Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: ulf stolterfoht

wirkkraft der dichtung

immer stär­ke­re leser­ge­hir­ne bedro­hen die wirk­kraft der dich­tung.—Ulf Stol­ter­foht, fach­spra­chen XXIV, dog­ma für dich­tung, 2005

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Ins Netz gegangen (2.11.)

Ins Netz gegan­gen am 2.11.:

  • Jens Bal­zer zu Musik­vi­de­os: You­tube kills the You­tube-Star Jus­tin Bie­ber | Ber­li­ner Zei­tung → jens bal­zer über den aktu­el­len zusam­men­hang von pop, stars, you­tube, kon­zer­ten und fans

    Der Ver­such, als real musi­zie­ren­der Mensch auf einer Büh­ne wenigs­tens kurz zu reinkar­nie­ren, schei­tert an der Indif­fe­renz eines Publi­kums, dem es reicht, in vir­tu­el­len Räu­men und bei sich sel­ber zu sein. Der ers­te Star der You­tube-Epo­che wird als deren tra­gi­scher Held von der Büh­ne gekreischt.

  • Was a ser­ver regis­tered to the Trump Orga­niza­ti­on com­mu­ni­ca­ting with Russia’s Alfa Bank? | sla­te → eine total ver­rück­te geschich­te: trump hat(te) einen ser­ver, der (fast) nur mit einem ser­ver der rus­si­schen alfa-bank kom­mu­ni­zier­te. und kei­ner weiß, wie­so, was, war­um – bei­de sei­ten behaup­ten, das kön­ne nicht sein …

    What the sci­en­tists amas­sed wasn’t a smo­king gun. It’s a sug­ges­ti­ve body of evi­dence that doesn’t abso­lut­e­ly pre­clude alter­na­ti­ve expl­ana­ti­ons. But this evi­dence arri­ves in the broa­der con­text of the cam­paign and ever­y­thing else that has come to light: The efforts of Donald Trump’s for­mer cam­paign mana­ger to bring Ukrai­ne into Vla­di­mir Putin’s orbit; the other Trump advi­ser who­se com­mu­ni­ca­ti­ons with seni­or Rus­si­an offi­ci­als have worried intel­li­gence offi­ci­als; the Rus­si­an hack­ing of the DNC and John Podesta’s email.

    (und neben­bei ganz inter­es­sant: dass es spe­zia­lis­ten gibt, die zugriff auf sol­che logs haben …)

  • The Digi­tal Tran­si­ti­on: How the Pre­si­den­ti­al Tran­si­ti­on Works in the Social Media Age | whi​te​house​.gov → die plä­ne der über­ga­be der digi­ta­len mas­sen­kom­mu­ni­ka­ti­on (und accounts) des us-prä­si­den­ten. inter­es­sant: dass die inhal­te zwar erhal­ten blei­ben, aber als archiv unter neu­en account-namen. und die „offi­zi­el­len“ accounts geleert über­ge­ben werden.
  • Refor­ma­ti­ons­ju­bi­lä­um: Lasst uns froh und Luther sein | FAZ → sehr selt­sa­mer text von jür­gen kau­be. am refor­ma­ti­ons­ju­bi­lä­um gäbe es eini­ges zu kri­ti­se­ren. aber das ist der fal­sche weg – zum einen ist die evan­ge­li­sche kir­che deutsch­lands kei­ne luther-kir­che (und käß­mann sicher nicht ihre wesent­lichs­te theo­lo­gin). zum ande­ren scheint mir kau­bes kri­tik­punkt vor allem zu sein, dass evan­ge­li­sche theo­lo­gie sich in den 500 jah­ren gewan­delt hat und nicht glei­cher­ma­ßen kon­ser­va­tiv-fun­da­men­ta­lis­tisch-auto­ri­tär ist wie bei luther selbst. was soll das aber?
  • Siri Hust­vedt und Paul Aus­ter | Das Maga­zin → lan­ges gespräch mit hust­vedt und aus­ter, dass sich aber nahe­zu aus­schließ­lich um die poli­ti­sche lage dreht – immer­hin eine hal­be fra­ge gilt auch dem, was sie tun – näm­lich schreiben
  • Das Para­dox der Demo­kra­tie: Judith But­ler über Hil­la­ry Clin­ton | FAZ → lan­ges, gutes inter­view mit judith but­ler über demo­kra­tie, ver­samm­lun­gen, frei­hei­ten, kör­per und identitäten
  • Aids in Ame­ri­ka: HIV kam um 1970 in New York an | Tages­spie­gel → for­scher haben mit gene­ti­schen ana­ly­sen von blut­kon­ser­ven die geschich­te von aids in den usa neu geschrie­ben – nicht pati­ent O war der ers­te, der virus kam schon jah­re vor­her nach new york. span­nend, was heu­te so alles geht …
  • Frank­fur­ter Buch­mes­se „Schwie­ri­ge Lyrik zu einem sehr hohen Preis“ | Ber­li­ner Zei­tung → mal wie­der ein inter­view mit ulf stol­ter­foht zum funk­tio­nie­ren von brue­te­rich press. dem ver­lag wür­de es wahr­schein­lich mehr hel­fen, wenn sei­ne bücher bespro­chen wür­den und nicht nur der verlag ;-) …

