Schade: Nach nicht einmal einer halben Stunde ist das Vergnügen schon wieder vorbei. Oder es beginnt von vorne. Denn Illuminate von OnAir, die dritte CD der jungen Berliner Gruppe, möchte man eigentlich gerne sofort noch einmal hören. In den sechs Songs dreht es sich immer wieder um das Licht, das physische Licht der Sterne und das metaphorische der Erleuchtung. Schon der Beginn – eine der beiden Originalkompositionen neben vier Coversongs – setzt die Erleuchtung leicht und unbeschwert in einer eingängigen Hymne in Töne. Klar, das ist keine große Kunst — aber herrlich-perfekte Gute-Laune-Musik mit gut durchdachtem Arrangement und genau ausbalanciertem Klang.
Auch der Rest bleibt auf allerhöchstem Niveau. Denn so viel wird ganz schnell klar (viel Zeit ist ja auch nicht): die Präzision, mit der OnAir durch die Pop- und A‑cappella-Geschichte hüpfen, ist großartig. Noch besser ist aber, wie sie die komplexen und ausgefeilten Arrangements singen können: Das klingt stets locker, oft unbeschwert und vor allem immer musikalisch zwingend.
So kann man in „Sonne“, dem Rammstein-Cover, den schwachen Text leicht vergessen und stattdessen lieber den feinen Arrangement-Ideen nachhören. Wie OnAir die Sonne zwischen dumpf-dröhnendem Bass und Vocal Percussion im instrumental klingenden Satz und den darüber schwebenden melodischen Elementen, vorwiegend der beiden Frauen, aufscheinen lässt — das ist klasse.
„Stairway to Heaven“ beginnt dagegen sehr oldiemäßig, mit zeitgemäßem Rauschen und leichter Verzerrung — wunderbar, wie OnAir das in sein Arrangement einbaut und in eine großartige Steigerung zu einem energetisch pulsierenden Finale überführt. Überhaupt ist auf „Illuminate“ sehr bemerkenswert, wie sie jeden Song entwickeln, ihm ein eigenes Profil und einen neuen Klang geben. Da klingt wirklich jeder Song anders — anders als der vorangehende, aber auch anders als die Vorlage. Herbert Grönemeyers “Der Weg” zeigt das mit seinem zurückgenommenen, zerbrechlichem Arrangement ganz typisch: Hier klingen OnAir wohl am klassischsten, sehr offen und verletzlich. Und immer wieder hört man neue Details, die jede Strophe und jeden Refrain anders klingen lassen.
Dem Sextett gelingt es überhaupt scheinbar mühelos, auf knappem Raum sechs ganz verschiedene Klangbilder zu schaffen. Das verdankt OnAir nicht nur ihren Stimmkehlen, sondern auch dem gefühlvollen Einsatz der Tontechnik — auf der sehr abwechslungsreich klingenden CD macht sich wohl auch die Erfahrung von Bill Hare bemerkbar. Illuminate ist von der ersten bis zur letzten perfekten Note schimmernder und funkelnder Vocal-Pop, weil OnAir sowohl den druckvollen Breitwandsound (wie im abschließenden “Illuminated”) als auch den zarten Klang der kammermusikalisch gesetzten Ballade vollendet beherrscht. Nach den 25 Minuten kann man nur sagen: Das hat wirklich etwas von Erleuchtung.
OnAir: Illuminate. Heart of Berlin 2016. Spielzeit: 24:56.
Are you man enough for birth control? | NewStatesman → laurie penny stellt in diesem interessanten text die nachricht über den abbruch der test von hormoneller geburtenkontrolle an männern in den größeren zusammenhang:
The story of a male contraceptive jab halted because men were too distressed by the side effects to stay the course is as disappointing as it is familiar. It fits the cultural narrative whereby men can’t possibly be trusted with traditionally female responsibilities — from washing up to changing nappies, if you leave it to the guys, they’ll either flake out, fuck it up or both. We should simply let them off the hook, and let the women get on with it, grit their teeth though they may. That’s nature’s way, or God’s, depending on who you ask. But that’s not what happened here. The real story is more interesting. The real story — of research halted despite most of the men involved being enthusiastic, and a great many people all over the world wondering why the hell male hormonal contraception isn’t a thing yet — is a story of collective cultural resistance to scientific progress. Once again, technological advances that could improve people’s lives are on hold because we’re too socially backward to tell a different story about sex, love and gender.
