Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: ulf stolterfoht

wirkkraft der dichtung

immer stärkere leserge­hirne bedro­hen die wirkkraft der dich­tung.—Ulf Stolter­fo­ht, fach­sprachen XXIV, dog­ma für dich­tung, 2005

web (unsplash.com)

Ins Netz gegangen (2.11.)

Ins Netz gegan­gen am 2.11.:

  • Jens Balz­er zu Musikvideos: Youtube kills the Youtube-Star Justin Bieber | Berlin­er Zeitung → jens balz­er über den aktuellen zusam­men­hang von pop, stars, youtube, konz­erten und fans

    Der Ver­such, als real musizieren­der Men­sch auf ein­er Bühne wenig­stens kurz zu reinkarnieren, scheit­ert an der Indif­ferenz eines Pub­likums, dem es reicht, in virtuellen Räu­men und bei sich sel­ber zu sein. Der erste Star der Youtube-Epoche wird als deren tragis­ch­er Held von der Bühne gekreis­cht.

  • Was a serv­er reg­is­tered to the Trump Orga­ni­za­tion com­mu­ni­cat­ing with Russia’s Alfa Bank? | slate → eine total ver­rück­te geschichte: trump hat(te) einen serv­er, der (fast) nur mit einem serv­er der rus­sis­chen alfa-bank kom­mu­nizierte. und kein­er weiß, wieso, was, warum — bei­de seit­en behaupten, das könne nicht sein …

    What the sci­en­tists amassed wasn’t a smok­ing gun. It’s a sug­ges­tive body of evi­dence that doesn’t absolute­ly pre­clude alter­na­tive expla­na­tions. But this evi­dence arrives in the broad­er con­text of the cam­paign and every­thing else that has come to light: The efforts of Don­ald Trump’s for­mer cam­paign man­ag­er to bring Ukraine into Vladimir Putin’s orbit; the oth­er Trump advis­er whose com­mu­ni­ca­tions with senior Russ­ian offi­cials have wor­ried intel­li­gence offi­cials; the Russ­ian hack­ing of the DNC and John Podesta’s email.

    (und neben­bei ganz inter­es­sant: dass es spezial­is­ten gibt, die zugriff auf solche logs haben …)

  • The Dig­i­tal Tran­si­tion: How the Pres­i­den­tial Tran­si­tion Works in the Social Media Age | whitehouse.gov → die pläne der über­gabe der dig­i­tal­en massenkom­mu­nika­tion (und accounts) des us-präsi­den­ten. inter­es­sant: dass die inhalte zwar erhal­ten bleiben, aber als archiv unter neuen account-namen. und die “offiziellen” accounts geleert übergeben wer­den.
  • Refor­ma­tion­sju­biläum: Lasst uns froh und Luther sein | FAZ → sehr selt­samer text von jür­gen kaube. am refor­ma­tion­sju­biläum gäbe es einiges zu kri­tis­eren. aber das ist der falsche weg — zum einen ist die evan­ge­lis­che kirche deutsch­lands keine luther-kirche (und käß­mann sich­er nicht ihre wesentlich­ste the­olo­gin). zum anderen scheint mir kaubes kri­tikpunkt vor allem zu sein, dass evan­ge­lis­che the­olo­gie sich in den 500 jahren gewan­delt hat und nicht gle­icher­maßen kon­ser­v­a­tiv-fun­da­men­tal­is­tisch-autoritär ist wie bei luther selb­st. was soll das aber?
  • Siri Hustvedt und Paul Auster | Das Mag­a­zin → langes gespräch mit hustvedt und auster, dass sich aber nahezu auss­chließlich um die poli­tis­che lage dreht — immer­hin eine halbe frage gilt auch dem, was sie tun — näm­lich schreiben
  • Das Para­dox der Demokratie: Judith But­ler über Hillary Clin­ton | FAZ → langes, gutes inter­view mit judith but­ler über demokratie, ver­samm­lun­gen, frei­heit­en, kör­p­er und iden­titäten
  • Aids in Ameri­ka: HIV kam um 1970 in New York an | Tagesspiegel → forsch­er haben mit genetis­chen analy­sen von blutkon­ser­ven die geschichte von aids in den usa neu geschrieben — nicht patient O war der erste, der virus kam schon jahre vorher nach new york. span­nend, was heute so alles geht …
  • Frank­furter Buchmesse „Schwierige Lyrik zu einem sehr hohen Preis“ | Berlin­er Zeitung → mal wieder ein inter­view mit ulf stolter­fo­ht zum funk­tion­ieren von brue­terich press. dem ver­lag würde es wahrschein­lich mehr helfen, wenn seine büch­er besprochen wür­den und nicht nur der ver­lag ;-) …

    Ich ver­di­ene nicht nur mit dem Schreiben kein Geld, ich ver­di­ene auch mit dem Über­set­zen kein Geld. Da möchte man dann mit dem Ver­legen natür­lich auch nichts ver­di­enen. Das berühmte dritte unrentable Stand­bein. Das Para­doxe an der Sache ist nun aber, dass ich trotz­dem irgend­wie davon leben kann, und das schon ziem­lich lange. Diese ganzen nicht oder schlecht bezahlten Tätigkeit­en haben, zumin­d­est in meinem Fall, dazu geführt, dass eine indi­rek­te Form der Vergü­tung stat­tfind­et, also etwa in Form von Preisen, Stipen­di­en, Lehrtätigkeit­en, Lesun­gen und Mod­er­a­tio­nen. Und ich glaube, dass durch die Ver­legerei das Spielfeld noch ein biss­chen größer gewor­den ist. Das hat jedoch bei der Grün­dung des Ver­lags keine Rolle gespielt. Den Ver­lag gibt es, weil ich das schon sehr lange machen wollte. Schreiben tue ich ja auch, weil ich das schon immer wollte. Das reicht mir völ­lig aus als Begrün­dung. Mehr braucht es nicht.