    Ich ver­die­ne nicht nur mit dem Schrei­ben kein Geld, ich ver­die­ne auch mit dem Über­set­zen kein Geld. Da möch­te man dann mit dem Ver­le­gen natür­lich auch nichts ver­die­nen. Das berühm­te drit­te unren­ta­ble Stand­bein. Das Para­do­xe an der Sache ist nun aber, dass ich trotz­dem irgend­wie davon leben kann, und das schon ziem­lich lan­ge. Die­se gan­zen nicht oder schlecht bezahl­ten Tätig­kei­ten haben, zumin­dest in mei­nem Fall, dazu geführt, dass eine indi­rek­te Form der Ver­gü­tung statt­fin­det, also etwa in Form von Prei­sen, Sti­pen­di­en, Lehr­tä­tig­kei­ten, Lesun­gen und Mode­ra­tio­nen. Und ich glau­be, dass durch die Ver­le­ge­rei das Spiel­feld noch ein biss­chen grö­ßer gewor­den ist. Das hat jedoch bei der Grün­dung des Ver­lags kei­ne Rol­le gespielt. Den Ver­lag gibt es, weil ich das schon sehr lan­ge machen woll­te. Schrei­ben tue ich ja auch, weil ich das schon immer woll­te. Das reicht mir völ­lig aus als Begrün­dung. Mehr braucht es nicht.

  • „Die Öko­no­mi­sie­rung der Natur ist ein Feh­ler“ | der Frei­tag → bar­ba­ra unmü­ßig, im vor­stand der hein­rich-böll-stif­tung, über „grü­ne öko­no­mie“, not­wen­di­ge umdenk­pro­zes­se und war­um kom­pen­sa­ti­on nicht reicht

    Wir bräuch­ten viel­mehr Mit­tel für den öko­lo­gi­schen Land­bau oder um her­aus­zu­fin­den, wie eine wachs­tums­be­frie­de­te Gesell­schaft und Wirt­schaft aus­se­hen kann. Es liegt ein­deu­tig zu viel Gewicht auf tech­no­lo­gi­schen denn auf sozia­len und kul­tu­rel­len Veränderungen.

    Das ist der wohl größ­te Feh­ler der Grü­nen Öko­no­mie: Din­ge, die nie öko­no­mi­siert waren, zu mes­sen, zu berech­nen, zu öko­no­mi­sie­ren. Die Mone­ta­ri­sie­rung der Natur.

Aus-Lese #44

Nora Bossong: 36,9°. Ber­lin, Mün­chen: Han­ser 2015. 318 Seiten.

bossong, 36,9°Das ist in mei­nen Augen ein sehr schwa­cher Roman, der mich sehr ent­täuscht hat. Schon Gesell­schaft mit beschränk­ter Haf­tung hat mich zwar auch nicht groß­ar­tig begeis­tert, war aber doch deut­lich bes­ser, was etwa die Kon­struk­ti­on und die sti­lis­ti­sche Aus­ar­bei­tung angeht – bei­de Roma­ne bestär­ken eigent­lich nur mei­nen Wunsch, von Bossong (wie­der) mehr Lyrik zu lesen …