7 Reasons So Many Guys Don’t Understand Sexual Consent | cracked → David Wong über die rolle der durch kinofilme vermittelten männerbilder und dort positiv gezeichneten übergriffigen paarungssituationen für die aktuelle diskussion um zustimmung zum sex
Auch wenn die lokale CDU das Gegenteil meint: Die Förderung des Radverkehrs in Mainz geht selbst unter eine grünen Verkehrsdezernentin nur in mikroskopisch kleinen Schritten voran. Immer wieder passiert so etwas:
An der Klarastraße ist die Baustelle bereits erkennbar — der Radweg geht aber unverdrossen weiter …
Der Radweg an der Großen Bleiche dürfte nach den einschlägigen Gesetzen und Verwaltungsvorschriften sowieso nicht benutzungspflichtig sein (was das Verkehrsdezernat auch seit Jahren weiß, aber trotzdem nicht ändert — doch das ist eine andere Geschichte). Aber Baustellen wie diese sind eine Katastrophe — übrigens nicht nur für Radfahrerinnen, sondern auch für diejenigen, die das zu Fuß unterwegs sind. Die Benutzungspflicht an der Einmündung Klarastraße — keine hundert Meter von der Baustelle, die den Radweg vollends und den Fußweg teilweise versperrt, entfernt — wurde nicht aufgehoben. Schlimmer noch: Nicht einmal an der Baustelle selbst wird der Radweg beendet. Nur in der Gegenrichtung (!), in der dieser Radweg nicht befahren werden darf, hängt ein Alibi-“Schild”, das weder ein ordentliches Schild ist noch irgendeine gesetzliche Wirkung für Fahrräder hat.
Dieser Radweg endet leider in der Absperrung.
Die gesamte Baustelle ist eine Zumutung — auch für die Fußgänger.
Aus der Gegenrichtung: Ein laminierter Zettel bittet: “Radfahrer absteigen”
Ich frage mich ja immer, wie so etwas wieder und wieder passieren kann. Immerhin hat Mainz eine Radverkehrsbeauftragte. Die hat aber offensichtlich keinerlei Interesse daran, so etwas zu vermeiden — und das wäre ja einfach, weil es so schrecklich absehbar und erwartbar ist: Sie müsste ja nur mal vorbeiradeln und der Baufirma erklären, wie das richtig geht …
Nachtrag: Nach meinem Hinweis/Beschwerde und ein paar Tagen Wartezeit ist die (momentan ruhende) Baustelle nun sowohl für Fußgänger als auch für Radfahrerinnen vernünftig passierbar — es geht also …
Der Versuch, als real musizierender Mensch auf einer Bühne wenigstens kurz zu reinkarnieren, scheitert an der Indifferenz eines Publikums, dem es reicht, in virtuellen Räumen und bei sich selber zu sein. Der erste Star der Youtube-Epoche wird als deren tragischer Held von der Bühne gekreischt.
What the scientists amassed wasn’t a smoking gun. It’s a suggestive body of evidence that doesn’t absolutely preclude alternative explanations. But this evidence arrives in the broader context of the campaign and everything else that has come to light: The efforts of Donald Trump’s former campaign manager to bring Ukraine into Vladimir Putin’s orbit; the other Trump adviser whose communications with senior Russian officials have worried intelligence officials; the Russian hacking of the DNC and John Podesta’s email.