  • “Die Ökonomisierung der Natur ist ein Fehler” | der Fre­itag → bar­bara unmüßig, im vor­stand der hein­rich-böll-stiftung, über “grüne ökonomie”, notwendi­ge umdenkprozesse und warum kom­pen­sa­tion nicht reicht

    Wir bräucht­en vielmehr Mit­tel für den ökol­o­gis­chen Land­bau oder um her­auszufind­en, wie eine wach­s­tums­be­friedete Gesellschaft und Wirtschaft ausse­hen kann. Es liegt ein­deutig zu viel Gewicht auf tech­nol­o­gis­chen denn auf sozialen und kul­turellen Verän­derun­gen.

    Das ist der wohl größte Fehler der Grü­nen Ökonomie: Dinge, die nie ökonomisiert waren, zu messen, zu berech­nen, zu ökonomisieren. Die Mon­e­tarisierung der Natur.

Aus-Lese #44

Nora Bossong: 36,9°. Berlin, München: Hanser 2015. 318 Seit­en.

bossong, 36,9°Das ist in meinen Augen ein sehr schwach­er Roman, der mich sehr ent­täuscht hat. Schon Gesellschaft mit beschränk­ter Haf­tung hat mich zwar auch nicht großar­tig begeis­tert, war aber doch deut­lich bess­er, was etwa die Kon­struk­tion und die stilis­tis­che Ausar­beitung ange­ht — bei­de Romane bestärken eigentlich nur meinen Wun­sch, von Bossong (wieder) mehr Lyrik zu lesen …

Der Text von 36,9° wirkt merk­würdig müde und erschöpft. Vielle­icht ist das ja eine beab­sichtigte Par­al­lele von Inhalt und Form (schließlich geht es um das aufzehrende, schwierige, harte Leben des Anto­nio Gram­c­si), aber mich hat das trotz­dem aus Grün­den, die ich nicht so genau benen­nen kann, eher abgestoßen. Erzählt wird in zwei Per­spek­tiv­en in zwei (groben) Zeit­ebe­nen das Leben Gram­c­sis und eine Art Forschungsaufen­thalt des Gram­c­si-Spezial­is­ten Anton Stöver, der in Rom nach einem ver­schol­lenen Manuskript sucht. Wieso es diese Dop­pelung von Erzäh­ler und Zeit­en eigentlich gibt, ist mir nicht so ganz klar gewor­den — nur um die Überzeitlichkeit zu beto­nen? Um nicht in den Ver­dacht zu ger­at­en, eine Gram­c­si-Biogra­phie zu schreiben? Und wozu ist dann der Man­skript-Kri­mi (der ja als solch­er über­haupt nicht funk­tion­iert, weil er nicht richtig erzählt wird, son­dern nur als Hil­f­s­mit­tel dient und ab und an her­vorge­holt wird …) gut? Oder sollen die Zeit­ebe­nen nur sig­nal­isieren, dass dies kein „nor­maler“ his­torisch­er Roman ist? (Der in den Gram­sci-Kapiteln als solch­er auch eher schlecht funk­tion­iert, aber das ja wiederum auch gar nicht sein will …)

Zur Poli­tik bleibt der Text dabei merk­würdig dis­tanziert, die Lei­den­schaft etwa Gram­c­si (im wahrsten Sinne, näm­lich mit all den Lei­den) wird vor allem behauptet, aber nicht eigentlich erzählt. Und das pri­vate fühlt sich oft auf­dringlich, etwas schmierig an (wie Boule­vard­jour­nal­is­mus). Das erschien mir oft als eine Art unge­wollte Nähe, ein intimes Stochern, von deren Notwendigkeit die Erzäh­ler selb­st nicht so ganz überzeugt schienen. Zumal Stöver ist ja auch ein aus­ge­sproch­en­er Unsym­pa­th — und auch Gram­c­si bleibt eine selt­same Fig­ur. Bei­de Charak­tere sind dabei selt­sam rück­sicht­s­los gegen sich selb­st und ihr pri­vates Umfeld. Und ger­ade das, was ja der Kern des Romans zu sein scheint, bleibt extrem blass, kaum motiviert — weil die Ideen, die diese Rück­sicht­slosigkeit erfordern, höch­stens angeris­sen wer­den.

Wenn die Ver­lagswer­bung das Ziel des Buch­es richtig beschreibt: „Nora Bossong erzählt vom Kon­flikt zwis­chen den großen Gefühlen und dem Kampf für die ganze Men­schheit“, dann funk­tion­iert 36,9° über­haupt nicht. Und das liegt unter anderem eben daran, dass der “Kampf für die ganze Men­schheit”, die Weltverbesserung eigentlich gar nicht vorkommt, der Text bleibt viel zu sehr im indi­vidu­ellen, biographis­chen Klein-klein steck­en. Dazu kommt dann noch eine für mich unklare Struk­tur — die Rei­hen­folge der Kapi­tel mit den Vor- und Rück­blenden sowie die Erzäh­ler­wech­sel erschließen sich mir ein­fach nicht. Ab und an funkelt mal ein schön­er Satz, ein gelun­gener Abschnitt. Aber der Rest ist ein grau zer­fließend Textbrei, der mich wed­er faszinieren noch überzeu­gen kann.

[…] ich wollte die Dinger nicht mehr bis zum Grund durch­schauen, denn was lag dort? Nur Steine und Kiesel, nur Fußnoten und Quel­lenangaben. (25)
Ulf Stolter­fo­ht: Wurl­itzer Juke­box Lyric FL — über Musik, Euphorie und schwierige Gedichte. München: Stiftung Lyrik Kabi­nett 2015. 32 Seit­en.

stolterfoht, wurlitzer jukebox lyric flDer Titel der Münch­n­er Rede zur Poe­sie von Ulf Stolter­fo­ht, dem Autor so vorzüglich­er Zyklen wie den Fach­sprachen und jet­zt Ver­leger der Brue­terich-Press (der selb­st viel zu wenig veröf­fentlicht …) sagt eigentlich schon alles: „Über Musik, Euphorie und schwierige Gedichte“ spricht er. Stolter­fo­ht, der sich als „Experte für Euphorie“ (7) vorstellt und „Ahnung“ von „der“ Lyrik erst ein­mal kat­e­gorisch verneint, führt anhand ein­er rei­he Gedichte exem­plar­isch vor, was Lyrik ist und kann, was Sprache im Gedicht aus­macht und natür­lich auch, was „schwierige Lyrik“ (heutzu­tage ja fast ein Pejo­ra­tivum) eigentlich ist. Und er betont, dass das „Nicht-ver­ste­hen-müssen“ dieser Gedichte eine großar­tige Erfahrung ist — für Leser und Schreiber. Für bei­de Seit­en ist das eine Befreiung, die einen uner­schöpflichen Reigen an Möglichkeit­en eröffnet.