Der Text von 36,9° wirkt merk­wür­dig müde und erschöpft. Viel­leicht ist das ja eine beab­sich­tig­te Par­al­le­le von Inhalt und Form (schließ­lich geht es um das auf­zeh­ren­de, schwie­ri­ge, har­te Leben des Anto­nio Gramcsi), aber mich hat das trotz­dem aus Grün­den, die ich nicht so genau benen­nen kann, eher abge­sto­ßen. Erzählt wird in zwei Per­spek­ti­ven in zwei (gro­ben) Zeit­ebe­nen das Leben Gramcsis und eine Art For­schungs­auf­ent­halt des Gramcsi-Spe­zia­lis­ten Anton Stö­ver, der in Rom nach einem ver­schol­le­nen Manu­skript sucht. Wie­so es die­se Dop­pe­lung von Erzäh­ler und Zei­ten eigent­lich gibt, ist mir nicht so ganz klar gewor­den – nur um die Über­zeit­lich­keit zu beto­nen? Um nicht in den Ver­dacht zu gera­ten, eine Gramcsi-Bio­gra­phie zu schrei­ben? Und wozu ist dann der Man­skript-Kri­mi (der ja als sol­cher über­haupt nicht funk­tio­niert, weil er nicht rich­tig erzählt wird, son­dern nur als Hilfs­mit­tel dient und ab und an her­vor­ge­holt wird …) gut? Oder sol­len die Zeit­ebe­nen nur signa­li­sie­ren, dass dies kein „nor­ma­ler“ his­to­ri­scher Roman ist? (Der in den Gramsci-Kapi­teln als sol­cher auch eher schlecht funk­tio­niert, aber das ja wie­der­um auch gar nicht sein will …)

Zur Poli­tik bleibt der Text dabei merk­wür­dig distan­ziert, die Lei­den­schaft etwa Gramcsi (im wahrs­ten Sin­ne, näm­lich mit all den Lei­den) wird vor allem behaup­tet, aber nicht eigent­lich erzählt. Und das pri­va­te fühlt sich oft auf­dring­lich, etwas schmie­rig an (wie Bou­le­vard­jour­na­lis­mus). Das erschien mir oft als eine Art unge­woll­te Nähe, ein inti­mes Sto­chern, von deren Not­wen­dig­keit die Erzäh­ler selbst nicht so ganz über­zeugt schie­nen. Zumal Stö­ver ist ja auch ein aus­ge­spro­che­ner Unsym­path – und auch Gramcsi bleibt eine selt­sa­me Figur. Bei­de Cha­rak­te­re sind dabei selt­sam rück­sichts­los gegen sich selbst und ihr pri­va­tes Umfeld. Und gera­de das, was ja der Kern des Romans zu sein scheint, bleibt extrem blass, kaum moti­viert – weil die Ideen, die die­se Rück­sichts­lo­sig­keit erfor­dern, höchs­tens ange­ris­sen werden. 

Wenn die Ver­lags­wer­bung das Ziel des Buches rich­tig beschreibt: „Nora Bossong erzählt vom Kon­flikt zwi­schen den gro­ßen Gefüh­len und dem Kampf für die gan­ze Mensch­heit“, dann funk­tio­niert 36,9° über­haupt nicht. Und das liegt unter ande­rem eben dar­an, dass der „Kampf für die gan­ze Mensch­heit“, die Welt­ver­bes­se­rung eigent­lich gar nicht vor­kommt, der Text bleibt viel zu sehr im indi­vi­du­el­len, bio­gra­phi­schen Klein-klein ste­cken. Dazu kommt dann noch eine für mich unkla­re Struk­tur – die Rei­hen­fol­ge der Kapi­tel mit den Vor- und Rück­blen­den sowie die Erzäh­ler­wech­sel erschlie­ßen sich mir ein­fach nicht. Ab und an fun­kelt mal ein schö­ner Satz, ein gelun­ge­ner Abschnitt. Aber der Rest ist ein grau zer­flie­ßend Text­brei, der mich weder fas­zi­nie­ren noch über­zeu­gen kann.

[…] ich woll­te die Din­ger nicht mehr bis zum Grund durch­schau­en, denn was lag dort? Nur Stei­ne und Kie­sel, nur Fuß­no­ten und Quel­len­an­ga­ben. (25)
Ulf Stol­ter­foht: Wur­lit­zer Juke­box Lyric FL – über Musik, Eupho­rie und schwie­ri­ge Gedich­te. Mün­chen: Stif­tung Lyrik Kabi­nett 2015. 32 Seiten.

stolterfoht, wurlitzer jukebox lyric flDer Titel der Münch­ner Rede zur Poe­sie von Ulf Stol­ter­foht, dem Autor so vor­züg­li­cher Zyklen wie den Fach­spra­chen und jetzt Ver­le­ger der Brue­te­rich-Press (der selbst viel zu wenig ver­öf­fent­licht …) sagt eigent­lich schon alles: „Über Musik, Eupho­rie und schwie­ri­ge Gedich­te“ spricht er. Stol­ter­foht, der sich als „Exper­te für Eupho­rie“ (7) vor­stellt und „Ahnung“ von „der“ Lyrik erst ein­mal kate­go­risch ver­neint, führt anhand einer rei­he Gedich­te exem­pla­risch vor, was Lyrik ist und kann, was Spra­che im Gedicht aus­macht und natür­lich auch, was „schwie­ri­ge Lyrik“ (heut­zu­ta­ge ja fast ein Pejo­ra­ti­vum) eigent­lich ist. Und er betont, dass das „Nicht-ver­ste­hen-müs­sen“ die­ser Gedich­te eine groß­ar­ti­ge Erfah­rung ist – für Leser und Schrei­ber. Für bei­de Sei­ten ist das eine Befrei­ung, die einen uner­schöpf­li­chen Rei­gen an Mög­lich­kei­ten eröffnet. 

