Es liegt der Schnee
—Julia Trompeter, in: Zum Begreifen nah, 101
so ausgeruht im Lichthof,
auf Grasnarben bleibt er
als weißende Spur.
Meine Haut is dünner,
ein Aggregat aus Sorge,
darin aber Lachen. Die
bleiben am Morgen
auch vom Schnee.
Schlagwort: zeit Seite 1 von 2
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- Do We Write Differently on a Screen? | The New Yorker → tim parks eher pessimistische sicht auf die gewandelte art und weise des schreibens und seiner begleitumstände durch die technologische entwicklung der letzten jahrzehnte
Just as you once learned not to drink everything in the hotel minibar, not to eat too much at free buffets, now you have to cut down on communication. You have learned how compulsive you are, how fragile your identity, how important it is to cultivate a little distance. And your only hope is that others have learned the same lesson. Otherwise, your profession, as least as you thought of it, is finished.
- Das Spiel mit der Exzellenz | Forschung & Lehre → michael hartmann mit einer zurückhaltenden, aber nicht überschwänglich positiven einschätzung der exzellenzstrategie für die deutschen universitäten
Die Elite hat gewonnen, die Masse verloren.
- Peter Brötzmann interview | It’s psychedelic Baby Magazine → sehr schönes, offenes und ehrliches interview mit peter brötzmann, in dem er vor allem über seine frühen jahre — also die 1960er — spricht
- Provozieren und Warten | Van → sehr schönes, angenehm freundliches interview mit dem großen frederic rzewski:
Ich habe nichts Originelles komponiert. Alles, was ich gemacht habe, ist von anderen zu klauen. Aber auch Mozart hat links und rechts geklaut und Bach natürlich genauso. Du nimmst etwas, machst es auf deine Art.
- Ganzjährige Sommerzeit wäre der „Cloxit“ | Riffreporter → trotz der grenzwertig blöden Überschrift ein interessanter text über die auswirkungen einer möglichen ganzjährigen sommerzeit in deutschland
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- 39. Besuch auf dem Friedhof oder Ein Kreuzungspunkt der Zeiten — achim landwehr über die möglichkeiten & gelegenheiten, die ein gang auf den friedhof bieten kann:
Der Friedhof ist dann nicht mehr nur ein Ort des Gedenkens, sondern auch des Bedenkens der Zeit(en), die wir haben oder die wir möglicherweise haben wollen. Hier ist nicht nur die Trauer über die Toten zu Hause, sondern auch die Hoffnung anderer Zeitmodalisierungen, weil sich genau hier die sehr unterschiedlichen Verzeitungen begegnen, überkreuzen und gegenseitig durcheinanderbringen.
- Wolfgang Benz : “Ich bin schon froh, wenn es nicht schlimmer wird” | ZEIT — sehr gutes interview mit wolfgang benz, der ziemlich ernüchtert über seine forschungen, den zustand der deutschen gesellschaft und die möglichkeiten der geschichtswissenschaften spricht:
Man kann sagen: Die Sache mit Nationalstaat und Nationalbewusstsein ist in Deutschland gründlich schiefgegangen.
[…]
Es hat doch ohnehin <em>niemand<em> wirklich Interesse an Geschichte. Fürs Familienalbum vielleicht, aber wenn es darum geht, politische und soziale Herausforderungen in den Griff zu bekommen, spielt der Blick in die Geschichte kaum noch eine Rolle. Da wird der Historiker allenfalls abgewehrt. Von Geschichte und der Möglichkeit, sie zu nutzen im Sinne eines humanistischen Fortschritts, will die Menschheit nichts wissen. Sonst würde es nämlich seit langer Zeit keine Kriege mehr geben, keinen Völkermord und wahrscheinlich keine Vertreibungen.
[…]
[Die Aufklärung] war und ist der einzige Ansatzhebel gegen das Freund-Feind-Denken und die Dehumanisierung des Anderen. Aber wie mühsam schritt nach dem Jahrhundert der Aufklärung die Judenemanzipation voran und mit welcher Halbherzigkeit! Und wie viel stärker ist das Irrationale, das an Ängste appelliert; wie viel leichter tun sich die Demagogen als die Aufklärer … </em></em>— sehr lesenswert!
- The International Postal System Is Profoundly Broken—and Nobody Is Paying Attention — Pacific Standard — spannend: ein text über die UPU, die Universal Postal Union, die den briefverkehr und vor allem dessen bezahlung zwischen staaten & posten organisiert — und die mit einigen großen problemen zu kämpfen hat, aber anscheinend kaum/nicht zu reformieren ist …
- Verfahren gehören zum Beruf des Journalisten dazu — Das Netz — hans leyendecker im gespräch mit irights.info, über die netzpolitik-landesverrats-affäre, geheimdienste, deutschland und europa
- Secret Code Found in Juniper’s Firewalls Shows Risk of Government Backdoors | WIRED — ein real-life-problem, an dem man sehr schön sehen kann, dass hintertüren bei verschlüsselung etc. überhaupt keine gute ideen sind — schließlich kann die jeder finden (nicht, dass das bisher undenkbar gewesen wäre …)
- Kill Your Airbnb’s Hidden WiFi Cameras With This Script | Motherboard — ein skript, mit dem man (mit ein bisschen glück) unliebsame überwachungskameras im wlan ausschalten kann (aber nicht darf ;-) …)
- Flüchtlingsforschung gegen Mythen 2 — Netzwerk Flüchtlingsforschung — das netzwerk flüchtlingsforschung hat zum zweiten mal wissenschaftler untersuchen lassen, was an häufigen behauptungen über flüchtlinge dran ist. und wieder zeigt sich: politiker haben oft überraschend wenig ahnung (oder sie tun zumindest so)
- Stoppen wir lügende Politiker! | NZZ Campus — servan grüninger zeigt sehr deutlich, dass björn höckes rassistische erklärung der reproduktionsstrategien der “afrikaner” und der “europäer” nach dem stand der wissenschaft einfach falscher unsinn ist.
