„Ich bin geduldig, warte nicht, die Zeit
kann keiner Ankunft als Begründung dienen.“
(Christian Lehnert, Aufkommender Atem, 29)
Schlagwort: zeit
Jetzt auch noch die „Zeit“ (nach der FAZ). Wieder werden falsche Gegensätze aufgebaut, falsche Positionen behauptet – kurz: PR wird unhinterfragt übernommen. Ist das wirklich nötig?
Christoph Schröder schreibt unter dem unsinnigen Titel „Die Debatte, die keiner versteht“ (natürlich wird die verstanden!) zum Beispiel:
Eine neue Generation von Verbrauchern betrachtet den freien weltweiten Zugang zu Daten als Selbstverständlichkeit und jede Einschränkung als unzulässigen Eingriff in die Informationsfreiheit. Dem gegenüber steht ein Verleger vom alten Schlag wie Börsenvereins-Vorsteher Gottfried Honnefelder, der unermüdlich für die Urheberrechte von Autoren eintritt. Hinter den konträren Positionen von Open-Access-Befürwortern und Schutzrechtbewahrern stehen unvereinbare Weltbilder und inkompatible Begriffe von Kultur.
Da stecken eine Menge Probleme dahinter. Die „neue Generation von Verbrauchern“ (was ja auch wieder Unsinn ist, das Lesen eines Buches ist doch kein „Verbrauch“, das Buch ist doch danach immer noch da!) will also, so Schröder offensichtlich, immer und überall alle Daten umsonst haben. Sicher mag es solche Positionen geben, aber das ist erstens nicht der Punkt und zweitens wohl nur eine Minderheit. Worum es geht ist ein vernünftiger, angemessen bepreister Zugang zu Daten. Und dazu gehört, das ist doch im Moment das Hauptproblem, dass zum Beispiel Kunstwerke nicht so enorm lange monopolisiert vermarktet werden dürfen, sondern früher als momentan gemeinfrei werden sollten.
Dann kommt wieder der schöne Gegensatz: Bisher – die Verbraucher – ging es um „Daten“, also irgendetwas einfaches, minderwertiges. Jetzt kommt, als Gegenposition, der „Verleger vom alten Schlag“. Das impliziert natürlich, dass es Honnefelder nicht primär um Gewinne geht, sondern darum, die Kunst, die Literatur zu verbreiten, zugänglich zu machen (warum er sich dann im Gegensatz zu den angeblichen Jüngern des freien Zugangs positionieren muss – das ist ein Paradox dieser hier implizit aufgeauten Gegensätze, das schon darauf hinweist, dass diese Schilderung nicht der Realität enspricht). Nun aber kommt der größte Witz, der eigentlich eine Unverschämtheit ist: Honnefelder setze sich als Vorsitzender des Börsenvereins „unermüdlich“ für das „Urheberrecht der Autoren“ ein. Das ist ja wohl bloße Verhöhnung! Erstens geht es ja gar nicht um das Urhberrecht der Autoren, das möchte (außer extremen Vertretern) kaum jemand ihnen abstreiten oder „abnehmen“. Es geht doch vor allem darum, was dem ganzen folgt: Die Monopolisierung der Vermarktung des Urheberrechts durch Verlage durch überlange Schutzfristen. Dafür setzt Honnefelder sich ein, deswegen lügt er sich Positionen etwa der Piratenpartei zurecht.
Nun der nächste Schlag: Schröder vermischt das jetzt auch noch mit der Open-Access-Bewegung – einer Bewegung, die vorwiegend aus dem Bereich wissenschaftlicher Veröffentlichungen kommt und dort sehr, sehr viel Sinn hat. Die werden jetzt gleich auch noch zu den Gegnern der Schutzfristen gemacht (was so auch wieder überhaupt nicht stimmt!). Und dann noch die absolute Keule: „unvereinbare Weltbilder“ und „inkompatible Begriffe von Kultur“. Damit ist dann ja eigentlich die Diskussion für überflüssig, für unmöglich erklärt worden. Aber das stimmt auch wieder nicht: Die unterschiedlichen Begriffe für Kultur – was soll das denn bitte schön sein? Das erklärt Schröder wohlweislich nicht. Und warum sie inkompatibel sind, verschweigt er ebenfalls. Muss er ja, es gibt sie schließlich gar nicht.