Neben­bei weist er darauf hin, dass das — heute vielle­icht mehr als je zuvor vorhan­dene — Wis­sen und Kön­nen im Umgang mit Sprache und Gedicht­en noch lange keine Exper­i­men­tier­freudigkeit ist. Stolter­fo­ht bedauert aus­drück­lich, dass „die Bere­itschaft stark abgenom­men hat, ein höheres ästhetis­ches Risiko einzuge­hen“ (29). Auch wenn er dann das Gelin­gen eines Gedicht­es eher tra­di­tionell als „Regel“-Erfüllung beschreibt, oder bess­er als: „dass ein zuvor gefasster Plan, sei er for­maler und / oder inhaltlich­er Art, glück­haft erfüllt wurde“ (29), sollte für Stolter­fo­ht, das macht er unter anderem mit mehrfachen Bezü­gen auf Diedrich Diederich­sen deut­lich, aber zumin­d­est ergänzt wer­den um so etwas wie Authen­tiz­ität, einen Moment des Kairos vielle­icht. Trotz des deut­lich beton­ten Emphatik­er-Stand­punk­tes (Lyrik kann alles und ermöglicht Leben erst!) ste­ht dahin­ter aber genaueste Lek­türe und Analyse fremder und eigen­er Gedichte, ohne die Euphorie des erken­nen­den (und iden­ti­fizieren­den) Lesens dadurch zu verneinen oder auszuschal­ten, son­dern ger­adezu zu ver­stärken.

Und wie kon­nte es sein, dass ich kein Wort, keinen Satz ver­stand, und doch genau wusste, dass ich genau das immer hat­te lesen wollen, und dass ich es jet­zt gefun­den hat­te, und dass ich nie mehr etwas anderes würde lesen wollen. Das Gefühl, eine Mauer durch­brochen zu haben, ein­fach so, ganz leicht, ohne jede Anstren­gung, und hin­ter dieser Mauer tat sich etwas auf, ein Raum, ein wirk­lich­er Raum, in dem man würde leben kön­nen. (11)

Franz Richard Behrens: Erschossenes Licht. Her­aus­gegeben von Michael Lentz. Wiesen­burg: hochroth 2015. 36 Seit­en.

Es ist für mich immer wieder erstaunlich, welch große und großar­tige Gedichte die Expres­sion­is­ten in den Jahre während und um den Ersten Weltkrieg schrieben. Und ich ent­decke immer wieder, dass ich viel zu wenige davon kenne. Auch Franz Richard Behrens gehört zu diesen Dichtern. Er war eigentlich genau nur in dieser engen Zeitspanne über­haupt dich­ter­isch tätig: Ein einziger Band Lyrik — Blut­blüte — ist von ihm 1917 erschienen. Während des Nation­al­sozial­is­mus kann man ihn vielle­icht zur „Inneren Emi­gra­tion“ zählen, 1961 über­siedelte er dann nach Ost­ber­lin. Aber die ganzen Jahre bis zu seinem Tod 1977 blieben ohne weit­ere lit­er­arische Veröf­fentlichun­gen. Offenkundig war der Weltkrieg da so eine Art Katalysator, der die Lyrikpro­duk­tion auslösten/vorantrieb.

Auf­fäl­lig ist nun, finde ich, wie avanciert diese weni­gen Gedichte waren und sind — und wie zeit­gemäß und zeit­genös­sisch sie heute noch erscheinen. Aus allen Gedicht­en, die Michael Lentz in dieser kleinen Auswahlaus­gabe für den feinen hochroth-Ver­lag zusam­mengestellt hat, spricht eine beein­druck­ende Inten­sität und auch eine große Frei­heit: Sie sind frei von for­malen Zwän­gen und Tra­di­tio­nen, lassen so ziem­lich alle Kon­ven­tio­nen hin­ter sich. Hier erscheint Sprache als rein­er Aus­druck, hier spürt man, wie ein Dichter um Aus­drucksmöglichkeit für ganz neue und neuar­tige Erleb­nisse — vor allem die Gewalt und Sinnlosigkeit eines mech­a­nisierten Krieges — ringt. Und wie er sie auch find­et und den Vol­lzug des Erlebens am und im Wort fix­iert und nachvol­lzieht. Ein Moment der Seri­atl­ität gehört dazu, mit min­i­mal­is­tis­chen Ele­menten, etwa in „Preußisch“ oder „Quer durch Ost­preußen“. Aber auch gle­ich das eröff­nende „Expres­sion­ist Artillerist“ zeigt das, mit der Ver­schränkung einzel­ner Gedichtzeilen und einem kon­tinuier­lichen Zählen (ich lese das “Ein-und-zwanzig” etc. als das Abzählen von Sekun­den, etwa bis zum Ein­schlag der Granate …), das ganz geschickt ins Hinken gerät bzw. einzelne Zahlen über­springt, wenn die geschilderte Wahrnehmungs­dichte sozusagen steigt und das nicht mehr in einen Vers passt:

[…] Neun-und-zwanzig
die Luft stinkt Mil­lio­nen Schwe­fel, Kohle
Blutab­sinth
die Luft ist stahl und rein
Ein-und-dreis­sig
die Granat­trichter tüpfeln gar­nich har­monisch
Zwei-und-dreis­sig
[…]

Die kun­stvoll hergestellte Unmit­tel­barkeit dieser Lyrik ist, denke ich, kaum zu überse­hen. Ein anderes, von Behrens bevorzugtes Ele­ment, ist etwa die ver­bale Nutzung von Adjek­tiv­en. Bei aller Direk­theit und Leben­snähe sind die Gedichte, das zeigt etwa das titel­gebende „Erschossenes Licht“ oder das wun­der­bare „Ital­ien“, sowohl inhaltlich als auch stilis­tisch und for­mal sehr sorgsam kon­stru­iert. (Und außer­dem ist das wieder hochroth-typ­isch ein sehr fein und schön gemacht­es Heftlein …)

[…] Schnei­den das
Land
in
Streifen.
Begreifen kann das mal
Die Gen­er­al­stab­skarte. Vor­marsch im Regen (14)

Geor­gi Gospodi­nov: 8 Minuten und 19 Sekun­den. Graz, Wien: Droschl 2016. 143 Seit­en.