Das Problem liegt nicht darin, dass er ein Rassist ist. Das Problem liegt darin, dass er ein Rassist ist, der die Wissenschaft für seine Ideologie einspannen will – im Wissen darum, dass ein solches Vorgehen seine Aussagen stützt.
- Bayerisches Kabinett erlaubt Verfassungsschutz Zugriff auf Vorratsdatenspeicherung | netzpolitik.org —
- Archiv Arbeiterjugendbewegung — Reader — ein (quellen)reader zur arbeiterjugendbewegung zwischen 1904 und 1945. sieht auf den ersten blick ganz interessant und gut gemacht aus (auch/gerade, weil ich von dem thema keine ahnung habe …)
- Wenn Spicken erlaubt ist | Bob Blume — bob blume über den versuch einer arbeit, bei der spicken erlaubt ist
ohne worte.
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- «Digital Humanities» und die Geisteswissenschaften: Geist unter Strom — NZZ Feuilleton — sehr seltsamer text von urs hafner, der vor allem wohl seine eigene skepsis gegenüber “digital humanities” bestätigen wollte. dabei unterlaufe ihm einige fehler und er schlägt ziemlich wilde volten: wer “humanities” mit “humanwissenschaften” übersetzt, scheint sich z.b. kaum auszukennen. und was die verzerrende darstellung von open access mit den digital humanities zu tun hat, ist auch nicht so ganz klar. ganz abgesehen davon, dass er die fächer zumindest zum teil fehlrepräsentiert: es geht eben nicht immer nur um close reading und interpretation von einzeltexten (abgesehen davon, dass e‑mailen mit den digital humanities ungefähr so viel zu tun hat wie das nutzen von schreibmaschinen mit kittler’schen medientheorien …)
- Lyrik: Reißt die Seiten aus den Büchern! | ZEIT ONLINE — nette idee von thomas böhm, die lyrik zu vereinzeln (statt in lyrikbänden zu sammeln), das gedicht als optisches sprachkunstwerk zu vermarkten (auch wenn ich seine argumentationen oft überhaupt nicht überzeugend finde)
- Einsam auf der Säule « Lyrikzeitung & Poetry News — gute kritikkritik zur besprechung des aktuellen “Jahrbuchs für Lyrik” in der “zeit”, die auch mich ziemlich verwundert hat.
Unterscheidung, Alternativen, Schwerpunktsetzung? Fehlanzeige. Rez. zieht es vor, sich als scharfe Kritikerin zu inszenieren, jede Differenzierung schwächte das Bild nur. Lieber auf der Schulter von Riesen, hier neben Krüger, Benn & Co. vor allem Jossif Brodsky, auf die behauptet magere deutsche Szene herabblicken. Einsam ist es dort oben auf der Säule!
- Verkehrssicherheit: Brunners letzte Fahrt | ZEIT ONLINE — sehr intensive reportage von henning sussebach über die probleme der/mit alternden autofahrern (für meinen geschmack manchmal etwas tränendrüsig, aber insgesamt trotzdem sehr gut geschrieben)
Urlaubszeit in Deutschland, Millionen Reisende sind auf den Straßen. Da biegt ein 79-Jähriger in falscher Richtung auf die Autobahn ein – fünf Menschen sterben. Ein Unglück, das zu einer brisanten Frage führt: Kann man zu alt werden fürs Autofahren?
- Lyrik und Rap: Die härteste Gangart am Start | ZEIT ONLINE — uwe kolbe spricht mit mach one (seinem sohn) und konstantin ulmer über lyrik, raps, rhythmus und themen der kunst
Dass ich mit meinen Gedichten kein großes Publikum erreiche, ist für mich etwas, worunter ich selten leide. Ich möchte das, was ich mache, auf dem Niveau machen, das mir vorschwebt. Dabei nehme ich auch keine Rücksicht mehr. Ich gehe an jeden Rand, den ich erreichen kann.
- Rainald Goetz: Der Weltabschreiber | ZEIT ONLINE — sehr schöne und stimmende (auch wenn das theater fehlt …) würdigung rainald goetzes durch david hugendick anlässlich der bekanntgabe, dass goetz diesjähriger büchner-preis-träger wird
Die einzige Reaktion auf die Zudringlichkeit der Welt kann nur in deren Protokoll bestehen, die zugleich ein Protokoll der eigenen Überforderung sein muss.