(und nebenbei ganz interessant: dass es spezialisten gibt, die zugriff auf solche logs haben …)
Reformationsjubiläum: Lasst uns froh und Luther sein | FAZ → sehr seltsamer text von jürgen kaube. am reformationsjubiläum gäbe es einiges zu kritiseren. aber das ist der falsche weg — zum einen ist die evangelische kirche deutschlands keine luther-kirche (und käßmann sicher nicht ihre wesentlichste theologin). zum anderen scheint mir kaubes kritikpunkt vor allem zu sein, dass evangelische theologie sich in den 500 jahren gewandelt hat und nicht gleichermaßen konservativ-fundamentalistisch-autoritär ist wie bei luther selbst. was soll das aber?
Siri Hustvedt und Paul Auster | Das Magazin → langes gespräch mit hustvedt und auster, dass sich aber nahezu ausschließlich um die politische lage dreht — immerhin eine halbe frage gilt auch dem, was sie tun — nämlich schreiben
Aids in Amerika: HIV kam um 1970 in New York an | Tagesspiegel → forscher haben mit genetischen analysen von blutkonserven die geschichte von aids in den usa neu geschrieben — nicht patient O war der erste, der virus kam schon jahre vorher nach new york. spannend, was heute so alles geht …
Ich verdiene nicht nur mit dem Schreiben kein Geld, ich verdiene auch mit dem Übersetzen kein Geld. Da möchte man dann mit dem Verlegen natürlich auch nichts verdienen. Das berühmte dritte unrentable Standbein. Das Paradoxe an der Sache ist nun aber, dass ich trotzdem irgendwie davon leben kann, und das schon ziemlich lange. Diese ganzen nicht oder schlecht bezahlten Tätigkeiten haben, zumindest in meinem Fall, dazu geführt, dass eine indirekte Form der Vergütung stattfindet, also etwa in Form von Preisen, Stipendien, Lehrtätigkeiten, Lesungen und Moderationen. Und ich glaube, dass durch die Verlegerei das Spielfeld noch ein bisschen größer geworden ist. Das hat jedoch bei der Gründung des Verlags keine Rolle gespielt. Den Verlag gibt es, weil ich das schon sehr lange machen wollte. Schreiben tue ich ja auch, weil ich das schon immer wollte. Das reicht mir völlig aus als Begründung. Mehr braucht es nicht.
Wir bräuchten vielmehr Mittel für den ökologischen Landbau oder um herauszufinden, wie eine wachstumsbefriedete Gesellschaft und Wirtschaft aussehen kann. Es liegt eindeutig zu viel Gewicht auf technologischen denn auf sozialen und kulturellen Veränderungen. … Das ist der wohl größte Fehler der Grünen Ökonomie: Dinge, die nie ökonomisiert waren, zu messen, zu berechnen, zu ökonomisieren. Die Monetarisierung der Natur.
Carl Amery: Der Untergang der Stadt Passau. Science Fiction-Roman. München: Heyne 1982. 128 Seiten. ISBN 978–3‑453–30332‑4.