Mit welchen unsauberen journalistischen Mitteln die „Zeit“ bzw. Schröder arbeitet, sieht man auch einige Absätze später. Dort heißt es:
Marina Weisband, die politische Geschäftsführerin der Piratenpartei, macht hingegen auch auf der Messe noch einmal deutlich: „Der Kopierschutz muss weg.“ Den Namen Gottfried Honnefelder kennt sie übrigens gar nicht.
Die Intention ist klar: Die Piraten (hier noch ) sind Kulturbanausen, die nicht einmal so wichtige, ganz unbedingt notwendig zu kennende Persönlichkeiten wie den Herren Honnefelder kennen. Das ist natürlich gemeiner Schwachsinn – und sagt über inhaltliche Auseinandersetzungen überhaupt nichts aus. Ich würde außerdem wetten, dass Honnefelder den Namen Marina Weisband ebenfalls „übrigens gar nicht“ kennt. Doch was sagt uns das? Die Zeit macht Kampagnenjournalismus, lässt sich von der PR des Börsenvereins vereinnahmen. Und betrügt ihre Leser.
Da sitzt er also, verschwindet fast hinter seinem Buch mit dem auffälligen orangefarbenen Umschlag, wirkt noch kleiner und zerbrechlicher als sonst. Aber seine Stimme, die dringt mühelos über das Publikum hinweg bis in die letzte Reihe und füllt das Antiquariat am Ballplatz ganz und gar aus. Peter Kurzeck, der aus Böhmen stammende, bei Gießen aufgewachsene, lange in Frankfurt lebende und nun in Südfrankreich schreibende Meister der Erinnerung und der Vergegenwärtigung liest aus seinem letzten Buch, „Oktober und wer wir selbst sind“. Die Lesungen Kurzecks sind immer ein Fest für seine Leser und Fans, von denen es in Mainz inzwischen eine ganze Menge gibt – die Stühle im Antiquariat reichten gar nicht für alle, eine schöner Erfolg für den Veranstalter, das Literaturbüro Mainz. Denn Peter Kurzeck liest nicht nur einfachr, was er mal, vor einigen Jahren, irgendwann aufgeschrieben hat. Nein, er trägt es wirklich vor. Mit schwebenden Betonungen, manchmal fast singend. Und immer mit großem, beinahe kindlichem Erstaunen über diesen Text, den er da vor sich liegen hat. Dieses Erstaunen, das ist eine echte Kurzecksche Qualität. Es findet sich nämlich schon im Buch selbst: Als Staunen über die Welt, die den Erzähler umgibt. In „Oktober und wer wir selbst sind“ ist es das Frankfurt im Herbst 1983, die Wohnung in Bockenheim, die Wege in der Stadt und an ihren Rändern, mit Frau und Kind, zum Einkaufen und zum Kinderladen, im vergangenen Sommer und beginnenden Herbst. Und natürlich das Schreiben selbst – der Erzähler hat gerade sein drittes Buch begonnen. Kurzeck liest in Mainz aus den beiden ersten Kapiteln von „Oktober“, die genau den Moment beschreiben, in dem der Sommer endgülig vorüber ist. Aber in dem zugleich auch der Herbst schon da ist, schon etwas Neues begonnen hat. Das klingt alles furchtbar banal. Und ist es eigentlich auch. Nicht aber für Peter Kurzeck. Er verzaubert das nämlich: Durch die Erinnerung an den Alltag, das übliche und das ungewöhnliche, das banale und außerordentliche Geschehen wird das alles schon wieder ganz anders und besonders. Und durch seinen feinen, präzisen, verknappten und doch beredten Stil, der ihn schon so lange zu einer ganz außergewöhnlichen Erscheinung der deutschen Gegenwartsliteratur macht, wird es geradezu überhöht. Das Ergebnis, sein Buch und seine Lesung, ist berührend. Und mächtiger, auch dauerhafter als der kleine, unscheinbare Mann, der sie geschaffen hat.