- “Panoramafreiheit”: Wider den Urheberrechts-Extremismus — Süddeutsche.de — leonhard dobusch zum versuch, in der eu das urheberrecht noch weiter zu verschärfen:
Wir alle sind heute ein bisschen wie Lichtenstein oder Warhol. Wir erstellen und teilen ständig Fotos und Videos, in denen Werke anderer vorkommen. Zeit, dass das Urheberrecht darauf eingeht.
- Stravinsky’s Illegal “Star Spangled Banner” Arrangement | Timothy Judd — ich wusste gar nicht, dass es von strawinsky so ein schönes arrangement der amerikanischen hmyne gibt. und schon gar nicht, dass die angeblich verboten sein soll …
- Essay Griechenland und EU: So deutsch funktioniert Europa nicht — taz.de — ulrich schulte in der taz zu griechenland und der eu, mit vielen sehr guten und treffenden beobachtungen & beschreibungen, unter anderem diesen
Von CSU-Spitzenkräften ist man inzwischen gewohnt, dass sie jenseits der bayerischen Landesgrenze so dumpf agieren, als gössen sie sich zum Frühstück fünf Weißbier in den Hals.
[…]
Das Charmante an der teils irrlichternden Syriza-Regierung ist ja, dass sie eingespielte Riten als nackt entlarvt. - Sich „konstruktiv verhalten“ heißt, ernst genommen zu werden | KRZYSZTOF RUCHNIEWICZ — Stellungnahme ehemaliger Mitgliedern des Wissenschaftlich Beraterkreises der (sowieso übermäßig vom Bund der Vertreibenen dominierten) Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung zur Farce der Wahl des neuen Direktors unter Kulturstaatsministerin Monika Grütters
- Konsum: Kleine Geschichte vom richtigen Leben | ZEIT ONLINE — marie schmidt weiß nicht so recht, was sie von craft beer, handgeröstetem kaffee und dem ganzen zelebrierten super-konsum halten soll: fetisch? rückbesinnung alte handwerkliche werte? oder was?
- Alle Musik ist zu lang — wunderbare überlegungen von dietmar dath zur musik, der welt und ihrer philosophie
Alle bereits vorhandene, also aufgeschriebene oder aufgezeichnete Musik, ob als Schema oder als wiedergabefähige Aufführung erhalten, ist für Menschen, die heute Musik machen wollen, zu lang, das heißt: Das können wir doch nicht alles hören, wir wollen doch auch mal anfangen. Wie gesagt, das gilt nicht nur für die Werke, sondern schon für deren Muster, Prinzipien, Gattungen, Techniken.
[…]
Musik hält die Zeit an, um sie zu verbrauchen. Während man sie spielt oder hört, passiert alles andere nicht, insofern handelt sie von Ewigkeit als Ereignis- und Tatenlosigkeit. Aber beide Aspekte der Ewigkeit, die sie zeigt, sind in ihr nicht einfach irgendwie gegeben, sie müssen hergestellt werden: Die Ereignislosigkeit selbst geschieht, die Tatenlosigkeit selbst ist eine musikalische Tat. - Literaturblogs are broken | The Daily Frown — fabian thomas attestiert den “literaturblogs” “fehlende Distanz, Gefallsucht und Harmlosigkeit aus Prinzip” — und angesichts meiner beobachtung (die ein eher kleines und unsystematisches sample hat) muss ich ihm leider zustimmen.
- Interview ǀ „Ent-identifiziert euch!“ — der Freitag — großartiges gespräch zwischen harald falckenberg und jonathan meese über wagner, bayreuth, kunst und den ganzen rest:
Ja, ich hab total auf lieb Kind gemacht. Ich merkte ja schon, dass ich im Wagner-Forum so als Monster dargestellt wurde. Ich bin kein Monster. Ich wollte das Ding nur radikalisieren. Ich hab auf nett gemacht und so getan, als wäre ich gar nicht ich selbst. Was ich ja immer tue. Sei niemals du selbst. Keine Selbstsuche, bitte. Keine Pilgerfahrt. Keine Möncherei. Ich bin einfach wie ’n Spielkind da rangegangen, und ich dachte, jetzt geht’s ab.
[…]
Kultur ist genauso beschissen wie Gegenkultur. Mainstream ist genauso beschissen wie Underground. Kultur und Gegenkultur ist das Gleiche. Politik kannst du nicht mit Kultur bekämpfen. Sondern nur mit Kunst. Du kannst nicht eine neue Partei gründen, weil sie genauso scheiße ist wie jede andere. Du kannst keine neue Religion gründen, weil sie genauso scheiße ist wie alle anderen. Du kannst keine neue Esoterik schaffen, weil sie genauso scheiße ist wie jede andere. Du kannst keine Spiritualität schaffen, die besser wäre als alle anderen.
Jede Partei ist gleich scheiße, jede Religion ist gleich zukunftsunfähig, jede Esoterik ist abzulehnen. Ich benutze Esoterik, aber ich identifiziere mich nicht damit. Ich identifiziere mich nicht mit Wagner, ich identifiziere mich nicht mit Bayreuth, ich identifiziere mich mit gar nichts.