Eigentlich bin ich ja kein Science-Fiction-Leser und schon gar kein Fan — auf den schmalen Roman von Carl Amery hat mich die “Phantastik”-Ausgabe der Krachkultur gebracht. Der Untergang der Stadt Passau ist ein Text, der ganz klar die Vorgaben des Genres erfüllt: Nach dem nicht ganz vollständigen Untergang der Zivilisation in Europa sammeln sich die Reste der Bevölkerung langsam wieder in Gruppen. In Passau etabliert sich eine Art Diktatur, die die Technik der Vergangenheit — unter anderem Stromerzeugung — noch nutzbar macht und dafür/dabei die Landbevölkerung unterdrückt und ausraubt. Es gibt eine Art Showdown mit einer kleinen Gruppe Jäger und Sammler/Landwirten, der in Gewalt und Verfolgung endet. Und einige Generationen später kommen die Nachfahren dieser beiden Abgesandten, um die Stadt Passau — den babylonischen Sündenpfuhl (die Parallelen zur biblischen Geschichte sind kein Zufall) dem Erdboden gleich zu machen. Das ist alles einigermaßen konventionell, aber dennoch ganz geschickt und einfallsreich geschrieben. Interessant auch: Was bei Clemens Setz Jahrzehnte später als großartiger Kunstgriff gilt — das Spiel mit verschiedenen Typographien, die verschiedenen Erzählebenen bzw. ‑formen entsprechen (siehe unten) -, passiert hier bei Amery quasi nebenbei. Aber halt in einem nicht ernst zu nehmenden Genre, der Science-Fiction. Übrigens zeigt das meines Erachtens wieder mal, wie wenig die Literaturkritik mit den Schöpfungen der deutschen Literaturgeschichte wirklich vertraut ist — oder, um es positiver zu sagen: Wie wenig sie diese Kenntnis in ihren Kritiken, die es ja nur in Ausnahmefällen vermag, wirklich historische (d.h. mehr als zwei, drei Jahre in die Vergangenheit zeigende) Einordnung oder Traditionslinien aufzuzeigen, zeigt und vermittelt …
Es ist eigentlich alles gutgegangen, überlegte er. Trotz der Politik. Oder wegen der Politik? (112)
Wolfgang Müller: Kosmas. Mit Zeichnungen von Max Müller. Berlin: Verbrecher 2011. 187 Seiten. ISBN 978–3‑940426–70‑3.
Kosmas ist eigentlich nicht viel mehr als eine nette Kunstbetrieb-Satire, in der Wolfgang Müller die verrückten Kapriolen der Sammler und Spekulanten und Künstler der Gegenwartskunst der Post-Post-Moderne um die Jahrtausendwende gekonnt aufspießt (unübersehbar ist die Referenz an Damien Hirst), die sich ganz und gar von der ästhetischen Seite der Kunst entfernt haben und nur noch ihre monetären und Aufmerksamkeit bzw. Geltung produzierenden Aspekte — v.a. die Exklusivität und die entsprechende Vermarktung — berücksichtigen und wertschätzen. Deshalb läuft sich der Text auch etwas schnell tot: Die Angriffsziele und Waffen dieser Satire sind schnell klar — und dann passiert eigentlich nicht mehr viel: Das wird noch ein wenig variiert und weitergesponnen, vor allem aber immer noch eine, hat aber Umdrehung mehr übersteigert. Leider hat Müller aber kaum neue Ideen im Verlauf des Textes. Immerhin bleibt der aber auch dann noch amüsant, so dass man die Lektüre nicht total bereut …
Wu Ming: Altai. Berlin: Assoziation A 2016. 352 Seiten. ISBN ISBN 978–3‑86241–452‑9.
Als Fortsetzung von Q (das noch unter dem älteren Namen des Schreibkollektivs, Luther Blisset, erschien) angepriesen, erzählt Altai die Vorgeschichte der Schlacht von Lepanto: Manuel Cardoso, ein Spion, muss aus Venedig fliehen, weil er der Sabotage verdächtigt wird und landet in Konstantinopel. Damit ist der große, welthistorische Geltung beanspruchende Rahmung des Romans schon beinahe abgesteckt: Alle drei monotheistischen Religionen werden hier mehr oder weniger konfrontativ zusammengebracht — und Cardoso steht als katholischer Konvertit im Dienste eines Judens, der für/mit den muslimischen Herrschern des Osmanischen Reiches arbeitet, immer im Zentrum. Beziehungsweise fast im Zentrum: Denn er ist zwar nahe dran, etwa an der Eroberung Zyperns und dann eben — als Reaktion darauf — in der Schlacht von Lepanto. Doch eingreifen kann er nicht oder nur so, dass seine Ohnmacht erst recht sichtbar wird. Das ist also ein historischer Krimi — aber ein Krimi, den ich überhaupt nicht spannend fand. Und zwar weder als historischen Roman noch als Kriminal- oder Verschwörungsgeschichte. Der ganze Text ist letztlich nicht