Neben­bei weist er dar­auf hin, dass das – heu­te viel­leicht mehr als je zuvor vor­han­de­ne – Wis­sen und Kön­nen im Umgang mit Spra­che und Gedich­ten noch lan­ge kei­ne Expe­ri­men­tier­freu­dig­keit ist. Stol­ter­foht bedau­ert aus­drück­lich, dass „die Bereit­schaft stark abge­nom­men hat, ein höhe­res ästhe­ti­sches Risi­ko ein­zu­ge­hen“ (29). Auch wenn er dann das Gelin­gen eines Gedich­tes eher tra­di­tio­nell als „Regel“-Erfüllung beschreibt, oder bes­ser als: „dass ein zuvor gefass­ter Plan, sei er for­ma­ler und /​oder inhalt­li­cher Art, glück­haft erfüllt wur­de“ (29), soll­te für Stol­ter­foht, das macht er unter ande­rem mit mehr­fa­chen Bezü­gen auf Died­rich Diede­rich­sen deut­lich, aber zumin­dest ergänzt wer­den um so etwas wie Authen­ti­zi­tät, einen Moment des Kai­ros viel­leicht. Trotz des deut­lich beton­ten Empha­ti­ker-Stand­punk­tes (Lyrik kann alles und ermög­licht Leben erst!) steht dahin­ter aber genau­es­te Lek­tü­re und Ana­ly­se frem­der und eige­ner Gedich­te, ohne die Eupho­rie des erken­nen­den (und iden­ti­fi­zie­ren­den) Lesens dadurch zu ver­nei­nen oder aus­zu­schal­ten, son­dern gera­de­zu zu verstärken. 

Und wie konn­te es sein, dass ich kein Wort, kei­nen Satz ver­stand, und doch genau wuss­te, dass ich genau das immer hat­te lesen wol­len, und dass ich es jetzt gefun­den hat­te, und dass ich nie mehr etwas ande­res wür­de lesen wol­len. Das Gefühl, eine Mau­er durch­bro­chen zu haben, ein­fach so, ganz leicht, ohne jede Anstren­gung, und hin­ter die­ser Mau­er tat sich etwas auf, ein Raum, ein wirk­li­cher Raum, in dem man wür­de leben kön­nen. (11)

Franz Richard Beh­rens: Erschos­se­nes Licht. Her­aus­ge­ge­ben von Micha­el Lentz. Wie­sen­burg: hoch­roth 2015. 36 Seiten.

Es ist für mich immer wie­der erstaun­lich, welch gro­ße und groß­ar­ti­ge Gedich­te die Expres­sio­nis­ten in den Jah­re wäh­rend und um den Ers­ten Welt­krieg schrie­ben. Und ich ent­de­cke immer wie­der, dass ich viel zu weni­ge davon ken­ne. Auch Franz Richard Beh­rens gehört zu die­sen Dich­tern. Er war eigent­lich genau nur in die­ser engen Zeit­span­ne über­haupt dich­te­risch tätig: Ein ein­zi­ger Band Lyrik – Blut­blü­te – ist von ihm 1917 erschie­nen. Wäh­rend des Natio­nal­so­zia­lis­mus kann man ihn viel­leicht zur „Inne­ren Emi­gra­ti­on“ zäh­len, 1961 über­sie­del­te er dann nach Ost­ber­lin. Aber die gan­zen Jah­re bis zu sei­nem Tod 1977 blie­ben ohne wei­te­re lite­ra­ri­sche Ver­öf­fent­li­chun­gen. Offen­kun­dig war der Welt­krieg da so eine Art Kata­ly­sa­tor, der die Lyrik­pro­duk­ti­on auslösten/​vorantrieb.

