[Kall] ist ein literarischer Ort geworden. Aber was spielt der reale Ort schon für eine Rolle? Die Menschen sterben, die Häuser werden abgerissen, die Flüsse umgeleitet, das einzige, was bleibt, ist die Geschichte. Norbert Scheuer
Schlagwort: fiktion
Ins Netz gegangen am 24.1.:
- Knausgård ist gut, aber Handke ist besser | FAZ → ein kluger beitrag von jan wiele zur “authentizitätsdebatte”, die vor allem die “welt” (vollkommen unsinniger weise …) losgetreten hat
enn man irgendetwas aus den Debatten über realistisches Erzählen der letzten Jahrzehnte mitgenommen hätte, müsste man eigentlich misstrauisch werden angesichts einer solchen Scheinwirklichkeitsprosa, die so tut, also könne man einfach „erzählen, wie es gewesen ist“ — und das gilt eben nicht nur für Knausgård, sondern allgemein.
[…] Es wirkt — nicht nur aus einer historisch-kritischen Haltung heraus, sondern auch für das persönliche Empfinden von literarischen Texten — befremdlich, wenn nun hinter all die ästhetischen Überlegungen zum realistischen Erzählen, vor allem aber hinter die Werke, die aus ihnen heraus entstanden sind, wieder zurückgegangen werden soll und man so tut, als gäbe es irgendein unschuldiges, authentisch-nichtfiktionales Erzählen. - Gemeinnützigkeit als Türöffner | BildungsRadar → der “bildungsradar” versucht herauszubekommen, wie das ganze projekt “calliope” funktioniert bzw. funktionieren soll — und stößt auf viele mauern und einige seltsame mauscheleien …
- Die Mode der Philosophen — Wie sich große Denker kleiden | Deutschlandradio Kultur → nette kleine geschichte über die typgemäße kleidung für philosophen (frauen gibt’s zum schluss auch kurz)
- Donald Trump: Populismus als Politik | Telepolis → der wie meist kluge georg seeßlen im interview mit dominik irtenkauf über trump, demokratie/postdemokratie und medial inszenierungen:
Gegen ein Bündnis aus mehr oder weniger authentisch Rechtsextremen, Neo-Nationalisten und Exzeptionalisten, fundamentalistischen Markt-Anarchisten, mafiös vernetzten Kleptokraten und einem Mittelstand in realer und manipulierter Abstiegsangst kann eine demokratische Zivilgesellschaft nur bestehen, wenn sie neue Ideen und neuen Zusammenhalt findet. Der Zusammenschluss der postdemokratischen Kräfte hingegen findet seine Schubkraft dagegen vor allem im Opportunismus und in der politischen und medialen Korruption.
[…] Schon jetzt gibt es irreversible Folgen des Trumpismus, eben jene Vermischung von politischem Amt und ökonomischen Interessen, die einst den Berlusconismus prägte, den Wandel der politischen Sprache, eine Spaltung der Gesellschaft, die über alle gewöhnlichen “politischen Meinungsverschiedenheiten” hinaus geht, eine Patronage, Clanwirtschaft, Abhängigkeitsnetze: Wir sehen einem Machtsystem bei der Entstehung zu, das viel tiefer geht als die Besetzung eines Amtes. Und wie bei Berlusconi lässt sich nach dem Ende der Amtszeit nur ein Teil davon demokratisch rückgewinnen.
Jochen Beyses Rebellion ist wieder ein verschlungenes Spiel inmitten eines Auflösungs- und Erkenntnisprozess. Der Erzähler, der sich hier in einem bruchstückhaften Wahrnehmungsstrom äußert, taumelt zwischen Apparaten, Realität, Literatur und Einbildung. Durch reichhaltigen Medien- und Alkoholkonsum wird das Verwirr- oder Vexierspiel noch angeheizt. Nur langsam kristallisiert sich heraus, was erzählt wird — die Erlebnisse einer Nacht in Algier, die der Erzähler aber zugleich in Kairo verbringt: Dort ist nämlich, rund um den Tahrir-Platz zur Zeit der ägyptischen Revolution, der von ihm gespielte Egoshooter “Tod in Kairo” angesiedelt. Das vermischt sich dann noch mit weiteren Nachrichten, der Einnerung an Camus’ “Der Fremde” und diversen Paranoien und hyperbolisierten Stereotypen, bis völlig unklar ist, was echt ist und was Spiel, was Nachricht, was Information, was Erleben, was Fiktion. Phantasie, Delirium, Wirklichkeit sind so hoffnungslos durcheinander geraten und in einander verzwirbelt, dass die Zugehörigkeit des Erlebens und Erzählens zu einem der Reiche höchstens momentan, phasenweise gelingt.