im gleichen Maße überzeugend und faszinierend wie Q — auch wenn er sich der gleichen Mittel bedient: Bericht aus “zweiter Reihe”, Erleben des Entstehens und Geschehens von (Welt-)Geschichte aus anderer Perspektive etc… Aber: Zum einen ist Cardoso und damit der Erzähler viel näher dran an der Macht, zum anderen schien mir das alles viel konstruierter. Und viele Beschreibungen und Erzählungsstränge bleiben für mich schematisch, blass und leblos. Das gilt vor allem für ungefähr die ersten beiden Drittel — das ist total zerfasert und unharmonisch. Danach wird es besser, weil konzentrierter und spannender. Die Grausamkeit der Belagerung von Famagusta auf Zypern durch die Türken (und auch die Schlacht von Lepanto) wird dann durchaus fesselnd geschildert. Aber ein Problem bleibt: Die Figuren wirken alle wie am Reißbrett entworfen: eindimensional, flach und leblos. Und deshalb bleibt Altai dann ein zwar flott lesbarer, aber eher langweiliger Roman. Fortsetzungen von Erfolgsbüchern sind eben nicht einfach …
Seine vergangenen Leben verblassen, er weiß nicht, was ihn noch erwartet, und die Gegenwart zeigt sich nur in verschwommenen Umrissen. Deshalb nimmt er alles mit, was er im Laufe der Jahre aufgeschrieben hat. Aber das genügt nicht. Er steckt eine Spiegelscherbe ein. Er will sichergehen, dass er sich am Ende der Reise wiedererkennt. (90)
Jean Genet: Querelle. Reinbek: Rowohlt 1974 [1955]. 221 Seiten. ISBN 3499116847.
Der Gang der Ereignisse in diesem Buch muß sich beschleunigen. Es wäre wichtig, der Erzählung das Fleisch so abzulösen, daß allein ihr Knochengerüst übrigbliebe. Indessen, die bloße Wiedergabe der Tatsachen kann nicht genügen. Hier einige Erklärungen: Wer darüber erstaunt ist (wir sagen lieber erstaunt als erregt oder entrüstet, um deutlicher zu zeigen, daß dieser Roman demonstrativ sein will), daß Querelle bei Gils Verhaftung, die er den Abend zuvor veranlaßt hatte, Schmerz empfand, der möge den Ablauf seiner Abenteuer überblicken. Er tötet, um zu rauben. Wenn der Mord vollbracht ist, ist der Diebstahl zwar nicht gerechtfertigt — eher möchte man die Meinung wagen, daß der Mord durch den Diebstahl gerechtfertigt sein könnte -, aber er ist geheiligt. Offenbar ließ der Zufall Querelle die moralische Kraft des Diebstahls, der vom Mord gekrönt und zunichte gemacht wird, erfahren. (192)
Der Querelle — benannt nach seinem (Anti-)Helden — von Jean Genet ist ein sogenannter “berühmt-berüchtigter” Text (Was wohl auch heißt, dass er heute zwar gerne mal anzitiert, aber wohl seltener gelesen wird). Er begleitet den Matrosen und Mörder Querelle, einen vielfachen Außenseiter (Bisexueller, Dieb, Serienmörder, Matrose …), dessen Leben und Lieben außerhalb der Gesellschaft und der Kommunikation und der gesellschaftlich akzeptieren Form der Liebe immer wieder gezeigt wird. Und zwar in aller Schwärze und Verzweiflung gezeigt und beschrieben, aber auch in allen Verästelungen und Verirrungen. Das ist ein ausgesprochen grandioser Text, der auch heute noch mit seiner Genauigkeit und seiner Drastik gleichermaßen aufrütteln kann. Wie der direkt nach dem Zweiten Weltkrieg — das französische Original erschien schon 1947 — gewirkt haben muss, kann man sich kaum mehr vorstellen. Die unbarmherzige Darstellung der physischen und emotionalen Gewalt, die Gemengelage aus Liebe, Begehren, Hass, Verrat und Gewalt “erzählt” Genet mit einer ungeheuren Detailgenauigkeit gerade im psychologischen: Das ist immer wieder faszinierend. Aber es ist nicht nur thematisch, sondern auch formal durchaus interessant, weil Genet alles andere als traditionell erzählt: mit der Inkorporation des Tagebuchs des Leutenant Selbon schafft Genet zum Beispiel eine Außenperspektive aus unmittelbarer Nähe auf Querelle, die sein eigentlicher Erzähler nicht hergibt. Dazu gehört aber auch die etwas durcheinandergewürftelte Chronologie, die harten Schnitten und Montagen des Textes. Und — auch etwas, was ich gerne lese — ein Erzähler, der sich selbst thematisiert. Mir scheint, die nimmt im Lauf des Textes deutlich zu: Es scheint dem Erzähler zunehmend wichtiger zu werden, sich selbst und sein Tun — also das Erzählen dieses “seltsamen” Stoffes — zu rechtfertigen und zu erklären.