Auf­fäl­lig ist nun, fin­de ich, wie avan­ciert die­se weni­gen Gedich­te waren und sind – und wie zeit­ge­mäß und zeit­ge­nös­sisch sie heu­te noch erschei­nen. Aus allen Gedich­ten, die Micha­el Lentz in die­ser klei­nen Aus­wahl­aus­ga­be für den fei­nen hoch­roth-Ver­lag zusam­men­ge­stellt hat, spricht eine beein­dru­cken­de Inten­si­tät und auch eine gro­ße Frei­heit: Sie sind frei von for­ma­len Zwän­gen und Tra­di­tio­nen, las­sen so ziem­lich alle Kon­ven­tio­nen hin­ter sich. Hier erscheint Spra­che als rei­ner Aus­druck, hier spürt man, wie ein Dich­ter um Aus­drucks­mög­lich­keit für ganz neue und neu­ar­ti­ge Erleb­nis­se – vor allem die Gewalt und Sinn­lo­sig­keit eines mecha­ni­sier­ten Krie­ges – ringt. Und wie er sie auch fin­det und den Voll­zug des Erle­bens am und im Wort fixiert und nach­voll­zieht. Ein Moment der Ser­i­at­li­tät gehört dazu, mit mini­ma­lis­ti­schen Ele­men­ten, etwa in „Preu­ßisch“ oder „Quer durch Ost­preu­ßen“. Aber auch gleich das eröff­nen­de „Expres­sio­nist Artil­le­rist“ zeigt das, mit der Ver­schrän­kung ein­zel­ner Gedicht­zei­len und einem kon­ti­nu­ier­li­chen Zäh­len (ich lese das „Ein-und-zwan­zig“ etc. als das Abzäh­len von Sekun­den, etwa bis zum Ein­schlag der Gra­na­te …), das ganz geschickt ins Hin­ken gerät bzw. ein­zel­ne Zah­len über­springt, wenn die geschil­der­te Wahr­neh­mungs­dich­te sozu­sa­gen steigt und das nicht mehr in einen Vers passt:

[…] Neun-und-zwanzig
die Luft stinkt Mil­lio­nen Schwe­fel, Kohle
Blutabsinth
die Luft ist stahl und rein
Ein-und-dreissig
die Gra­nat­trich­ter tüp­feln gar­nich harmonisch
Zwei-und-dreissig
[…]

Die kunst­voll her­ge­stell­te Unmit­tel­bar­keit die­ser Lyrik ist, den­ke ich, kaum zu über­se­hen. Ein ande­res, von Beh­rens bevor­zug­tes Ele­ment, ist etwa die ver­ba­le Nut­zung von Adjek­ti­ven. Bei aller Direkt­heit und Lebens­nä­he sind die Gedich­te, das zeigt etwa das titel­ge­ben­de „Erschos­se­nes Licht“ oder das wun­der­ba­re „Ita­li­en“, sowohl inhalt­lich als auch sti­lis­tisch und for­mal sehr sorg­sam kon­stru­iert. (Und außer­dem ist das wie­der hoch­roth-typisch ein sehr fein und schön gemach­tes Heftlein …)

[…] Schnei­den das
Land
in
Streifen.
Begrei­fen kann das mal
Die Gene­ral­stabs­kar­te. Vor­marsch im Regen (14)

Geor­gi Gos­po­di­nov: 8 Minu­ten und 19 Sekun­den. Graz, Wien: Dro­schl 2016. 143 Seiten.

Hier wäre der Ort, zu sagen, dass ich voll­kom­men nor­mal bin, auch wenn ich Erzäh­lun­gen schrei­be. Ich weiß, dass dies die Din­ge erschwert, aber alles ande­re an mir ist abso­lut in Ord­nung. (78f.)

„Ver­spielt, ele­gant und mit allen Was­sern der Post­mo­der­ne gewa­schen“ behaup­tet der Klap­pen­text – und hat tat­säch­lich mal recht. Denn Gos­po­di­nov ist ein wah­rer Geschich­ten­er­zäh­ler: Es geht ihm wirk­lich dar­um, „Geschich­ten“ zu erzäh­len, nicht Erzäh­lun­gen zu schrei­ben. Der Band ist dann auch rich­tig inter­es­sant und kurz­wei­lig-unter­halt­sam, weil Gos­po­di­nov dabei ein viel­sei­ti­ger und viel­fäl­ti­ger, tech­nisch sehr ver­sier­ter Erzäh­ler ist, was die Figu­ren und die Sto­rys angeht. 

