Jochen Bey­se: Rebel­li­on. Zwi­schen­be­richt. Zürich, Ber­lin: Dia­pha­nes 2013. 166 Sei­ten.

Jochen Bey­ses Rebel­li­on ist wie­der ein ver­schlun­ge­nes Spiel inmit­ten eines Auf­lö­sungs- und Erkennt­nis­pro­zess. Der Erzäh­ler, der sich hier in einem bruch­stück­haf­ten Wahr­neh­mungs­strom äußert, tau­melt zwi­schen Appa­ra­ten, Rea­li­tät, Lite­ra­tur und Ein­bil­dung. Durch reich­hal­ti­gen Medi­en- und Alko­hol­kon­sum wird das Ver­wirr- oder Vexier­spiel noch ange­heizt. Nur lang­sam kris­tal­li­siert sich her­aus, was erzählt wird – die Erleb­nis­se einer Nacht in Algier, die der Erzäh­ler aber zugleich in Kai­ro ver­bringt: Dort ist näm­lich, rund um den Tah­r­ir-Platz zur Zeit der ägyp­ti­schen Revo­lu­ti­on, der von ihm gespiel­te Ego­shoo­ter „Tod in Kai­ro“ ange­sie­delt. Das ver­mischt sich dann noch mit wei­te­ren Nach­rich­ten, der Ein­ne­rung an Camus‘ „Der Frem­de“ und diver­sen Para­noi­en und hyper­bo­li­sier­ten Ste­reo­ty­pen, bis völ­lig unklar ist, was echt ist und was Spiel, was Nach­richt, was Infor­ma­ti­on, was Erle­ben, was Fik­ti­on. Phan­ta­sie, Deli­ri­um, Wirk­lich­keit sind so hoff­nungs­los durch­ein­an­der gera­ten und in ein­an­der verz­wir­belt, dass die Zuge­hö­rig­keit des Erle­bens und Erzäh­lens zu einem der Rei­che höchs­tens momen­tan, pha­sen­wei­se gelingt.

Ich habe auch nie geglaubt, dass das Lebens­ziel erreicht ist, wenn Spiel und Wirk­lich­keit eins gewor­den sind. (104)

- und doch geht es in Rebel­li­on ja gera­de ganz span­nend um die­se Gren­ze und ihre Über­gän­ge.

Micha­el Ser­res: Erfin­det euch neu!. Eine Lie­bes­er­klä­rung an die ver­netz­te Gene­ra­ti­on. Ber­lin: Suhr­kamp 2013. 77 Sei­ten.

Micha­el Ser­res hat über die Gegen­wart nach­ge­dacht – was eigent­lich mit dem, was wir so ein­fach „Ver­net­zung“ oder ähn­lich nen­nen, gemeint ist und was hier pas­siert. Der Über­gang zur Netz-Gene­ra­ti­on (oder so ähn­lich) ist für ihn ein ähn­lich ent­schei­den­der und bedeu­ten­der Schritt wie die Schwel­le zur Schrift in der Anti­ke und zum Buch in der Renais­sance – ein Über­gang, der (noch) nicht aus­rei­chend in sei­nen Kon­se­quen­zen – unter ande­rem für das Bild des Men­schen – gewür­digt wird. Dazu gehört auch die Fol­ge­rung für die Päd­ago­gik: nicht Wis­sen erzäh­len kann mehr ihr Zweck sein, sie soll/​darf, so Ser­res, die neue Kom­pe­tenz­ver­mu­tung an die Stel­le der Inkom­pe­tenz­an­ma­ßung (wie in den letz­ten jahr­hun­der­ten) set­zen – denn das Wis­sen, das frü­her müh­sam ver­mit­telt und bewahrt wer­den muss­te, ist heu­te ja mit einem Fin­ger­tip ver­füg­bar.

Er nutzt dafür in sei­nem sti­lis­tisch beein­dru­cken­dem Essay (mir haben die har­ten, kla­ren Sät­ze, die fast eine lan­ge Rei­he von The­sen sind, sehr viel Ver­gnü­gen berei­tet) das Bild des Klei­nen Däumlings/​Däumelinchen: Das sind – durch­aus mit Empha­se gedacht – neue Men­schen, die über neue Kör­per-/Raum-/Zeit-/Le­bens­er­fah­run­gen ver­fü­gen und des­halb etwa auch eine neue Moral nötig haben. Und not­wen­dig ist in die­sem Moment der Wen­de, des Über­gangs: neue/​gewandelte Insti­tu­tio­nen (wie Schu­le, Uni­ver­si­tät, Arbeit, Kli­nik …): wie längst gestor­be­ne Ster­ne strah­len sie in ihrer alten Form noch, obwohl sie eben­falls schon tot sind, was sich in der per­ma­nen­ten Unru­he, dem Gerau­ne & Geschwät­ze dort, wo sie noch anzu­tref­fen sind, mani­fes­tiert.

Wie schön wäre es doch, wenn ein paar mehr von den Men­schen, die gera­de halb so alt wie Ser­res (Jahr­gang 1930!) sind, ähn­lich viel von dem gera­de gesche­hen­den Wan­del der Welt und der Men­schen begrif­fen hät­ten – und mit ent­spre­chen­der Lie­be reagie­ren wür­den. Wun­der­bar etwa, wie er Face­book (als Sym­ptom) ver­tei­digt – gera­de im Ver­gleich mit ande­ren Kol­lek­ti­vie­run­gen wie Nati­on, Klas­se etc. – und ihrem Blut­zoll, der jetzt (zunächst mal) mit den vir­tu­el­len Ver­net­zun­gen und Kol­lek­ti­vie­run­gen weg­fällt …

Der ori­gi­na­le fran­zö­si­sche Titel ist fast noch bes­ser: „Peti­te Pou­cet­te“ – da schwingt mehr von der Begeis­te­rung, der Empha­se, Lie­be und zärt­li­cher Hin­wen­dung und auch dem Spiel, das den Essay durch­zieht, mit. Das Impe­ra­ti­ve des deut­schen Titels fin­det sich im Text gar nicht so sehr, sug­ge­riert also eine ganz fal­sche Rich­tung – denn die Neu-Erfin­dung geschieht ja bereits, nur die Anpas­sung des/​der System(e) – und der „älte­ren“ Gene­ra­ti­on – lässt noch zu wün­schen übrig. (Typisch übri­gens, dass genau das bei den Rezen­sen­ten zu beob­ach­ten ist: Wenn man der Zusam­men­fas­sung beim Per­len­tau­cher glau­ben darf, stör­te die vor allem die Begeis­te­rung Ser­res von den Mög­lich­kei­ten, die sich eröff­nen, und sie monie­ren, dass er die nega­ti­ven Fol­gen nicht aus­rei­chend reflek­tie­re …)