(geschrieben für die mainzer rhein-zeitung)
kann es nicht wirken, sondern die dinge, die in der zeit sind.“—Zedler, Art. Volck (1740)
gerade habe ich mein erstes mitternachts-doppel hinter mich gebracht. weil ich meine serie des täglichen laufens, die jetzt schon über 275 tage läuft, nicht unterbrechen will und trotzdem meiner mittlerweile zwei wochen alten blase möglichst viel zeit zur heilung geben möchte (nachdem ich das am bodensee ja durch die mischung aus wasser und laufen tatkräftig verhindert habe), beschloss ich, meine pflichten für den sonntag und den montag mit einem mitternachts-doppel (midnight-double in der internationalen sprache der streaker) zu absolvieren. das heißt: ich bin um 23:47 losgerannt, habe nach 3,2 km und 11:34 Minuten rennens pause gemacht, bis der dom und meine uhr mir den beginn des montags angezeigt haben und bin dann die 3,2 km in 12:32 minuten wieder zurück gelaufen – und das alles mit erstaunlich wenig schmerzen an der blase: das compeed-pflaster scheint doch langsam zu helfen.
schon der titel ist ja ein meisterwerk – ein anspruch, den der roman auch einö?sen kann: „Ein Buch, wie es noch keins gibt, aber wie es scheint, merkt das keiner.” (154 – das schreibt der erzähler über sein zweites buch. die parallelen zu peter kurzeck und dessen „das schwarze buch” von 1982 sind natürlich alles andere als zufällig. immerhin merken die qualität inzwischen ein paar mehr. aber das sind immer noch nur die kritiker – leser gibt es immer noch zu wenige. dabei hätte die lektüre von kurzecks büchern für die meisten einen gewaltigen gewinn und erkenntniszuwachs zu bieten – erheblich mehr als die bücher, die sich so auf den bestsellerlisten tummeln.) und auch sonst ist es wieder ein echter kurzeck – unbedingt, etwas monomanisch, aber faszinierend und fesselnd. nicht nur wegen der stilistischen virtuosität – kaum ein anderer gegenwärtiger autor hat so einen unverkennbar eigenen stil oder besser gesagt tonfall: denn es klingt immer, das von kurzeck geschriebene, es schwebt quasi schwerelos wie zarte kammermusik – sondern auch seiner themen und motive wegen. das buch ist wieder übervoll von schönen stellen, schönen formulierungen – einige stehen ja auch hier…
der beginn ist schon ein ende und verlust – oder umgekehrt: das ende ist der beginn – der anfang des erzählens: –> von dort startet das schreiben, das des erzählers und das des autors. aus angst, das geschehene, d.h. vergangene, zu verlieren – und aus dieser furcht beginnt sofort die suche nach der vergewisserung: „[…] wisst ihr den Sommer noch?” (7)
und noch etwas zeigt sich schon auf den ersten seiten: die gewissheit, die vergangenheit verloren zu haben, ist noch stärker als sonst (wenn ich die letzten bücher recht erinnere, die lektüre ist jetzt schon eine weile her): „unauffindbar. […] für immer in einem kerker.” (10) da hilft dann nur noch das erzählen: erzählen, um die wirklichkeit (der vergangenheit) aufzubauen, „in Gang” zu halten.
die erinnerung wird allerdings immer unsicherer, immer ungerichteter und fragiler: „Nachträglich kommt dir vor, du hättest ihn an einunddemselben Tag wenigstens zwei- oder dreimal gehört.” (50) aber alles ist verloren, die erinnerung, das gedächtnis, die orte, die ganze vergangene realität – und die gegenwart als zuk?nftige vergangenheit auch schon: „Wo ist der Tag hin?” (50) und diese ahnung der wiederholung der realität greift inzwischen selbst auf die träume aus: „[…] oder den gleichen Traum immer wieder?“ (75) aber noch ist hoffnung (freilich ist die auch schon zwiespältig und gebrochen): „Und dann bleibt dir für immer das Bild.” – man muss es nur richtig und immer wieder erzählen. die frage ist dann nur: „wohin jetzt mit dieser geschichte?” (71). für diese art zu erzählen, zu schreiben gibt es allerdings keine direkten wege – und genau das macht eine wesentliche faszination der lektüre aus: „beim erzählen immer noch einen umweg.” (29). schlie?lich ist das ganze buch ein einziger umweg – eigentlich sollte es nur ein einziges kapitel der vorgeschichte sein, kein eigener roman.
