Nein, das Wan­dern ist­wirk­lich nicht nur des Müllers Lust. Auch Ulrich Grober hat wahnsin­nig viel Lust am Wan­dern und beim Wan­dern. So viel, dass er ein Buch darüber geschrieben hat: “Vom Wan­dern” heißt das ganz unauf­fäl­lig. Und der Unter­ti­tel ver­heißt noch dazu “Neue Wege zu ein­er alten Kun­st” — da kann man geteil­ter Mei­n­ung sein.1 Aber zunächst ein­mal muss ich fes­thal­ten: Ulrich Grober ist ein wun­der­bares Buch gelun­gen. Das haben auch andere Leser schon fest­gestellt. Und ich kann mich da wirk­lich nur anschließen.

Warum ist das so gut? Nun, Grober berichtet zwar — wie viele vor und nach ihm — auch von seinen Erleb­nis­sen auf seinen Wan­derun­gen. Aber das Wie ist entschei­dend. Denn die eigentliche Wan­derung ist oft genug gar nicht so wichtig. Es geht nie darum, von einem Ort zum anderen, vom Start zum Ziel zu kom­men. Son­dern immer um das, was dazwis­chen ist und passiert. Das meint nicht nur die allzu plat­te Erken­nt­nis, dass der Weg das Ziel sei. Nein, bei Grober ist auch der Weg nicht das Ziel. Zumin­d­est hier nicht. Hier geht es darum, was mit dem Indi­vidu­um des Wan­der­ers beim Wan­dern, in der Bewe­gung durch Raum und Zeit, passiert. Da sind auch gle­ich noch zwei ganz wichtige Stich­worte gefall­en: Raum und Zeit. Dafür hat Grober ein beson­deren Spürsinn. Raum, das ist die Land­schaft, durch die die jew­eilige Wan­derung (fast immer ist er übri­gens als Solitär unter­wegs) ihn führt. Die wird nicht nur anhand ihrer ober­fläch­lichen Beschaf­fen­heit beschieben, son­dern — so kön­nte man etas empathisch sagn — in ihrem Wesen und ihrer prä­gen­den Kraft erkan­nt. Genau diese Tat­sache, dass Grober den ver­schiede­nen Land­schaften, Natur­räu­men, Umge­bun­gen ein Wesen, einen Charak­ter zuschreibt, ist das Entschei­dende. Und ähn­lich ist es mit der Zeit: Grober ist ein Fla­neur unter den Wan­der­ern. Eben weil es ihm nicht auf den Weg, son­dern auf das Erleben ankommt. Und vor dem Erleben ste­ht das Wahrnehmen. Weil Grober viel weiß und viel ken­nt (zumin­d­est im Buch …) nimmt er viel wahr: Naturkundlich­es, His­torisches, Meterol­o­gis­ches, Geol­o­gis­ches, Botanis­ches …

Das alles schreibt er nieder als eine Mis­chung aus Natur, Zivil­i­sa­tion, Geschichte und Kul­tur der jew­eili­gen Wan­derung. Und er bleibt dabei sym­pa­thisch unaufgeregt: Das sind keineswegs “beson­dere” Wan­derun­gen, keine ungewöhn­lichen, aus­ge­fal­l­enen Wege oder Streck­en, die er geht — son­dern ganz nor­male Wege in Deutsch­land (und ein­mal über die Alpen nach Ital­ien). Wan­dern ohne sportliche oder ähn­liche Ambi­tio­nen also. Dafür aber eben mit ganz viel Zeit und vor allem ganz viel Aufmerk­samkeit für sich selb­st und die Umge­bung, für das Erleben auf  allen Ebe­nen: Mikro‑, Meso- und Makroebene wech­seln immer wieder. Die Aufmerk­samkeit ist aber nicht nur auf die Umge­bung, ihre Eigen­heit­en und ihre Verän­derun­gen, gerichtet, son­dern auch auf das Wan­dern selb­st, auf die Bewe­gung von Kör­p­er und Geist. Das ist auch wieder so eine Verbindung, die typ­isch für Grober ist: Das Wan­dern bet­rift nicht nur den Kör­p­er, der sich bewegt, son­dern in min­destens genau­so starkem Maße auch den Geist, der angeregt wird.

Dafür gibt es auf diese mehr als 300 Seit­en unzäh­lige Beispiele. Denn die gewan­derten Routen sind hier nicht nur Wegbeschrei­bun­gen,2 son­dern Erfahrungs- und Erleb­nis­berichte, eine Auto­bi­ogra­phie eines Wan­der­ers in Auss­chnit­ten. Dazwis­chen streut Grober dann noch einige Wis­sens-Exkurse ein — von der Aus­rüs­tung über kul­turgeschichtliche Abschwei­fun­gen und Sondierun­gen bis zu ökol­o­gis­chen und gesund­heitlichen Aspek­ten des Wan­derns. Immer wieder taucht aber leit­mo­tivisch nicht nur die pos­i­tive Wirkung des Wan­derns im All­ge­meinen, son­dern vor allem die Frei­heit des Wan­der­ers in Raum (Grober bleibt nicht immer auf vorgegebe­nen Wegen) und Zeit (auch an seine eigene Pla­nung hält er sich nicht unbe­d­ingt immer) auf — bis hin zum let­zten Satz: “Der Weg ist frei.” (315)

Ulrich Grober: Vom Wan­dern. Neue Wege zu ein­er alten Kun­st. Frank­furt am Main: Zweitausendeins 2010 (2006). 343 Seit­en. ISBN 9783861508441/9783861507727

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  1. Vor allem, was das Wan­dern als “Kun­st” bet­rifft. Aber auch die Ver­heißung “neuer Wege” ist eigentlich irreführend: Denn beson­ders neu im Sinne von inno­v­a­tiv ist das alles nicht unbe­d­ingt. Eher neu im Sinne ein­er (Rück-)Besinnung.
  2. Das sind sie sog­ar im eigentlichen Text über­haupt nicht — dafür gibt es aber einen Anhang mit vie­len Infor­ma­tio­nen, der auch die Zitate, die der bil­dungs­be­flis­sene Grober immer wieder ein­streut, nach­weist.