gosporidov, 8 minuten und 19 sekundenAbwechs­lungs­reich pen­deln die meist sehr kur­zen Tex­te (auf den 140 Sei­ten fin­den sich immer­hin 19 Erzäh­lun­gen) zwi­schen einer sym­pa­thi­schen Welt­of­fen­heit, die sich aus­drück­lich auch aufs Phan­tas­ti­sche, das eigent­lich sowie­so nor­mal ist, erstreckt, und einer spür­ba­ren Leich­tig­keit – einer Locker­heit des Erzäh­lens, des Lebens, des Wahr­neh­mens. Gos­po­di­nov, der sich bzw. sei­ne Erzäh­ler ger­ne als Geschich­ten­samm­ler bzw. ‑auf­schrei­ber, nicht als Geschich­ten­er­fin­der insze­niert – vom „Anlo­cken von Geschich­ten“ (84) schreibt er an einer Stel­le – schafft es dabei, zugleich kos­mo­po­li­tisch und hei­mat­ver­bun­den zu wir­ken, zugleich wit­zig (im Sin­ne von komisch) und trau­rig (im Sin­ne von tief­ernst) zu sein. Immer wie­der spie­len die letz­ten Tage, die letz­ten Momen­te, das end­gül­ti­ge Ende, die Apo­ka­lyp­se als eigent­lich ganz schel­mi­sches, gewitz­tes Unter­neh­men eine gro­ße Rol­le in sei­nen Erzäh­lun­gen. Das ist schon in der eröff­nen­den (und titel­ge­ben­den) Geschich­te „8 Minu­ten und 19 Sekun­den“ so, die die Zeit, die das Licht von der Son­ne zur Erde braucht beschreibt – also die Zeit, die bleibt, bis die Erde nach dem Ende der Son­ne im Dun­kel ver­sinkt. Immer, wenn das nicht pas­siert, weiß man also, dass noch 8 Minu­ten 19 Sekun­den blei­ben … Die Impli­ka­tio­nen die­ser glei­ten­den Apo­ka­lyp­se spielt die Geschich­te sehr schön und dabei durch­aus knapp durch. 

Außer­dem ist auch eine der „schöns­ten“ Geschich­ten zum 11. Sep­tem­ber hier zu fin­den: „Do not dis­turb“. Die erzählt von einem just für die­sen Moment als Sprung aus dem Hoch­haus­fens­ter eines New Yor­ker Hotels geplan­ten Selbst­mord. Und da Gos­po­di­nov ein schwar­zer Erzäh­ler ist, gibt es natür­lich kein Hap­py End – der Selbst­mord fin­det dann zwar nicht statt, wird aber natür­lich spä­ter nach­ge­holt. Das klingt in der knap­pen Nach­er­zäh­lung etwas banal – aber dar­um geht es Gos­po­di­nov ja nicht nur. Zwar sind sei­ne Erzäh­lun­gen ohne ihre Hand­lung nicht zu den­ken, ihre Wir­kung erlan­gen sie aber nicht zuletzt durch die geschick­te und gelas­sen-ver­spiel­te erzäh­le­ri­sche Insze­nie­rung, die das zu einer sehr kurz­wei­li­gen Lek­tü­re wer­den lässt. 

Außer­dem kam es mir so vor, als fin­ge Z. an, die Geschich­te zu rui­nie­ren, indem er ihr mehr Pathos und Lite­r­a­ri­zi­tät ver­lieh als not­wen­dig. Und ich war immer­hin der Käu­fer die­ser Erzäh­lung. (54)

außer­dem gelesen:

  • Judith Zan­der: Manu­al nume­ra­le. Mün­chen: dtv 2014.
  • Micha­el Braun, Micha­el Busel­mei­er: Der gel­be Akro­bat 2. 50 deut­sche Gedich­te der Gegen­wart, kom­men­tiert. Neue Fol­ge (2009−2014). Leip­zig: Poe­ten­la­den 2016. 18 Seiten.
  • Roland Bar­thes: Das Neu­trum. Vor­le­sung am Col­lè­ge de France 1977–1978, hrsg. v. Eric Mar­ty, übers. von. Horst Brüh­mann. Frank­furt am Main: Suhr­kamp 2005. 346 Seiten.
  • Die­ter Hein: Deut­sche Geschich­te im 19. Jahr­hun­dert. Mün­chen: Beck 2015. 132 Seiten.
  • Chris­toph Kleß­mann: Arbei­ter im ‘Arbei­ter­staat’ DDR. Erfurt: Lan­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung Thü­rin­gen 2014. 141 Seiten.