Hier wäre der Ort, zu sagen, dass ich vol­lkom­men nor­mal bin, auch wenn ich Erzäh­lun­gen schreibe. Ich weiß, dass dies die Dinge erschw­ert, aber alles andere an mir ist abso­lut in Ord­nung. (78f.)

„Ver­spielt, ele­gant und mit allen Wassern der Post­mod­erne gewaschen“ behauptet der Klap­pen­text — und hat tat­säch­lich mal recht. Denn Gospodi­nov ist ein wahrer Geschicht­en­erzäh­ler: Es geht ihm wirk­lich darum, „Geschicht­en“ zu erzählen, nicht Erzäh­lun­gen zu schreiben. Der Band ist dann auch richtig inter­es­sant und kurzweilig-unter­halt­sam, weil Gospodi­nov dabei ein viel­seit­iger und vielfältiger, tech­nisch sehr ver­siert­er Erzäh­ler ist, was die Fig­uren und die Sto­rys ange­ht.

gosporidov, 8 minuten und 19 sekundenAbwech­slungsre­ich pen­deln die meist sehr kurzen Texte (auf den 140 Seit­en find­en sich immer­hin 19 Erzäh­lun­gen) zwis­chen ein­er sym­pa­this­chen Weltof­fen­heit, die sich aus­drück­lich auch aufs Phan­tastis­che, das eigentlich sowieso nor­mal ist, erstreckt, und ein­er spür­baren Leichtigkeit — ein­er Lock­er­heit des Erzäh­lens, des Lebens, des Wahrnehmens. Gospodi­nov, der sich bzw. seine Erzäh­ler gerne als Geschicht­en­samm­ler bzw. ‑auf­schreiber, nicht als Geschicht­en­erfind­er insze­niert — vom „Anlock­en von Geschicht­en“ (84) schreibt er an ein­er Stelle — schafft es dabei, zugle­ich kos­mopoli­tisch und heimatver­bun­den zu wirken, zugle­ich witzig (im Sinne von komisch) und trau­rig (im Sinne von tiefernst) zu sein. Immer wieder spie­len die let­zten Tage, die let­zten Momente, das endgültige Ende, die Apoka­lypse als eigentlich ganz schelmis­ches, gewitztes Unternehmen eine große Rolle in seinen Erzäh­lun­gen. Das ist schon in der eröff­nen­den (und titel­geben­den) Geschichte „8 Minuten und 19 Sekun­den“ so, die die Zeit, die das Licht von der Sonne zur Erde braucht beschreibt — also die Zeit, die bleibt, bis die Erde nach dem Ende der Sonne im Dunkel versinkt. Immer, wenn das nicht passiert, weiß man also, dass noch 8 Minuten 19 Sekun­den bleiben … Die Imp­lika­tio­nen dieser glei­t­en­den Apoka­lypse spielt die Geschichte sehr schön und dabei dur­chaus knapp durch.

Außer­dem ist auch eine der „schön­sten“ Geschicht­en zum 11. Sep­tem­ber hier zu find­en: „Do not dis­turb“. Die erzählt von einem just für diesen Moment als Sprung aus dem Hochhaus­fen­ster eines New York­er Hotels geplanten Selb­st­mord. Und da Gospodi­nov ein schwarz­er Erzäh­ler ist, gibt es natür­lich kein Hap­py End — der Selb­st­mord find­et dann zwar nicht statt, wird aber natür­lich später nachge­holt. Das klingt in der knap­pen Nacherzäh­lung etwas banal — aber darum geht es Gospodi­nov ja nicht nur. Zwar sind seine Erzäh­lun­gen ohne ihre Hand­lung nicht zu denken, ihre Wirkung erlan­gen sie aber nicht zulet­zt durch die geschick­te und gelassen-ver­spielte erzäh­lerische Insze­nierung, die das zu ein­er sehr kurzweili­gen Lek­türe wer­den lässt.

Außer­dem kam es mir so vor, als fin­ge Z. an, die Geschichte zu ruinieren, indem er ihr mehr Pathos und Lit­er­ariz­ität ver­lieh als notwendig. Und ich war immer­hin der Käufer dieser Erzäh­lung. (54)

außer­dem gele­sen:

  • Judith Zan­der: Man­u­al numerale. München: dtv 2014.
  • Michael Braun, Michael Buselmeier: Der gelbe Akro­bat 2. 50 deutsche Gedichte der Gegen­wart, kom­men­tiert. Neue Folge (2009–2014). Leipzig: Poet­en­laden 2016. 18 Seit­en.
  • Roland Barthes: Das Neu­trum. Vor­lesung am Col­lège de France 1977–1978, hrsg. v. Eric Mar­ty, übers. von. Horst Brüh­mann. Frank­furt am Main: Suhrkamp 2005. 346 Seit­en.
  • Dieter Hein: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhun­dert. München: Beck 2015. 132 Seit­en.
  • Christoph Kleß­mann: Arbeit­er im ‘Arbeit­er­staat’ DDR. Erfurt: Lan­deszen­trale für poli­tis­che Bil­dung Thürin­gen 2014. 141 Seit­en.