auch das schreiben an sich spielt natürlich (wieder) eine große rolle – von anfang an. und wieder ist der erzähler seinem text ziemlich gnadenlos ausgeliefert: „Noch bei keinem Buch hat die Sprache mich so sehr gepackt, wie bei diesem – oder denkst du das jedesmal wieder?” (19) insbesondere die enden der kapitel führen immer wieder zum prozess des schreibens hin, zum erzählen an sich, zu den projekten des erzählers. und die sind schon lange mehr oder weniger zwanghaft geworden: „Ausnahmsweise vielleicht heut nicht mehr? Ausruhen? Eine Pause? Aber das fehlt mir dann morgen früh und was fehlt, fehlt für immer.” (111) sp?ter hei?t es dann noch einmal: „Doch inzwischen will die Zeit, die kein Einssehen hat, mir keine Ruhe mehr lassen.” (162)
und natürlich auch die zeit an sich wieder thema – das themas überhaupt, das kurzeck in seinen büchern umtreibt (vor allem natürlich in der chronik der frankfurter achtziger): hier ist sie aber noch offener thematisiert als in den letzten werken: „Die Zeit. Als ob man sich selbst sucht. Wo bin ich, wenn ich nicht bei mir bin? Wo geht die Zeit mit uns hin?” (23) oder später: „Daß die Zeit auch so schnell vergeht! Man weiß es und kann es doch nicht begreifen” (101)
die probleme der zeit: einerseits fliegt sie, rast davon – andererseits verlangsamt sie bis zum stillstand: „Ist für uns die Zeit stehengeblieben? Ist es jeden Herbst wieder der gleiche Tag?” (45) und dann taucht aber auch noch immer wieder die frage auf: „Wie soll man die Zeit erzählen?” (77) die kernfrage, die kurzeck (und seinen erzähler) schon länger beschäftigt und begleitet, wird nun immer expliziter gestellt: „[…] und in Ruhe die Zeit, immer weiter die Zeit aufschreiben. Den Fluß und die Zeit und das ganze Land.” (121)
viel stärker spielen daneben allerdings auch die fragen der realität eine rolle: gibt es zeit überhaupt? gibt es die dinge, vor allem aber gibt es orte? – oder ist alles nur ausgedacht, imaginiert? die zeit wird dabei auch noch stärker verdinglicht, zum objekt gemacht: „Wie die zeit selbst. als ob es die zeit ist, die immerfort über sie hinstreicht, unablässig, die heilige zeit.” (94) mehr noch als früher tritt dem leser peter kurzeck hier nicht nur als phänomenologe, sondern auch als erkenntniskritiker gegenüber. genau deshalb beherrscht ihn auch der zwang zur wiederholung (und zur wiederholung gehürt auch das erzählen als wiederholen – auf anderer stufe – der erlebten wirklichkeit): „Man muß sie glauben, weil man sie sieht, aber kann sie sich nicht erklären.” (47) – und dann sind ja da noch „überall Zeichen. […] Aber wie soll man die Zeichen deuten?” (49) – Zeichen haben sich ubiquitär ausgebreitet, alles wird zum Zeichen, der Erzähler weiß nicht mehr, was jetzt Zeichen ist und was nicht – von der Frage ihrer Bedeutung natürlich einmal ganz abgesehen.
ein anderes motiv, dass neu ist, durchzieht den text auch noch: der vater des erzählers taucht immer mehr und deutlicher auf – bisher war es vor allem die mutter der erzählers „peter”, die in den texten vorkam – hier wird immer wieder auch auf den vater bezug genommen.
und das alles gibt wieder so einen herrlichen text, das man nur ins schwärmen kommen kann. wie anders kann man auch auf solche zeilen reagieren: „Man kommt an und Ort und Zeit warten schon” (173)?
peter kurzeck: oktober und wer wir selbst sind. frankfurt am main: stromefeld 2007.