Indem wir die psychologische Bewegung unserer Helden beschreiben, wollen wir unsere Seele zutage fördern. Dieses freimütige Bekenntnis der Haltung, die wir wählen würden — vielleicht angesichts oder vielmehr in Voraussicht eines ersehnten Endes -, führt uns zur Entdeckung jener gegebenen Welt der Psychologie, auf die sich die Freiheit der Wahl stützt, aber wenn es im Interesse der Handlich erforderlich ist, daß einer der Helden eine Entscheidung trifft und überlegt, sind wir plötzlich der Willkür preisgegeben: Das Geschöpf löst sich von seinem Autor. Es sondert sich ab. Wir müßten also zugeben, daß einer der Faktoren, aus denen sich unser Held zusammensetzt, nachträglich vom Autor entdeckt werden wird. (201)
Clemens J. Setz: Indigo. Berlin: Suhrkamp 2013. 479 Seiten. ISBN 978–3‑518–46477‑9.
Die Gedanken laufen in merkwürdigen Bahnen. Dadurch ensteht sehr viel Kunst. Ja, auch subversive, natürlich. (403)
Gelesen habe ich das vor allem, weil Indigo als eine Art Exemplum für eine Buchgestaltung gilt, die die inhaltlichen und formalen Aspekte des Textes sehr genau aufnimmt. Oder umgekehrt: Weil der Text gestalterische Elemente — Schriftarten zum Beispiel, auch (Pseudo-)Zitate und handschriftliche Faksimiles — zum Teil seiner selbst macht, also eine solche buchgestalterische Arbeit (die sich bis zum Umschlag erstreckt) geradezu voraussetzt. Judith Schalansky hat das sehr schön umgesetzt. Indigo erzählt von einer Art Krankheit oder Gendefekt, der dazu führt, dass Kinder ihre Umgebung krank machen — so krank, dass Nähe nicht möglich ist. Er tut das eben auf sehr verschiedene Weise: Als Bericht, als Sammlung von Medienberichten, Augenzeugen etc., von historischen Berichten ähnlicher Phänomene in verschiedenen Mappen. Das wird im Buch (das trotz der divergenten Materialien, die es scheinbar (!) inkorporiert, aber doch ein Buch bleibt, das in einem klassischen Buchblock gedruckt und gebunden ist (anders als etwa in Doug DorstsS.) dann geschickt und vielfältig kombiniert. Handwerklich ist das, auch erzähltechnisch, durchaus interessant. Mir ist nur nicht ganz klar geworden, was Setz hier eigentlich erzählen will …
Wie schön das aussah, wenn Papier verbrannte. Man sollte jeden Tag etwas verbrennen, so wie man sich jeden Tag die Zähne putzt. (473)
Michael Angele: Der letzte Zeitungsleser. Berlin: Galiani 2016. ebook. ISBN 978–3‑86971–128‑7.