Aus-Lese #37

Daniela Krien: Irgend­wann wer­den wir uns alles erzählen. Berlin: List 2012. 236 Seit­en

krien, irgendwannNaja, das war keine so lohnende Lek­türe … Ich weiß auch nicht mehr, wie ich darauf gekom­men bin (wäre ein Grund, dem Rezensenten/der Rezensentin Ver­trauen­spunk­te zu entziehen …). Die Geschichte ist schwach und teil­weise blöd: Ein junges Mäd­chen zieht kurz vor den Som­mer­fe­rien auf dem Bauern­hof der Fam­i­lie ihres älteren Fre­un­des ein, ver­nach­läs­sigt die Schule und gibt sich lieber ein­er selt­samen geheim gehal­te­nen Beziehung zu dem mehr als dop­pelt so alten Nach­bar­bauern hin, die vor allem auf ihrer Aus­nutzung und ihrem Miss­brauch (kör­per­lich, sex­uell und psy­chisch) beruht und natür­lich tragisch enden muss …
Das Set­ting im Som­mer 1990 auf der Noch-DDR-Seite der Gren­ze ist auch nicht so span­nend, gibt aber Gele­gen­heit, ein biss­chen (freilich nur wenig) Poli­tik und Geschichte einzu­flecht­en — und ist natür­lich ein Spiegel der Fig­ur Maria: In der Zwis­chen­zeit — nicht mehr Kind, noch nicht Erwach­sene — spiegelt sich das Land zwis­chen DDR und BRD … Aber da die Fig­uren alle reich­lich blass bleiben, von der Erzäh­lerin über ihre Rest­fam­i­lie bis zu Johannes und Hen­ner, kann sich da sowieso kaum etwas ent­fal­ten. Das merkt man sehr deut­lich an der müh­sam insze­nierten Inter­tex­tu­al­ität: Maria wird gerne als begeis­terte Leserin porträtiert, liest aber wochen-/monate­lang an Dos­to­jew­skis Die Brüder Kara­ma­sow herum, was natür­lich wenig ergiebig ist (sowieso ist Lek­türe hier immer auss­chließlich eine iden­ti­fika­torische …). Auch die Kom­po­si­tion von Irgend­wann wer­den wir uns alles erzählen ist nicht weit­er bemerkenswert, eher klein­teilig angelegt, mit Schwächen in der Zeit­gestal­tung. Und die so gelobte Sprache — wenn man den Blurbs im Taschen­buch (ganze zwei Seit­en vor dem Titel!) glauben darf — hat für mich keinen Reiz, weil sie eigentlich doch recht gewöhn­lich ist.

alles in allem die über­steigerten Gefüh­le ein­er Siebzehn­jähri­gen in den Wirrun­gen ein­er unruhi­gen Zeit. (234f. — mehr muss man kaum sagen ;-) …)

Otto Basil: Wenn das der Führer wüßte. Wien, München: Fritz Mold­en 1966. 419 Seit­en

basil, wenn das der führer wüßte

Eine schöne Idee der kon­trafak­tis­chen Geschichte: NS-Deutsch­land hat den Zweit­en Weltkrieg gewon­nen und sich die halbe Welt unter­tan gemacht (der Rest gehört zu „Soka Gakkai“), Juden gibt es (fast) keine mehr. Dann stirbt Hitler aber in den 60ern und wird durch Ivo Klöpfel erset­zt — oder ist das ein Mord und Staatsstre­ich? Die entsprechen­den Ver­mu­tun­gen kur­sieren und geben der Hand­lung im gle­ichzeit­i­gen Bürg­erkrieg und dem durch die bei­den Großmächte ent­fes­sel­ten atom­aren Krieg ordentliche Ver­wick­lun­gen und Hand­lungsantrieb. Dazwis­chen treibt Höll­riegel umher, ein „Pendler“/Gyromant, der ver­schwörung­stech­nisch in die große Poli­tik gerät und sich wieder rauswurschtelt (hat etwas vom Schelm, diese Fig­ur: wenig Ahnung, dafür aber viel Sit­u­a­tion­s­geschick) und dessen Treiben noch verquickt wird mit sein­er Liebe bzw. seinem Begehren nach der (schein­bar) ide­alen (in ide­ol­o­gis­ch­er, d.h. rassen­ty­pol­o­gis­ch­er Sicht), aber unter nor­malen Umstän­den unerr­e­ich­baren Ulla. Das ganze Gewusel endet dann etwas desil­lu­sion­ierend im Tod — allerd­ings nicht durch Ver­strahlung (das hätte noch etwas gedauert), son­dern im Gefecht.
Schön an Basils Roman ist die kon­se­quente Weit­er­führung, das Zu-Ende-Denken der NS-Ide­olo­gie mit ihren Auswüchen, den Grup­pen, dem Ein­heitswahn, der uner­schöpflichen Kat­e­gorisierungssucht etc. Ins­ge­samt lei­det das Buch aber daran, dass es diese kon­trafak­tis­che Welt zu sehr beschreibt und nicht durch Hand­lun­gen sprechen lässt. Wun­der­bar sprechend sind dage­gen die vie­len, vie­len Namen … Jeden­falls eine dur­chaus unter­halt­same Lek­türe.

Doch Adolf Hitler war nicht mehr, Odin hat­te seinen Meldegänger zum großen Rap­port nach Wal­hall gerufen. (50)

Jür­gen Buch­mann: Wahrhafftiger Bericht über die Sprache der Elfen des ExterThals, nach denen Diari­is Sein­er Hoch Ehrwür­den Her­ren Mar­t­i­nus Oester­mann, wei­land Pfar­rer an St. Jako­bi zu Alme­na. Leipzig: Rei­necke & Voß 2014. 46 Seit­en