Ent-identifiziert euch! Seid nicht mehr! Seid eine Nummer! Seid endlich eine Nummer!
Das ist geil. Seid kein Name! Seid kein Individuum! Seid kein Ich! Macht keine Nabelbeschau, keine Pilgerreise, geht niemals ins Kloster, guckt euch niemals im Spiegel an, guckt immer vorbei!
Macht niemals den Fehler, dass ihr auf den Trip geht, euch selbst spiegeln zu wollen. Ihr seid es nicht. Es ist nicht die Wichtigtuerei, die die Kunst ausmacht, sondern der Dienst an der Kunst. Die Kunst ist völlig frei. Meine Arbeit, die ist mir zuzuschreiben, aber nicht die Kunst. Die spielt sich an mir ab. - Eine Bemerkung zur Kompetenzorientierung by Fachdidaktik Deutsch -
»Faktenwissen« kommt nicht zuerst, wenn Kompetenzorientierung ernst genommen wird – Können kommt zuerst. Kompetenzorientierung bedeutet, die Lernenden zu fragen, ob sie etwas können und wie sie zeigen können, dass sie es können. Weil ich als Lehrender nicht mehr zwingend sagen kann, auf welchem Weg dieses Können zu erreichen ist. Dass dieses Können mit Wissen und Motivation gekoppelt ist, steht in jeder Kompetenzdefinition. Wer sich damit auseinandersetzt, weiß das. Tut das eine Lehrkraft nicht, ist das zunächst einfach einmal ein Zeichen dafür, dass sie sich nicht mit Kompetenzorientierung beschäftigt hat. Fehlt diese Bereitschaft, müssen zuerst die Voraussetzungen dafür geschaffen werden.
- Essay zum UN-Weltkulturerbe: Mord mit besten Absichten — taz.de -
Und immer noch drängeln die Städte, die Dörfer, die Regionen, dass sie ja als Erste einbalsamiert werden. Wie die Länder, die sich um Olympische Spiele bewerben, ohne sich klarzumachen, dass sie damit ihren Untergang heraufbeschwören wie Griechenland mit Athen.
- Wie man nicht für die Vorratsdatenspeicherung argumentiert | saschalobo.com — sascha lobo seziert den tweet von reinhold gall. wie (fast) immer exzellent. schade (und mir unverständlich), dass solche texte in den großen, publikumswirksamen medien keinen platz finden — warum steht das nicht im print-spiegel, der gedruckten faz oder süddeutschen?
- Sex (und gender) bei der Fifa | Männlich-weiblich-zwischen — ein schöner text zum problem der bestimmung des geschlechts, des biologischen, wie es die fifa versucht — nämlich über den testosteron-spiegel. mit dem (inzwischen erwartbaren) resultat: so kann man das jedenfalls nicht machen.
an darf also vermuten und hoffen, dass auch diese Definition von sex zu sportlichen Zwecken demnächst, wie bisher alle anderen Definitionen auch, als unbrauchbar und absurd erweisen – aber wohl, ebenfalls wie immer, erst zu spät.
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- Volksbanken: Meine Bank ist krank | ZEIT ONLINE — heinz-roger dohms hat eine (sehr) kleine und nicht sehr profitable genossesnchaftsbank besucht und berichtet von deren stellung probleme wohltuend unaufgeregt und ohne große lösungen …
- Historiker über Erinnerungskultur: „Martin Luther als Spielfigur“ — taz.de — der historiker valentin groebner im gespräch mit jan feddersen über erinnerung, gedenken und den zusammenhang von vergangenheit, geschichte und gegenwart
Historische Jubiläen haben ziemlich viel mit Heilsgeschichte zu tun, mit kollektiven Erlösungswünschen plus Sinnangebot.[…]
Wie viel Platz für Überraschendes kann denn in den kollektiven Inszenierungen von Gedenken sein? 2017 ist Luther-Jubiläum – dann wird es ähnlich sein. Ein bisschen zugespitzt formuliert: Das Verhältnis zur Vergangenheit wird über Gebetsgemeinschaften organisiert. - Der 8. Mai 1945 – Tag der Befreiung? | resonanzboden — hubertus knabe findet die bezeichnung “tag der befreiuung” für den 8./9. mai 1945 unpassend und schlägt eine zurückhaltendere, bitterere lesart der erinnerung an das kriegsende vor
Die Deutschen tun gut daran, sich von solcher Mythenbildung fernzuhalten. Für sie sollte der 8. Mai vor allem ein Tag der Scham und der Trauer sein. Über 50 Millionen Menschen kamen durch die Politik der damaligen deutschen Regierung ums Leben – eine Last, die zu einer differenzierten und realistischen Sicht der Geschichte verpflichtet.
- Varoufakis benimmt sich echt unmöglich (behaupten anonyme Quellen)… | misik.at — robert misik legt sehr schön dar, wie ungesichert und gefährlich die angeblichen informationen der medien aus der politik, insbesondere der brüsseler, sein können:
Wenn aber der immer gleiche Spin aus den offenbar immer gleichen “anonymen” Quellen kommt, dann sollte Ihnen als Leser klar sein, dass hier Journalisten vorsätzlich instrumentalisiert werden, um eine “Storyline” unter die Leute zu bringen.
