk­lich noch so unbe­d­ingt lohnt, wie die Her­aus­ge­ber beto­nen … Sich­er, die Stil­isierung des sowieso schon zur Welt­geschichte hochstil­isierten Ereigniss­es ist gekon­nt umge­set­zt. Aber viel mehr sehe ich da jet­zt nicht unbe­d­ingt …

Die let­zte Sin­nge­bung des Tages von Lep­an­to gewann wir auch so noch nicht. An die Seite solch­er Über­legun­gen muß wohl die Ahnung treten, daß der Tag von Lep­an­to zu den sel­te­nen Ereignis­sen gehört, die, wenn man es so aus­drück­en darf, auf ein­er höheren Ebene der Geschichte liegen und bei denen die Frage nach den tat­säch­lichen Fol­gen im let­zten nicht angemessen ist. Nur materiell betra­chtet, gehörte der Sieg freilich wohl zu den — im Ver­hält­nis zu dem Erfolge — allzu ver­schwen­derischen Blu­topfern, an denen vor allem auch die deutsche Geschichte so reich ist. In dieser Hin­sicht ist manche aus den unmit­tel­bar fol­gen­den Jahren erhal­tene Äußerung auf­schlußre­ich. Das ide­al Bild der Schlacht aber, die noch über­all, in den Galeeren im Hafen, in den Waf­fen und Nar­ben gegen­wär­tig war, löste sich rasch aus dem Gefüge men­schlich­er Pla­nun­gen; es war ganz in sich abgeschlossen, man kon­nte kein­er­lei Abwand­lun­gen und Fort­set­zun­gen ersin­nen. (237)

außer­dem gele­sen:

  • Axel Matthes: Georges Bataille nach Allem. Berlin: blauw­erke 2016 (split­ter 07). 66 Seit­en. ISBN 978–3‑945002–07‑0.
  • Gün­ter de Bruyn: Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter. Eine Biogra­phie. Über­ar­beit­ete und ver­mehrte Neu­fas­sung. Frank­furt: Fis­ch­er 2013. 350 Seit­en. ISBN 9783100096449.
  • Hans Jür­gen von der Wense: Das Nordlicht. Her­aus­gegeben von Vales­ka Bertonci­ni und Rein­er Niehoff. Mit einem Bei­wort von Vales­ka Bertonci­ni. Berlin: blauw­erke 2016 (split­ter 11). 58 Seit­en. ISBN 9783945002117.
  • Hans Jür­gen von der Wense: Das lose Werk. Mappe Nr. 01: Wolken. Berlin: blauew­erke 2016. ISBN 978–3‑945002–02‑5.
  • Ruth Klüger: Marie von Ebn­er-Eschen­bach. Anwältin der Unter­drück­ten. Wien: Man­del­baum 2016 (Autorin­nen feiern Autorin­nen). 56 Seit­en. ISBN 9783854765219.
  • Mar­lene Streeruwitz: Mar­lene Streeruwitz über Bertha von Sut­tner. Wien: Man­del­baum 2014 (Autorin­nen feiern Autorin­nen). 61 Seit­en. ISBN 9783854764564.