buchmann, bericht

Eine wun­der­bare Spiel­erei ist dieses kleine, feine Büch­lein (schon die ISBN: in römis­chen Zif­fern, eine echte Fleißar­beit …), eine nette Cam­ou­flage, echt­es Schel­men­stück (der Autor scheint ein in der Wolle getränk­te Schelm zu sein …). Der Wahrhafftige Bericht ist eine Art philol­o­gis­che Fan­ta­sy (der Bezug auf Tolkien taucht sog­ar im Vor­wort auf), nur in die Ver­gan­gen­heit ver­legt: Es han­delt sich um den (fik­tiv­en) Bericht eines gelehrten Landp­far­rers, der von ein­er Giftmischerin/Zigeunerin/Heilkundigen mit den Elfen seines Tales bekan­nt gemacht wird und Grundzüge (d.h. vor allem Phonetik und Mor­pholo­gie) ihrer Sprache beschreibt. Das ist einge­bet­tet und kom­biniert mit dem Tage­buch der „Ent­deck­ung“ dieser geheimen (?) Sprache bis zum Krim­i­nal­fall des Ver­schwindens sowohl des Pfar­rers als auch sein­er Infor­man­tin (ein Wech­seln ins Elfen­re­ich liegt ganz märchen­typ­isch nahe, weil keine Leiche gefun­den wird …). Lei­der fehlt aus­gerech­net die Lexik der Elfen­sprache in den “Aufze­ich­nun­gen”, so dass die Frag­mente, die „Oester­mann“ „über­liefert“, dum­mer­weise unver­ständlich bleiben (aber wer weiß, vielle­icht haben sie ja sog­ar eine Bedeu­tung? — Das wäre eine schöne Auf­gabe für einen Com­put­er mit einem find­i­gen Pro­gram­mier­er …). Das ganze ist von Buch­mann ver­flixt geschickt vor­getäuscht oder gefälscht oder nachgeahmt oder par­o­diert wor­den. Von dem Drumherum ist allerd­ings nicht alles gel­o­gen — das „Gelehrten-Lex­i­con“ von Jöch­er z.B., aus dem zitiert wird, gibt es dur­chaus — allerd­ings ohne den hier abge­druck­ten Ein­trag zu Oester­mann. Und dann ist das Ganze — es ist ja nicht viel, kaum mehr als vierzig Seit­en beanspruchen die “über­liefer­ten” Texte samt edi­torischen Vor­worten und Anhän­gen von dem kleinen Leipziger Dichter-Ver­lag Rei­necke & Voß sehr schön her­aus­ge­bracht wor­den, mit angenehm passen­dem Satz und schö­nen Schriften.

Wir fassen die Let­tern und stoßen auf | Klänge; wir fassen die Klänge und stoßen auf Namen; wir fassen die Namen und stoßen auf Nichts. (15f.)

Ulf Stolter­fo­ht: Das deutsche Dichter­abze­ichen. Leipzig: Rei­necke & Voß 2012. 49 Seit­en

stolterfoht, dichterabzeichen

Und gle­ich noch ein schmales Bänd­chen von Rei­necke & Voss, den Hör­spiel­text Das deutsche Dichter­abze­ichen. des großen Lyrik­ers Ulf Stolter­fo­ht. Dich­tung und vor allem die Lyrik wird hier als streng reg­uliertes, ent­behrungsre­ich­es Handw­erk insze­niert (ein biss­chen wie eine mod­erne Vari­ante der Meis­tersinger …), das ist ganz nett aus­gedacht. Zugle­ich ist es aber auch noch eine “Sys­tem­atik“ der Lyrik mit ver­schiede­nen „lyrischen Typen”. Da heißt es zum Beispiel:

Wild­texte, die noch vor Zeit­en weite Teile Europas besiedel­ten, haben sich mit­tler­weile den immer spezielleren Anforderung­spro­filen unter­wor­fen. (17)

Weit­er geht es im belehren­den Gespräch über die Dichter-Aus­bil­dung, also die handw­erk­liche Kom­po­nente des Dicht­ens. Weit­eres, ganz wichtiges The­ma: Die kom­pet­i­tive Kom­po­nente des Dicht­ens, die Lesun­gen und die Wet­tbe­werbe. Das führt Stolter­fo­ht als Zirkus vor, als eine Art Dres­sur, in der die Dichter die Rolle der Tierchen übernehmen: possier­lich, gut für die Unter­hal­tung, aber nicht ernst zu nehmen … In der Radikalität, in der diese messenden und ver­gle­ichende Kom­po­nente der Dich­tung übergestülpt wird, ist das natür­lich — daraus macht der Text kein großes Geheim­nis — eine Para­bel auf den deutschen Lit­er­aturbe­trieb der Gegen­wart. Aber eine — ganz wie es das The­ma ver­langt — unter­hal­tende, in der sich dur­chaus — schließlich ist Stolter­fo­ht selb­st ein intel­li­gen­ter Teil­nehmer — wahre und tre­f­fende Beobach­tun­gen find­en:

Im Zeital­ter hoch entwick­el­ter Prosa hat das Gedicht an Bedeu­tung ver­loren. in dem Maße aber, in dem es aus sein­er natür­lichen Umge­bung ver­schwindet, wächst seine Beliebtheit als domes­tiziert­er Wet­tbe­werb­s­text. (7)

Schön auch kurz vor Schluss:

Etwas ganz beson­deres ver­birgt sich hin­ter der Beze­ich­nung „Viel­seit­igkeit­sprü­fung“: Der Dreikampf näm­lich aus Lyrik, lyrisch­er Über­set­zung und Poe­t­olo­gie — das alles an drei aufeinan­der fol­gen­den Tagen. (40)