- Making the Right Choices: A John Cage Centennial Celebration — videos von john-cage-werken — schön gemachte seite von michael tilson thomas & new world symphony
- Platten aus dem Plattenbau — taz.de — andreas hartmann hat für die taz das kleine, aber sehr feine (vor allem, wenn man auf abgefahrene musik so abfährt wie ich …) plattenlabel karlrecords entdeckt
Karl ist eines dieser vielen kleinen, aber feinen Labels, die es weltweit gibt und die nach der Krise der Musikindustrie durch die Digitalisierung in den nuller Jahren in einer Nische blühen und gedeihen — wegen des überraschenden Vinyl-Revivals.
(ich bin aber immer froh, dass die ihre sachen nicht nur auf vinyl, sondern auch digital — bei bandcamp — anbieten)
- Die Neuzeit und die Kultur der Unruhe: Das Gesumm der menschlichen Dinge — NZZ.ch — ralf konersmann über die “entdeckung” der unruhe und ihre beschreibung und analyse durch blaise pascal
Das Neue der Neuzeit war die Bejahung der Unruhe, nicht jedoch das Empfinden der Unruhe selbst.
- Digitale Agenda der Bundesregierung — Böses Netz — Christian Heise vom Centre for Digital Cultures der Leuphana Universität in Lüneburg kommentiert in der süddeutschen zeitung das totalversagen der bundespolitik bei digitalen und netzpolit. themen:
Die Netzpolitik der schwarz-roten Koalition ist ein Witz. Sie ist gekennzeichnet durch fehlenden Sachverstand und eine grundlegende Abwehrhaltung gegenüber der Digitalisierung. Statt Prioritäten zu deren Ausbau zu definieren, konzentriert sich die Bundesregierung darauf, die Potenziale des Digitalen zur Kontrolle und zur Überwachung der Bürger zu nutzen.
— auch der rest ist pointiert, treffend und sehr lesenswert!
- Zum Verständnis | Postkultur — jan kuhlbrodt:
Ich versteh nicht, was mit Verstehen gemeint sein soll. […] Verstehen im ästhetischen Sinne aber, wäre die Offenheit der Kunstwerke auszuhalten, und ihre Verweigerung, sich in einem instrumentellen Sinn übersetzen zu lassen, dass heißt, sich ersetzen zu lassen durch Handlung oder Aussage.
— ich glaube, dass “wäre” sollte durch ein “ist” ersetzt werden …
- Spionage: Der BND, ein gefährlicher Staat im Staat | ZEIT ONLINE — kai biermann sehr pointiert zur neuesten wendung im spionage-skandal (kann man das eigentlich noch so nennen?)
Der Fall zeigt, wie krank das Geschäft der Geheimdienste ist. Er zeigt, wie verschoben deren moralische und rechtliche Maßstäbe sind. Sehenden Auges nahm der BND hin, dass ihn die NSA dazu missbraucht, Unternehmen, Behörden und Politiker in Europa auszuspähen. Ein Pakt mit dem Teufel, dem zugestimmt wurde, weil man glaubte, ihn kontrollieren und vor allem davon profitieren zu können.
Aber wenn jeder jeden betrügt und austrickst, wo bleiben dann Recht und Gesetz? Richtig, auf der Strecke. Keiner der Beteiligten scherte sich darum, niemand interessierte sich für Grundrechte der Bürger, auch das wurde in den Befragungen im Untersuchungsausschuss klar. […] Wenn nicht einmal die Regierung ihre Spione im Griff hat, dann hat niemand sie im Griff. - Angesichts der von #Lidl proklamierten… — Bäckerei Richter, Kubschütz — eine schöne reaktion eines bäckermeisters als reaktion auf die ziemlich bescheuerte (und die einkaufenden verarschende) werbekampagne von lidl
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- “Geburt der Gegenwart”: Wenn der Mond den Friseurtermin bestimmt | Berliner Zeitung — steffen martus hat achim landwehrs “geburt der gegenwart” gelesen:
Der Düsseldorfer Historiker Achim Landwehr geht diesen Fragen bis in jene Epoche nach, als die Kalender die Welt eroberten. Die Vorgeschichte unserer zeitlichen Verstrickung in Termine und Daten ist dabei nur ein Beispiel für jene „Geburt der Gegenwart“, von der er anschaulich, anekdotenreich und klug erzählt: In der Frühen Neuzeit büßte die Vergangenheit in bestimmten Bereichen ihre Autorität ein, während die Zukunft noch nicht als Objekt menschlicher Verfügung wirkte. In einer Art Zwischenphase dehnte sich die Gegenwart als „Möglichkeitsraum“ aus und bahnte damit jenes Zeitregime an, dem wir heute unterstehen.
- Literaturdebatte : Der Buchpreis ist keine Geschlechtsumwandlung wert — Literarische Welt — DIE WELT — marlene streeruwitz über den buchpreis und seine strukturen und funktionen:
Aber. Der Deutsche Buchpreis ist das fröhlichste Beispiel, wie die quasireligiöse Eindeutigkeit eines Marketinginstruments hergestellt wird. In einer konstruierenden Vorgangsweise wird der Börsenverein selbst zum Autor der Vermarktung der Autoren und Autorinnen im Deutschen Buchpreis.