Nun ja, das ist doch arg mager: Der letzte Zeitungsleser ist eine Verklärung von Zeitungslesern wie Thomas Bernhard (der taucht immer wieder auf) oder Claus Peymann, die täglich reichhaltiges Zeitungsmenu zu sich nehmen und daraus viel und wesentliches schöpfen. Mit der Realität scheint mir das nur sehr auszugsweise übereinzustimmen: Ja, solche emphatischen Zeitungslektüren gab und gibt es. Aber sie sind Ausnahmen. Die Wirklichkeit der Masse — und die braucht die Zeitung als solche ja gerade! — ist schon immer viel, viel prosaischer und langweiliger, aber auch weniger kultur- und staatstragend (freilich, sowohl Boulevardzeitungsleser als solche als auch Politik kommen bein Angele nicht wirklich vor). Schön zeigt sich seine Verklärung des “traditionellen” Zeitungslesens bei seiner Gegenüberstellung von Kosmopolitismus und Globalisierung: Ersteres ist Zeitungslesen — weil ein Zeitungsleser (bei Angele geht es eh’ nur um Männer) Zeitungen aus aller Welt, am besten im Café oder Kaffeehaus, liest. Schon das ist meines Erachtens eine maßlose Übertreibung und Überschätzung — weil ja auch so viele Zeitungen aus aller Welt lesen/lasen … Letzteres, also Globalisierung, ist angeblich digitales Informieren. Denn dann wird angeblich noch Spiegel online überall auf der Welt gelesen. Unterschlägt das aber nicht vollkommen die Vielzahl der (genutzten!) Möglichkeiten der Lektüren, die das Internet erst ermöglicht: Gut, oft mögen das (wie bei mir z.B.) nur zwei Sprachen, etwa Deutsch und Englisch, sein. Aber ohne Internet würde ich von englischsprachigen Publikationen aus UK und USA ziemlich sicher genau nichts wahrnehmen. Gut, Angele würde jetzt einwenden: Das ist keine Zeitungslektüre, weil die Bündelung etc. fehlt, die das interesselose Lesen (das er offenbar sehr schätzt), das allerdings eher ein flüchtiges Anschauen und Durchblättern ist, und die damit einhergehenden Entdeckungen von Skurilitäten und Kuriosa ermöglicht. Dafür gibt es im Netz eben andere Zufallsmomente, andere Serendipitäten, um diesen schönen Ausdruck zu verwenden … Mir stellt sich Angeles Essay deshalb eher als ein Abgesang auf eine gute, alte Zeit dar, die nie so gut war, wie er sie verklärend darstellt. Das hat wahrscheinlich einen genauso großen (kultursoziologischen) Wert wie Adornos Typologie der Musikhörer …
außerdem gelesen:
Gerty Spies: Des Unschuldigen Schuld. Eine Auswahl aus dem Werk. Mainz: Landeszentrale für politische Bildung 2016. 52 Seiten. ISBN 9783892890379.
Micha Brumlik: Wann, wenn nicht jetzt? Versuch über die Gegenwart des Judentums. 2. Auflage. Berlin: Neofelis 2016 (Relationen — Essays zur Gegenwart 3). 130 Seiten. ISBN 978–3‑95808–032‑4.
Oswald Egger: Was nicht gesagt ist. Göttingen: Wallstein 2016 (Berliner Rede zur Poesie 1). 42 Seiten. ISBN 9783835319820.
Didier Eribon: Rückkehr nach Reims. Berlin: Suhrkamp 2016. ebook. ISBN 978–3‑518–74439‑0.
Jan Volker Röhnert, Romina Nikolić (Hrsg.): Dem Meister des langen Atems. Paulus Böhmer zu Ehren. Frankfurt am Main: Edition Faust 2016. 211 Seiten. ISBN 978–3‑945400–36‑4.