Aus-Lese #37

Danie­la Kri­en: Irgend­wann wer­den wir uns alles erzäh­len. Ber­lin: List 2012. 236 Seiten 

krien, irgendwannNaja, das war kei­ne so loh­nen­de Lek­tü­re … Ich weiß auch nicht mehr, wie ich dar­auf gekom­men bin (wäre ein Grund, dem Rezensenten/​der Rezen­sen­tin Ver­trau­ens­punk­te zu ent­zie­hen …). Die Geschich­te ist schwach und teil­wei­se blöd: Ein jun­ges Mäd­chen zieht kurz vor den Som­mer­fe­ri­en auf dem Bau­ern­hof der Fami­lie ihres älte­ren Freun­des ein, ver­nach­läs­sigt die Schu­le und gibt sich lie­ber einer selt­sa­men geheim gehal­te­nen Bezie­hung zu dem mehr als dop­pelt so alten Nach­bar­bau­ern hin, die vor allem auf ihrer Aus­nut­zung und ihrem Miss­brauch (kör­per­lich, sexu­ell und psy­chisch) beruht und natür­lich tra­gisch enden muss …
Das Set­ting im Som­mer 1990 auf der Noch-DDR-Sei­te der Gren­ze ist auch nicht so span­nend, gibt aber Gele­gen­heit, ein biss­chen (frei­lich nur wenig) Poli­tik und Geschich­te ein­zu­flech­ten – und ist natür­lich ein Spie­gel der Figur Maria: In der Zwi­schen­zeit – nicht mehr Kind, noch nicht Erwach­se­ne – spie­gelt sich das Land zwi­schen DDR und BRD … Aber da die Figu­ren alle reich­lich blass blei­ben, von der Erzäh­le­rin über ihre Rest­fa­mi­lie bis zu Johan­nes und Hen­ner, kann sich da sowie­so kaum etwas ent­fal­ten. Das merkt man sehr deut­lich an der müh­sam insze­nier­ten Inter­tex­tua­li­tät: Maria wird ger­ne als begeis­ter­te Lese­rin por­trä­tiert, liest aber wochen-/mo­na­te­lang an Dos­to­jew­skis Die Brü­der Kara­ma­sow her­um, was natür­lich wenig ergie­big ist (sowie­so ist Lek­tü­re hier immer aus­schließ­lich eine iden­ti­fi­ka­to­ri­sche …). Auch die Kom­po­si­ti­on von Irgend­wann wer­den wir uns alles erzäh­len ist nicht wei­ter bemer­kens­wert, eher klein­tei­lig ange­legt, mit Schwä­chen in der Zeit­ge­stal­tung. Und die so gelob­te Spra­che – wenn man den Blurbs im Taschen­buch (gan­ze zwei Sei­ten vor dem Titel!) glau­ben darf – hat für mich kei­nen Reiz, weil sie eigent­lich doch recht gewöhn­lich ist.

alles in allem die über­stei­ger­ten Gefüh­le einer Sieb­zehn­jäh­ri­gen in den Wir­run­gen einer unru­hi­gen Zeit. (234f. – mehr muss man kaum sagen ;-) …)

Otto Basil: Wenn das der Füh­rer wüß­te. Wien, Mün­chen: Fritz Mol­den 1966. 419 Seiten 

basil, wenn das der führer wüßte

Eine schö­ne Idee der kon­tra­fak­ti­schen Geschich­te: NS-Deutsch­land hat den Zwei­ten Welt­krieg gewon­nen und sich die hal­be Welt unter­tan gemacht (der Rest gehört zu „Soka Gak­kai“), Juden gibt es (fast) kei­ne mehr. Dann stirbt Hit­ler aber in den 60ern und wird durch Ivo Klöp­fel ersetzt – oder ist das ein Mord und Staats­streich? Die ent­spre­chen­den Ver­mu­tun­gen kur­sie­ren und geben der Hand­lung im gleich­zei­ti­gen Bür­ger­krieg und dem durch die bei­den Groß­mäch­te ent­fes­sel­ten ato­ma­ren Krieg ordent­li­che Ver­wick­lun­gen und Hand­lungs­an­trieb. Dazwi­schen treibt Höll­rie­gel umher, ein „Pendler“/Gyromant, der ver­schwö­rungs­tech­nisch in die gro­ße Poli­tik gerät und sich wie­der raus­wursch­telt (hat etwas vom Schelm, die­se Figur: wenig Ahnung, dafür aber viel Situa­ti­ons­ge­schick) und des­sen Trei­ben noch ver­quickt wird mit sei­ner Lie­be bzw. sei­nem Begeh­ren nach der (schein­bar) idea­len (in ideo­lo­gi­scher, d.h. ras­sen­ty­po­lo­gi­scher Sicht), aber unter nor­ma­len Umstän­den uner­reich­ba­ren Ulla. Das gan­ze Gewu­sel endet dann etwas des­il­lu­sio­nie­rend im Tod – aller­dings nicht durch Ver­strah­lung (das hät­te noch etwas gedau­ert), son­dern im Gefecht.
Schön an Basils Roman ist die kon­se­quen­te Wei­ter­füh­rung, das Zu-Ende-Den­ken der NS-Ideo­lo­gie mit ihren Aus­wü­chen, den Grup­pen, dem Ein­heits­wahn, der uner­schöpf­li­chen Kate­go­ri­sie­rungs­sucht etc. Ins­ge­samt lei­det das Buch aber dar­an, dass es die­se kon­tra­fak­ti­sche Welt zu sehr beschreibt und nicht durch Hand­lun­gen spre­chen lässt. Wun­der­bar spre­chend sind dage­gen die vie­len, vie­len Namen … Jeden­falls eine durch­aus unter­halt­sa­me Lektüre.