Das alles erfolgt im Archilexem (der Verwendung der männlichen Form der Bezeichnung, unter der die weibliche Form mitgemeint ist): In den Aussendungen des Börsenvereins gibt es nur Autoren und keine Autorinnen. Auch das gehört zur Strategie der Eindeutigkeit. Es gibt keine Geschlechterdifferenz, sagen solche Formulierungen. Stellt euch unter die männliche Form und lasst differenzierende Kinkerlitzchen wie die geschlechtergerechte Sprache sein. Nur in eindeutigen Formulierungen gelingt ein umfassendes Sprechen, in dem Bücher verkauft werden können. Populismus wird nicht nur in Kauf genommen. Populismus ist erwünscht.
- Stefan Niggemeier | Neues von Werther: Suizid-Häufung nach breiter Suizid-Berichterstattung — niggemeier berichtet über eine amerikanische studie, die indizien für den werther-effekt beobachten konnte:
Selbstmord ist ansteckend. Berichterstattung über Suizide erhöht die Zahl der Suizide. Eine neue Studie aus den Vereinigten Staaten liefert weitere Indizien dafür, dass dieser sogenannte „Werther-Effekt“ tatsächlich existiert.
- Algorithmen: Ferguson zersplittert in den sozialen Netzwerken | ZEIT ONLINE — günter hack:
Der derzeitige Umgang mit der algorithmischen Personalisierung ist die Vollendung des Neoliberalismus auf Ebene der öffentlichen Kommunikation. Wenn du etwas nicht gesehen hast, dann bist du selbst Schuld, weil du den Algorithmus von Facebook entsprechend trainiert hast oder dir die Profi-Version mit dem besseren Zugang zu den Daten nicht leisten kannst.
- Interview mit Heiner Goebbels, dem Intendanten der Ruhrtriennale | Lesen was klüger macht — holger pauler befragt heiner goebbels zu seinen erfahrungen in und mit der ruhrtriennale und vor allem der “freien szene” (und am schluss auch zu “cassiber”). heiner goebbels:
In Deutschland gibt es für eine bestimmte Liga von freien Künstlerinnen und Künstlern kaum Produktionsspielräume. Es gibt zwar ein weltweit einzigartiges Theatersystem, das ist allerdings einer gewissen Monokultur verpflichtet, die sich auf das Opern‑, Schauspiel‑, oder Orchesterrepertoire bezieht – darüber hinaus bleiben wenige Möglichkeiten für freie Kunst. Diese Lücke wollte ich mit der Ruhrtriennale zu schließen versuchen.
- [AMA] Ich bin Stefan Niggemeier. Fragt mich alles! : de_IAmA —
- Introducing TapPath for Android — YouTubeIntroducing TapPath for Android! — eine schöne kleine app, die das leben (und surfen) auf einem androiden einfacher und angenehmer macht
Ins Netz gegangen am 3.7.:
- Twitter / Stroemfeld: Sind Schwäne giftig? Notizzettel … — RT @Stroemfeld: Sind Schwäne giftig? Notizzettel aus dem Nachlaß von Peter Kurzeck, vmtl. Ende der 1960er Jahre
- Richard Sennett: “Wir müssen die Arbeit umverteilen” | ZEIT ONLINE — richard sennet im interview mit zeit-online:
Mehr Sozialismus, mehr Mitbestimmung, kleinere Firmen und die Schwächung des Finanzkapitals zugunsten produktiver Arbeit. Wir benötigen alternative Managementmodelle, die auf eine kontinuierliche (Weiter-)Entwicklung der Menschen setzen. Das Problem, mit dem wir es im modernen Kapitalismus zu tun haben, ist die Manipulation der Zeit.
und am schluss empfiehlt er das grundeinkommen als lösung:
Meiner Auffassung nach wäre die Einführung eines existenzsichernden Grundeinkommens eine Erfolg versprechende Herangehensweise. Man versucht, die vorhandene Arbeit zu bestimmen, um sie dann unter zwei oder drei Leuten zu verteilen. Diese werden als Teilzeitkräfte bezahlt. Der Staat gibt ihnen dann zusätzlich ein Grundeinkommen, um den Unterschied auszugleichen.
- Kopenhagen: “Radfahrer machen eine Stadt erst richtig lebendig” | ZEIT ONLINE — noch ein paar gründe, warum es (gerade städten) gut tut, sich um den radverkehr zu kümmern
Radfahrer machen eine Stadt erst richtig lebendig. Man sieht Gesichter auf der Straße, und nicht nur hinter Windschutzscheiben. Die Stadt wird als menschenfreundlich wahrgenommen und dadurch attraktiv.
- Ein später Sieg der historischen Wahrheit — taz.de — klaus hillenberg ist sehr angetan von der neuen dauerausstellung zum widerstand gegen das ns-regime im bendlerblock:
Mit dieser Ausstellung hat die Rezeption der Widerstandsgeschichte einen vorläufigen Schlusspunkt gefunden, oder anders gesagt: Die Wahrheit hat nach Jahrzehnten der Geschichtsklitterung, der offenen und verdeckten Einflussnahme von Politikern, Kirchenvertretern, ehemaligen Offizieren und, ja das auch, von Widerstandskämpfern und deren Angehörigen gesiegt. Es ist ein verdammt später Sieg, der wohl nur möglich wurde, weil die Tätergeneration nicht mehr unter den Lebenden weilt. Aber es ist doch ein historischer Sieg.