Ich habe auch nie geglaubt, dass das Lebensziel erreicht ist, wenn Spiel und Wirklichkeit eins geworden sind. (104)
- und doch geht es in Rebellion ja gerade ganz spannend um diese Grenze und ihre Übergänge.
Michael Serres hat über die Gegenwart nachgedacht — was eigentlich mit dem, was wir so einfach “Vernetzung” oder ähnlich nennen, gemeint ist und was hier passiert. Der Übergang zur Netz-Generation (oder so ähnlich) ist für ihn ein ähnlich entscheidender und bedeutender Schritt wie die Schwelle zur Schrift in der Antike und zum Buch in der Renaissance — ein Übergang, der (noch) nicht ausreichend in seinen Konsequenzen — unter anderem für das Bild des Menschen — gewürdigt wird. Dazu gehört auch die Folgerung für die Pädagogik: nicht Wissen erzählen kann mehr ihr Zweck sein, sie soll/darf, so Serres, die neue Kompetenzvermutung an die Stelle der Inkompetenzanmaßung (wie in den letzten jahrhunderten) setzen — denn das Wissen, das früher mühsam vermittelt und bewahrt werden musste, ist heute ja mit einem Fingertip verfügbar.
Er nutzt dafür in seinem stilistisch beeindruckendem Essay (mir haben die harten, klaren Sätze, die fast eine lange Reihe von Thesen sind, sehr viel Vergnügen bereitet) das Bild des Kleinen Däumlings/Däumelinchen: Das sind — durchaus mit Emphase gedacht — neue Menschen, die über neue Körper-/Raum-/Zeit-/Lebenserfahrungen verfügen und deshalb etwa auch eine neue Moral nötig haben. Und notwendig ist in diesem Moment der Wende, des Übergangs: neue/gewandelte Institutionen (wie Schule, Universität, Arbeit, Klinik …): wie längst gestorbene Sterne strahlen sie in ihrer alten Form noch, obwohl sie ebenfalls schon tot sind, was sich in der permanenten Unruhe, dem Geraune & Geschwätze dort, wo sie noch anzutreffen sind, manifestiert.
Wie schön wäre es doch, wenn ein paar mehr von den Menschen, die gerade halb so alt wie Serres (Jahrgang 1930!) sind, ähnlich viel von dem gerade geschehenden Wandel der Welt und der Menschen begriffen hätten — und mit entsprechender Liebe reagieren würden. Wunderbar etwa, wie er Facebook (als Symptom) verteidigt — gerade im Vergleich mit anderen Kollektivierungen wie Nation, Klasse etc. — und ihrem Blutzoll, der jetzt (zunächst mal) mit den virtuellen Vernetzungen und Kollektivierungen wegfällt …
Der originale französische Titel ist fast noch besser: “Petite Poucette” — da schwingt mehr von der Begeisterung, der Emphase, Liebe und zärtlicher Hinwendung und auch dem Spiel, das den Essay durchzieht, mit. Das Imperative des deutschen Titels findet sich im Text gar nicht so sehr, suggeriert also eine ganz falsche Richtung — denn die Neu-Erfindung geschieht ja bereits, nur die Anpassung des/der System(e) — und der „älteren“ Generation — lässt noch zu wünschen übrig. (Typisch übrigens, dass genau das bei den Rezensenten zu beobachten ist: Wenn man der Zusammenfassung beim Perlentaucher glauben darf, störte die vor allem die Begeisterung Serres von den Möglichkeiten, die sich eröffnen, und sie monieren, dass er die negativen Folgen nicht ausreichend reflektiere …)
Ins Netz gegangen (25.5. — 27.5.):
- 08. Michon und die Faktizität des Fiktionalen | Geschichte wird gemacht — Achim Landwehr denkt über die Faktizität des Fiktionalen nach — und über das “Problem” der Trennung dieser beiden Bereiche:
Die Wahrheit der Fiktion ist absolut. Ein solcher Grad an Wirklichkeitsverdichtung lässt sich nicht einmal in der totalitärsten aller Diktaturen erreichen. … Die Frage danach, wer oder was denn nun Geschichte macht, lässt sich erwartungsgemäß auch nicht mit Blick auf die Fiktion letztgültig beantworten. Aber wie auch immer die Antwort ausfallen sollte, die fiktiven Geschichten und Figuren dürfen dabei nicht vergessen werden.
