Jochen Beyses Rebellion ist wieder ein verschlungenes Spiel inmitten eines Auflösungs- und Erkenntnisprozess. Der Erzähler, der sich hier in einem bruchstückhaften Wahrnehmungsstrom äußert, taumelt zwischen Apparaten, Realität, Literatur und Einbildung. Durch reichhaltigen Medien- und Alkoholkonsum wird das Verwirr- oder Vexierspiel noch angeheizt. Nur langsam kristallisiert sich heraus, was erzählt wird — die Erlebnisse einer Nacht in Algier, die der Erzähler aber zugleich in Kairo verbringt: Dort ist nämlich, rund um den Tahrir-Platz zur Zeit der ägyptischen Revolution, der von ihm gespielte Egoshooter “Tod in Kairo” angesiedelt. Das vermischt sich dann noch mit weiteren Nachrichten, der Einnerung an Camus’ “Der Fremde” und diversen Paranoien und hyperbolisierten Stereotypen, bis völlig unklar ist, was echt ist und was Spiel, was Nachricht, was Information, was Erleben, was Fiktion. Phantasie, Delirium, Wirklichkeit sind so hoffnungslos durcheinander geraten und in einander verzwirbelt, dass die Zugehörigkeit des Erlebens und Erzählens zu einem der Reiche höchstens momentan, phasenweise gelingt.
Ich habe auch nie geglaubt, dass das Lebensziel erreicht ist, wenn Spiel und Wirklichkeit eins geworden sind. (104)
- und doch geht es in Rebellion ja gerade ganz spannend um diese Grenze und ihre Übergänge.
Michael Serres hat über die Gegenwart nachgedacht — was eigentlich mit dem, was wir so einfach “Vernetzung” oder ähnlich nennen, gemeint ist und was hier passiert. Der Übergang zur Netz-Generation (oder so ähnlich) ist für ihn ein ähnlich entscheidender und bedeutender Schritt wie die Schwelle zur Schrift in der Antike und zum Buch in der Renaissance — ein Übergang, der (noch) nicht ausreichend in seinen Konsequenzen — unter anderem für das Bild des Menschen — gewürdigt wird. Dazu gehört auch die Folgerung für die Pädagogik: nicht Wissen erzählen kann mehr ihr Zweck sein, sie soll/darf, so Serres, die neue Kompetenzvermutung an die Stelle der Inkompetenzanmaßung (wie in den letzten jahrhunderten) setzen — denn das Wissen, das früher mühsam vermittelt und bewahrt werden musste, ist heute ja mit einem Fingertip verfügbar.
Er nutzt dafür in seinem stilistisch beeindruckendem Essay (mir haben die harten, klaren Sätze, die fast eine lange Reihe von Thesen sind, sehr viel Vergnügen bereitet) das Bild des Kleinen Däumlings/Däumelinchen: Das sind — durchaus mit Emphase gedacht — neue Menschen, die über neue Körper-/Raum-/Zeit-/Lebenserfahrungen verfügen und deshalb etwa auch eine neue Moral nötig haben. Und notwendig ist in diesem Moment der Wende, des Übergangs: neue/gewandelte Institutionen (wie Schule, Universität, Arbeit, Klinik …): wie längst gestorbene Sterne strahlen sie in ihrer alten Form noch, obwohl sie ebenfalls schon tot sind, was sich in der permanenten Unruhe, dem Geraune & Geschwätze dort, wo sie noch anzutreffen sind, manifestiert.
Wie schön wäre es doch, wenn ein paar mehr von den Menschen, die gerade halb so alt wie Serres (Jahrgang 1930!) sind, ähnlich viel von dem gerade geschehenden Wandel der Welt und der Menschen begriffen hätten — und mit entsprechender Liebe reagieren würden. Wunderbar etwa, wie er Facebook (als Symptom) verteidigt — gerade im Vergleich mit anderen Kollektivierungen wie Nation, Klasse etc. — und ihrem Blutzoll, der jetzt (zunächst mal) mit den virtuellen Vernetzungen und Kollektivierungen wegfällt …
Der originale französische Titel ist fast noch besser: “Petite Poucette” — da schwingt mehr von der Begeisterung, der Emphase, Liebe und zärtlicher Hinwendung und auch dem Spiel, das den Essay durchzieht, mit. Das Imperative des deutschen Titels findet sich im Text gar nicht so sehr, suggeriert also eine ganz falsche Richtung — denn die Neu-Erfindung geschieht ja bereits, nur die Anpassung des/der System(e) — und der „älteren“ Generation — lässt noch zu wünschen übrig. (Typisch übrigens, dass genau das bei den Rezensenten zu beobachten ist: Wenn man der Zusammenfassung beim Perlentaucher glauben darf, störte die vor allem die Begeisterung Serres von den Möglichkeiten, die sich eröffnen, und sie monieren, dass er die negativen Folgen nicht ausreichend reflektiere …)
matthias mader (@matthias_mader)
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