- World Cup Philosophy: Germany vs France — Existential Comics — cool. (für die philosophiegeschichtlich nicht so bewanderten gibt es auch eine ausführliche erklärung dazu …)
- Autorenschaft revisted | Fixpoetry — »Autoren von Qualität tun und sagen Unerhörters, Schwerhörbares, Neuhörbares, sie experimentieren«
- Fontblog | Ed Sheeran’s Album Cover Fail — Kleiner Typo-Fehler ganz groß (was es nicht alles gibt!)
Augé plädiert in diesem Essay dafür, Vergessen als Teil der Erinnerung vom Ruch des Makels zu befreien: Vergessen ist für ihn insofern unauflöslich mit dem Erinnern verbunden, weil überhaupt nur durch das Vergessen von manchem manches erinnert werden kann und als Erinnerung verfügbar sein kann. Die Sicht ist die des Ethnologen (und die Reflektion seiner Methode(n) nimmt erheblichen Raum ein): Die zeitliche Gebundenheit der Fiktion (bzw. der Narration) des Lebens, aus der der Ethnologe (bei Augé gibt es keine Frauen ;-)) seine Erzählungen formt, sind ein wiederkehrendes Motiv. Und diese Erzählungen sind für ihn auf allen Ebenen immer Produkte des Gedächtnisses, womit das Vergessen wieder ins Spiel kommt. Fast nebenbei liefert er dazu viel Material und Anekdoten aus dem Schatz des Ethnologen zu Erinnern und Vergessen, aber eigentlich vor allem zu Fiktion und Erzählung (in die Vergessen und Erinnern hier immer eingebunden sind).
Vergessen ist für Augé nicht nur als Element der Erinnerung zu verstehen, sondern als produktiver Vorgang der Erzählung (und damit Gestaltung) der Wirklichkeit — denn Vergessen, so Augé, öffnet Möglichkeiten, Potentialitäten der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft. Also genau das, was Individuen und Gemeinschaften brauchen:
Gedächtnis und Vergessen bedingen sich gegenseitig, beide sind notwendig zum umfassenden Gebrauch der Zeit. […] Das Vergessen führt uns zur Gegenwart zurück […]. Man muss vergessen, um anwesend zu bleiben, vergessen, um nicht zu sterben, vergessen, um treu zu bleiben. (102f.)/
Strophen ist ein extrem deskriptiver Titel, denn das Lyrikdebüt Losses enthält genau das: Strophen. Genauer: 62 einzelne Strophen, alles Vierzeiler (eine sechsversige Strophe ist auch dabei) mit dem sehr auffallendenen Element des Kreuz- bzw. umarmende Reims organisiert. Getragen werden die kurzen Gedichte Losses durch ihre Liedhaftigkeit. Auch eine gewisse, schwebende Leichtigkeit ist ihrer Sprache eigen. Vor allem spricht aus ihnen (fast) allen aber ein großer, existentieller Ernst: “Verwüstung eine Seele schuf” heißt es zum Beispiel gleich in der ersten Strophe. Fragende Metaphern, offen für Antworten oder Einwürfe bestimmen die meisten Strophen. Sie können sich auch recht gut verlieren — in der Kürze, der Kleinheit und der (festen, vorgebenen, unangetasteten) Form. Und manchmal bleiben sie auch einfach in der Banalität des Reims und der religiös-christlich-kirchlichen Metaphern stecken, so dass ich nicht so recht weiß, ob ich — bei einigen sicherlich sehr guten „Strophen“ — den ganzen Band wirklich richtig gut finde …
XLVI
Gehst so leise in die Kirche,
fliehst so spät zum untern Grund.
Wessen Hand hat nur berühret,
wessen Weg dich hergeführet,
wessen Opfer schweigt dein Mund.
Gehst so leise in die Kirche.
großartig: Die Form des Kaddish, des jüdischen Trauergebetes, nutzt Böhmer, um den Leser mit so ziemlich allem zu konfrontieren, was sich denken lässt: Im Modus der Vergänglichkeit tauchen Sexualität und Phantasie, Bildung und Erleben, Hochkultur und Underground neben‑, über- und hintereinander auf. Das ist in seiner Dichte und vor allem der permanenten Anspannung kaum am Stück zu lesen. Zehn Kaddishs versammelt Böhmer in diesem Band (inzwischen ist ja noch ein zweiter erschienen), als eine Art Langgedichte mit 12 bis 50 Druckseiten Länge — also ganz schöne Brocken. Und da Böhmer immer mit einer kunstvoll gesuchten, ungeheuer vielfältigen, reichen Sprache auf höchstem Niveau arbeitet, verlangt das auch dem Lesen viel Konzentration, Aufmerksamkeit und Durchhaltewillen ab — Anstrengungen, die sich aber lohnen, denn in seiner konzentrierten Erschöpfung der Vergänglichkeit der Welt und des Lebens ist Böhmer ein großartiger Lyriker.