Interessant wird es dann, wenn die unterschiedlichen Sphären der Wirklichkeit, die faktischen und die fiktionalen, miteinander in Kontakt treten und sich überschneiden. Denn die Fiktionen sind beständig dabei, unsere Wirklichkeit zu verändern und zu infizieren: Nicht nur kommt die nicht-fiktionale Welt in der fiktionalen vor, ebenso werden fiktionale Deutungsangebote in unsere außerfiktionalen Lebens- und Weltentwürfe importiert.
- Liebe in Wagners Opern: Was weiß Brünnhilde? | ZEIT ONLINE — Slavoj Zizek zu Wagners Opern, mit einer interessanten Theorie (bei der ich mir nicht sicher bin, ob sie nicht doch einiges zu viel außen vor lässt, um stimmig sein zu können …):
So paradox dies klingen mag, sollte man folglich die übliche Sichtweise, beim Ring handle es sich um ein Epos des heroischen Heidentums (da seine Götter nordisch-heidnische sind), während der Parsifal für Wagners Christianisierung stünde, für seinen Kniefall vorm Kreuz (um mit Nietzsche zu sprechen), umkehren: Es ist vielmehr der Ring, in dem Wagner dem christlichen Glauben am nächsten kommt, während Parsifal, höchst unchristlich, eine obszöne Rückübersetzung des Christentums in das heidnische Ritual einer zyklischen Erneuerung der Fruchtbarkeit durch die Wiedererlangung des Königs inszeniert. Oft wird der – vielleicht ja allzu offensichtliche – Umstand übersehen, dass Wagners Ring das ultimative paulinische Kunstwerk darstellt: Sein zentrales Thema ist das Scheitern der Herrschaft des Gesetzes; und die Verlagerung, die die innere Spannweite des Rings am besten zum Ausdruck bringt, ist die Verlagerung vom Gesetz auf die Liebe.
Gegen Ende der Götterdämmerung geschieht mithin Folgendes: Wagner überwindet seine eigene, “heidnisch”-feuerbachsche Ideologie der (hetero-)sexuellen Paaresliebe als des Paradigmas der Liebe. Brünnhildes letzte Verwandlung ist die von Eros zu Agape, von der erotischen Liebe zur politischen Liebe. Der Eros kann das Gesetz nicht wirklich überwinden: Er kann lediglich in punktueller Heftigkeit entflammen, als die momentane Überschreitung des Gesetzes, Siegmunds und Sieglindes Feuer gleich, das sich sofort selbst verzehrt. Agape hingegen ist das, was bleibt, nachdem wir die Konsequenzen aus dem Scheitern des Eros gezogen haben.
SN: Das klingt doch nach Idylle.
Handke: Es ist keine Idylle. Es gibt keine Idyllen in dieser Welt. Nirgendwo. Ein Idylle ist ein Gefühl von Menschen, das ist alles Täuschung.SN: Und man kann sich auch keine Idylle schaffen – so mit Haus und Garten?
Handke: Nein. Nie hat’s Idylle gegeben. Nie. Es gibt vielleicht Atemräume für einen Moment. Und es ist vielleicht ein Vorteil, einen Garten zu haben, um dort lesen zu können. Aber es hat nichts mit Idylle zu tun. Der Garten kann Ort es größten Dramas sein oder des schönsten Dramas. Vielleicht gibt’s solche Momente, wenn der Wind durch die Kastanien geht. Aber Idylle ist das nicht. Vielleicht ein Aufatmen und dann denkt man: Jetzt ist jetzt. Das ist ja eine Gabe, das sagen zu können.