Wal­ter Kem­pows­ki: Hamit. Tage­buch 1990. Berlin: btb 2010. Seit­en

kempowski, hamit

Mit diesem Buch habe ich mir Kem­pows­ki ver­lei­det, das ist zum Abgewöh­nen …
Hamit — die dialek­tale Vari­ante von “Heimat” — ist ein Tage­buch der Zeit direkt während bzw. nach der Wende. Für Kem­pows­ki heißt das: Er kann wieder Ros­tock besuchen, die Stadt, in der er aufwuchs. Und auch Bautzen, wo er eingek­erk­ert war. Weit­ere The­men des Tage­buchs: Die Medi­en — wie sie über Poli­tik und über ihn bericht­en -, die Fer­tig­stel­lung von Alkor, Zwistigkeit­en, Besuche etc. Dazwis­chen taucht noch die Samm­lung von Tage­büch­ern und Erin­nerun­gen ander­er Leute immer wieder auf (fürs sein Echolot und um’s dem „Vergessen zu entreißen“), auch die Poli­tik der Gegen­wart spielt natür­lich eine Rolle, ger­ade hin­sichtlich des Vere­ini­gung­sprozess­es. Das ist aber auch der Bere­ich, wo Kem­pows­ki vor allem seinen Ani­mositäten freien Lauf lässt: Außer ihm (und weni­gen anderen) hat nie­mand je etwas kapiert, sehen alle die Wider­sprüche und Prob­leme nicht. Dabei ist das kein ganz reines Tage­buch, es ist min­destens zwei Mal über­ar­beit­et (und damit endgültig lit­er­arisiert) wor­den. Aber auch die Anmerkun­gen aus den 2000ern ver­stärken die Ten­denz der Besser­wis­serei noch lassen ihn als den einzi­gen „Weisen“ und das große Genie erscheinen, dass die anderen ein­fach nicht erre­ichen. Dabei ist der ganze Text durchtränkt von Ressen­ti­ments gegen so ziem­lich alle und jeden (mit Aus­nahme vielle­icht bes­timmter Bere­iche der Ver­gan­gen­heit). Und eine große Eit­elkeit bricht sich immer wieder Bahn: Alle, die Leser, der Lit­er­aturbe­trieb, die Medi­en und die Kri­tik, aber auch sein Ver­lag, alle verken­nen seine Genial­ität und seine Leis­tun­gen. Dabei ist er doch uner­set­zlich, wie er ganz typ­isch beschei­den fes­thält:

Ich gebe der Gesellschaft ihre Geschicht­en zurück. (284)

Was wür­den wir Armen also nur ohne ihn tun!

Mir war der Kem­pows­ki, der sich hier zeigt, jeden­falls aus­ge­sprochen unsym­pa­thisch. Lustig am Rande auch: Bei einem Ver­di­enst von 50.000 DM/Monat bzw. 1200 DM/Tag (321) beschw­ert er sich immer wieder darüber, dass er Restau­rantrech­nun­gen bezahlen muss/soll: total ichzen­tri­ert eben, der Schreiber dieser Seit­en, der sich vor allem durch seine Kauzigkeit­en — wie die total kontin­gent scheinende Ablehnung der Worte „Akzep­tanz“ und „Diri­gat“ (329) — ausze­ich­net.

Wenn nie­mand eine Biogra­phie über mich schreibt, tue ich es eben selb­st. (177)

Jürg Hal­ter: Wir fürcht­en das Ende der Musik. Gedichte. Göt­tin­gen: Wall­stein 2014. 72 Seit­en

halter, wir fürchten das ende der musik

“Für sich” ste­ht als Wid­mung in diesem Gedicht­band. Und das stimmt ein­er­seits, ander­er­seits aber auch über­haupt nicht. Zwar ste­hen die Gedichte erst ein­mal “für sich” da, geben sich recht offen und direkt dem Leser preis. Aber ander­er­seits bleiben sie auch ger­ade nicht “für sich”, denn Hal­ter geizt nicht mit inter­textuellen Anspielun­gen und Ver­weisen. Ger­ade die Musik spielt da dur­chaus eine große Rolle. Und den­noch: Man muss diese Inter­tex­tu­al­itäten nicht erken­nen, man muss ihnen schon gar nicht nachge­hen (obwohl das dur­chaus span­nend sein kön­nte, das sys­tem­a­tisch zu tun), um die Lyrik Hal­ters ver­ste­hen zu kön­nen. Oder zumin­d­est glauben zu kön­nen, etwas ver­standen zu haben. Denn seine Gedichte bleiben zugänglich und wollen das wohl auch sein. Oft sind sie ger­adezu erzäh­lend, ihre Meta­phern bleiben leicht nachvol­lziehbar, die Form klar und über­sichtlich. Manch­mal wirkt das mit dem lock­eren Sprach­duk­tus, dem leicht­en Ton mir aber auch etwas zu plätsch­ernd, zu prosa-nah, zu wenig formbes­timmt für Lyrik.
Doch gibt es dur­chaus schöne und span­nende Text in diesem Band. Da zeigt sich nicht nur die Ver­wurzelung Hal­ters und Tra­di­tion und Inter­tex­tu­al­ität (seine Gedichte schöpfen viel aus oder mit der Kul­tur und ihrer Geschichte), da ist auch ein anre­gen­des Spiel mit sich selb­st immer wieder zu beobacht­en, die Selb­stre­flex­tion des Lyrik­ers und des Gedicht­es zu erken­nen. Inter­es­sant ist auch das immer wieder auf­tauchende Zeitkonzept — ein sehr vages Konzept von Zeit, das nicht auf das Tren­nende von Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart abzielt, son­dern auf den Über­gang, die fließende Entwick­lung: Vom Holozän bis zum Jet­zt und dem Augen­blick sind einzel­nen Momente kaum zu fassen und zu bes­tim­men:

Etwas hat begonnen, dauert an oder ist vorüber. (25)

Nicht alles ist sprach­lich oder inhaltlich sehr stark, ger­ade im Abschnitt IV („O, aufgek­lärtes Leben, unsere Droge!“ über­schrieben) scheinen mir einige schwache Texte den Weg in den Druck gefun­den zu haben. Die Dig­i­tal-Skep­sis in „Hyp­nose“ ist zum Beispiel ziem­lich ober­fläch­lich und bil­lig. Dazwis­chen gibt es aber imm­mer wieder schöne Momente, die das Lesen den­noch lesenswert mache, wie etwa die „Eine sich stets wieder­holende Szene“:

Die sich leeren­den Straßen
an einem Som­mer­abend
in ein­er kleinen Stadt.
Das Rück­licht des let­zten Busses,
ein leichter Wind, der geht.
Im Ohr ein Lied über
das Ende ein­er Fre­und­schaft.

außer­dem noch:

  • Jost Amman & Hans Sachs: Das Stän­de­buch (1568).
  • Georges Duby: Die Zeit der Kathe­dralen.

Aus-Lese #4

Ulf Stolter­fo­ht: holzrauch über hes­lach. Basel, Weil am Rhein: Urs Engel­er Edi­tor 2008. 122 Seit­en.