Klaus Hoffer: Bei den Bieresch. Halbwegs / Der große Potlatsch. 2. Auflage. Wien, Graz: Droschl 2007. 272 Seiten. ISBN 978–3‑85420–718‑4. (dritte Lektüre — immer noch großartig …)
Edit #69 (wunderbare Ausgabe, mit sehr guten Texten von u. a. Ann Cotten, Gerhard Falkner und Ulrike Almut Sandig
But in early 2015, Walmart announced it would actually pay its workers more.
That set in motion the biggest test imaginable of a basic argument that has consumed ivory-tower economists, union-hall organizers and corporate executives for years on end: What if paying workers more, training them better and offering better opportunities for advancement can actually make a company more profitable, rather than less?
und auch wenn das, was walmart macht, sicher nicht das bestmögliche (für die arbeitenden) ist, so scheint es doch in die richtige richtung zu gehen. und sich auch für das unternehmen zu lohnen …
Die Aggressivität und Missachtung betreffen nicht nur diejenigen, auf die Brandanschläge verübt werden, vor deren Moscheen oder Synagogen Schweinsköpfe abgelegt werden. Sie betreffen nicht nur Homosexuelle oder Transpersonen, die sich fürchten müssen, auf der Straße angegriffen zu werden. Alle, die in einer liberalen, zivilen Gesellschaft leben wollen, sind betroffen. … Ich sehe nicht ein, warum ich mich intellektuell und emotional verstümmeln lassen sollte durch diesen Hass. Ich denke, es braucht Einspruch, Widerspruch, aber einen, der all das mobilisiert, was den Fanatikern der “Reinheit”, den Dogmatikern des Homogenen und angeblich Ursprünglichen abgeht: nämlich die nicht nachlassende Bereitschaft zu differenzieren und das, was Hannah Arendt einmal “lachenden Mut” nannte. Eine gewisse heitere, mutige Freude daran, auch mal Ambivalenzen auszuhalten, Selbstzweifel zuzulassen, auch ein Zutrauen in die Fähigkeit, gemeinsam zu handeln. … Wir dürfen uns als Gesellschaft doch nicht zurückziehen, nur weil wir die Aggressiven auf der Straße nicht erreichen. Für die gewaltbereiten Fanatiker sind die Polizei und die Staatsanwaltschaften zuständig. Aber für all die kleinen, schäbigen Gesten und Gewohnheiten des Ausgrenzens sind alle zuständig. Es würde auch schon helfen, wenn manche Parteien sich nicht darin überbieten würden, einer politisch radikalen Minderheit die Arbeit abzunehmen. Durch Anbiederung verschwindet Populismus nicht.
Im Biounterricht schreiben wir eine Arbeit über den Urknall. Als Ashlie alle Fragen durchstreicht und dafür die Schöpfungsgeschichte aus der Bibel hinschreibt, bekommt sie die volle Punktzahl.
auch der rest des textes einer schülerin über ihr austauschjahr in den usa, dass sie in die pampa von minnesoat führte, ist sehr interessant & gut (via wirres.net)
Die These vom Sound der Revolte | perlentaucher → der perlentaucher übernimmt einen teil eines gespräches aus dem “mittelweg”, das wolfgang kraushaar mit martin bauer und stefan mörchen geführt hat. hier geht es vor allem um politik und pop, um demonstrationen und open-air-konzerte und den (angeblichen) “sound der revolte” sowie die zeitliche differenzierung dieser zusammenhänge zwischen den späten sechzigern und den frühen siebzigern
Ein emissionsfreier Autoverkehr ist ein gesamtgesellschaftliches Projekt, das wir alle brauchen. Und ohne entsprechende staatliche Eingriffe wird es nicht gelingen. Der öffentliche Nahverkehr, Radfahrer und Fußgänger, aber auch Carsharing müssen über bessere Infrastruktur natürlich auch gefördert werden. Denn Elektroautos lösen zwar die Probleme von Schadstoffbelastung in den Städten, aber sie lösen nicht die Konflikte um die begehrten und knappen Flächen.