Der Verlag — und auch einige Rezensenten — können sich ja vor Begeisterung über diesen Wälzer kaum einkriegen. Ganz so ging es mir nicht. Das liegt aber nur zum Teil an Fried selbst, sondern auch am Verlag. Nervig fand ich die — für einen Verlag wie Beck! — extrem niedrige Lektorakts- und Produktionsqualität. Ein paar Beispiele: die Kapitälchen ohne Kleinbuchstaben, Flüchtigkeitsfehler (wie die falsche Verortung Ingelheims auf der Karte oder falsche, nicht erklärte Abkürzungen im Text) und der auf Dauer etwas steife Stil, der etwas lektorierende Glättung durchaus vertragen hätte, falsche Anmerkungen, die verwirrende Nummerierung der Abbildungen und Farbtafeln, das fehlende Abbildungsverzeichnis, der falsche Kolumnentitel im Appendix, der billige Umschlag …
Aber es geht ja um den Text selbst. Der bietet sehr, sehr viel — aber nicht unbedingt das, was der Untertitel verspricht. “Eine Biographie” ist das nämlich allerhöchstens peripher, eigentlich überhaupt nicht. Das Leben eines karolingischen Herrschers ist ja nicht mehr auszuloten, worauf Fried selbst natürlich hinweist — also breitet ein Mittelalter-Historiker alles aus, was er aus und über diese Zeit weiß. Das ist manchmal sehr allgemein und manchmal sehr speziell (wie sich überhaupt mir manchmal der Eindruck aufdrängte, dass Fried nicht so genau wusste, für wen er eigentlich schreiben will: für den interessierten Laien? — Dafür setzt er ziemlich oft sehr gründliche Vorkenntnisse voraus. Für die Fachkollegen? Dafür ist manches etwas allgemein bis überflüssig (und die Anmerkungen bzw. das Literaturverzeichnis etwas ungenau …). Gerade das Panorama der frühmittelalterlichen Welt macht diesen Karl aber so wertvoll.
Und Frieds Ansatz, Karls Leben und Handlungen mit zwei Motivationssträngen — den im Untertitel genannten Komplexen “Gewalt” und “Glaube” — zu erklären, ist durchaus nachvollziehbar und richtig. Auch wenn, wie er es selbst entwickelt, die “Gewalt” — insbesondere eben die Kriege wie die gegen die Sachsen — (fast) immer aus dem “Glauben” erwächst. Das gelingt Fried übrigens sehr schön, der Versuch, Karl und seine Motivation aus dem Wissen und den Überzeugungen seiner Zeit zu erklären. Fast bestechend wird das etwa bei der Frage nach der Kaiserkrone — ein Unternehmen, dass Fried durchaus schlüssig mit dem Verweis auf die verbreitete und wahrgenommene Endzeitstimmung um 800 erklären kann.
Obwohl ich Ann Cotten als Lyrikerin durchaus mit Wertschätzung und Interesse wahrgenommen habe, kann ich mit ihrem ersten Erzählungsband eher wenig anfangen. Das ist sehr wild, ungezähmt, ungeformt scheint es oft — wuchernd in Phantasie und Stil. Meistens/immer geht es um Liebesbeziehungen, um den Beginn einer Vertrautheit und Zuneigung und Liebe — aber in sehr seltsamen Konfigurationen und Beschreibungen. Schön und klug sind die eingearbeiteten (oft eher unauffälligen, selten expliziten) Gender-Thematisierungen. Manches hat durchaus poetisches Potential, das sich auch beim ersten Lesen zeigt. Anderes erschien mir eher fahrig und ausufernd, mehr Einfall als Form, mehr Idee als Ausarbeitung, mehr Prätention als Einlösung. Aber vielleicht bin ich da etwas ungerecht — jedenfalls verspürte ich öfters einfach keine Lust, micht auf diese Textwelten wirklich einzulassen (warum auch immer).
Und von jetzt ab und eine ganze Zeit über
Wird es keinen Sieger mehr geben
Auf eurer Welt, sondern nur mehr
Besiegte.
Bertolt Brecht, Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer
Kann man ein Buch über Google besprechen, wenn man noch nicht einmal weiß, was Googles prominenter Button “I’m feeling lucky” heißt und bedeutet? Das scheint mir schon ein erstaunliches Nichtwissen zu verraten, was die Autorin der “Zeit” da an den Tag legt, wenn sie “I’m feeling lucky” — also den Button, der bei der Google-Suche direkt das erste Ergebnis aufruft und die Sucherergebnisseite umgeht — mit “Ich bin zufrieden” übersetzt. Denn das macht ja einfach überhaupt keinen Sinn. Zumal die deutsche Google-Seite ja eine passende Übersetzung bereithält: “Auf gut Glück!” steht da.
Übrigens ist der Rest des Textes zwar vielleicht nicht so offensichtlich falsch. Zumindest nachlässig ist es aber, das Buch als den “erste[n] Insider-Bericht” über Google anzupreisen — davon gab es ja durchaus schon einige, nur wohl nicht als Buch, sondern meistens online. Und das Übrige ist dann doch fast maximal belanglos …