Eine Schande, dass ich das erst jet­zt lese — irgend­wie hat sich das immer wieder in meinem Stapel unge­le­sen­er Büch­er ver­steckt. Dabei bin ich ein großer Bewun­der­er und Schätzer der Stolterfoht’schen Dichtkun­st, seine “fachsprachen”-zyklen habe ich mit großer Begeis­terung gele­sen. holzrauch über hes­lach ist denen ganz ähn­lich, und doch ganz anders: In stren­gen, metrisch klaren sechs-ver­si­gen Stro­phen, aufgeteilt in neun Teile zu 36 Stro­phen (und einen kurzen Pro­log), schreibt Stolter­fo­ht ein Porträt des Örtchens Hes­lach. Oder lässt schreiben, denn wie gewohnt nutzt er eine Mis­chung aus ecri­t­ure automa­tique, mas­sivster Inter­tex­tu­al­ität, Zitat­en und Allu­sio­nen, gepaart mit ein­er unbändi­gen deskrip­tiv­en Phan­tasie — das ist sehr ein­drück­lich und faszinierend. Und wer einen Text unter ein Mot­to aus Klaus Hof­fers Bei den Bieresch-Roma­nen stellt, der hat bei mir sowieso fast schon gewon­nen. Zu Recht ist das von der Kri­tik ein “eth­nol­o­gis­ches” Gedicht genan­nt wor­den. Denn genau das macht Stolter­fo­ht: Er nimmt den eth­nol­o­gis­chen Stand­punkt ein und find­et dafür, für seine Beschrei­bung der Wirk­lichkeit (s)einer Jugend in Hes­lach in den 1970er Jahren, eben eine eigene poet­is­che Sprache, so dass Inhalt und Form zu ein­er faszinieren­den Deck­ung kom­men. Wenn schon auto­bi­ographis­ches Schreiben, dann bitte doch so.

Timur Ver­mes: Er ist wieder da. Der Roman. Köln: Eich­born 2012. 396 Seit­en.

Nun ja, auch wenn (fast) alle begeis­tert sind: Ich fand das nur mäßig — mäßig über­raschend, mäßig orig­inell, mäßig lustig. Natür­lich ist die Idee ganz nett und erst­mal auch witzig, Hitler im Herb­st 2011 aus ein­er Art Schlaf nach dem miss­glück­ten Selb­st­mord­ver­such mit Kopf­schmerzen aufwachen zu lassen, ihn auf die verän­derte Gegen­wart mit ihren neuen Medi­en und Gewohn­heit­en tre­f­fen zu lassen. Aber da wird es schon schwierig: Dieses Aufeinan­dertr­e­f­fen ist schon nicht so span­nend und komisch (oder wenig­stens tragisch), wie es hätte sein kön­nen und eigentlich müssen. Dass Hitler dann als schein­bar per­fek­ter Komö­di­ant gle­ich beim Fernse­hen lan­det, ist auch eine nette Idee. Aber die Leute und das Geschehen beim Fernse­hen ist schon wieder so ober­fläch­lich und banal geschildert, dass es nicht ein­mal die Ober­fläch­lichkeit und Banal­ität des Fernse­hens abbilden kann. Und so geht das halt dann weit­er — zum “lit­er­arischen Kabi­nettstück erster Güte”, dass der Umschlag ver­heißt, ist da noch ein gutes Stück Weg …

Arnold Stadler: Mein Stifter. Por­trait eines Selb­st­mörders in spe und fünf Pho­togra­phien. München: btb 2009. 196 Seit­en.

Das ist auch so ein selt­sames Büch­lein. Stadler, der ja als Romanci­er sog­ar den Georg-Büch­n­er-Preis bekam (auch wenn ich nie so recht ver­stand, warum), schickt sein­er Auseinan­der­set­zung mit Adal­bert Stifter vor­sicht­shal­ber eine “Notiz” voran. Da heißt es:

Dies ist kein Sach­buch, son­dern eine — vielle­icht son­der­bare — Liebe­serk­lärung. […] Es ist ein Verge­gen­wär­ti­gunsver­such von einem, der selb­st schreibt, Romane und so weit­er. Der Ver­such ein­er Liebe­serk­lärung, ein Essay.

Und das ist es auch, da hat er schon recht. Dabei ist es aber nicht nur vielle­icht, son­dern wirk­lich son­der­bar und selt­sam. Er berichtet von sein­er Lek­türe und vom Leben Stifters — aber immer unge­heur sprung­haft und wie unkonzen­tri­ert wirk­end. Kluge Beobach­tun­gen, vor allem zu Stifters rei­hen sich mit Banal­itäten, Ein­sicht­en ver­steck­en sich im Geschwafel. Das mag etwas hart klin­gen, aber Stadler nutzt die Frei­heit der Form “Essay” ziem­lich aus — für mäan­dern­den und repet­i­tive Bruch­stücke, die in der Summe mehr über Stadler als über Stifter erzählen. Wie immer geht das natür­lich nicht ab ohne den Ver­weis auf seine Herkun­ft und sein Koket­tieren mit der Reli­gion bzw. der katholis­chen Kirche — für mich blieb das eher unergiebig und auch ein wenig freud­los: Von Liebe (zu Stifter) ist nur hin und wieder etwas zu spüren.

Kon­stan­tin Ames: sTiL.e(ins) Art und Welt­waisen. Berlin und Solothurn: rough­books 2012 (rough­book 024). 112 Seit­en mit CD.

Ames ist ein Genie — ein Genie, das sich (so ist mein Ein­druck bish­er) nicht immer ganz im Griff hat: Vieles ist ein­fach großar­tig, auch hier, in sTiL., manch­es aber auch manieris­tisch und aufge­setz und nervig. Aber, davon bin ich ja felsen­fest überzeugt, das Scheit­ern gehört zum Gelin­gen immer dazu: Nur wer den Unter­gang wagt, kann den Gipfel erre­ichen. Jeden­falls: Mir macht solche Poe­sie großen Spaß — mehr dazu im passenden Blo­gein­trag.

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