Doch Adolf Hit­ler war nicht mehr, Odin hat­te sei­nen Mel­de­gän­ger zum gro­ßen Rap­port nach Wal­hall geru­fen. (50)

Jür­gen Buch­mann: Wahr­haff­ti­ger Bericht über die Spra­che der Elfen des ExterT­hals, nach denen Dia­ri­is Sei­ner Hoch Ehr­wür­den Her­ren Mar­ti­nus Oes­ter­mann, wei­land Pfar­rer an St. Jako­bi zu Alme­na. Leip­zig: Rei­ne­cke & Voß 2014. 46 Seiten 

buchmann, bericht

Eine wun­der­ba­re Spie­le­rei ist die­ses klei­ne, fei­ne Büch­lein (schon die ISBN: in römi­schen Zif­fern, eine ech­te Fleiß­ar­beit …), eine net­te Camou­fla­ge, ech­tes Schel­men­stück (der Autor scheint ein in der Wol­le getränk­te Schelm zu sein …). Der Wahr­haff­ti­ge Bericht ist eine Art phi­lo­lo­gi­sche Fan­ta­sy (der Bezug auf Tol­ki­en taucht sogar im Vor­wort auf), nur in die Ver­gan­gen­heit ver­legt: Es han­delt sich um den (fik­ti­ven) Bericht eines gelehr­ten Land­pfar­rers, der von einer Giftmischerin/​Zigeunerin/​Heilkundigen mit den Elfen sei­nes Tales bekannt gemacht wird und Grund­zü­ge (d.h. vor allem Pho­ne­tik und Mor­pho­lo­gie) ihrer Spra­che beschreibt. Das ist ein­ge­bet­tet und kom­bi­niert mit dem Tage­buch der „Ent­de­ckung“ die­ser gehei­men (?) Spra­che bis zum Kri­mi­nal­fall des Ver­schwin­dens sowohl des Pfar­rers als auch sei­ner Infor­man­tin (ein Wech­seln ins Elfen­reich liegt ganz mär­chen­ty­pisch nahe, weil kei­ne Lei­che gefun­den wird …). Lei­der fehlt aus­ge­rech­net die Lexik der Elfen­spra­che in den „Auf­zeich­nun­gen“, so dass die Frag­men­te, die „Oes­ter­mann“ „über­lie­fert“, dum­mer­wei­se unver­ständ­lich blei­ben (aber wer weiß, viel­leicht haben sie ja sogar eine Bedeu­tung? – Das wäre eine schö­ne Auf­ga­be für einen Com­pu­ter mit einem fin­di­gen Pro­gram­mie­rer …). Das gan­ze ist von Buch­mann ver­flixt geschickt vor­ge­täuscht oder gefälscht oder nach­ge­ahmt oder par­odiert wor­den. Von dem Drum­her­um ist aller­dings nicht alles gelo­gen – das „Gelehr­ten-Lexi­con“ von Jöcher z.B., aus dem zitiert wird, gibt es durch­aus – aller­dings ohne den hier abge­druck­ten Ein­trag zu Oes­ter­mann. Und dann ist das Gan­ze – es ist ja nicht viel, kaum mehr als vier­zig Sei­ten bean­spru­chen die „über­lie­fer­ten“ Tex­te samt edi­to­ri­schen Vor­wor­ten und Anhän­gen von dem klei­nen Leip­zi­ger Dich­ter-Ver­lag Rei­ne­cke & Voß sehr schön her­aus­ge­bracht wor­den, mit ange­nehm pas­sen­dem Satz und schö­nen Schriften.

Wir fas­sen die Let­tern und sto­ßen auf | Klän­ge; wir fas­sen die Klän­ge und sto­ßen auf Namen; wir fas­sen die Namen und sto­ßen auf Nichts. (15f.)

Ulf Stol­ter­foht: Das deut­sche Dich­ter­ab­zei­chen. Leip­zig: Rei­ne­cke & Voß 2012. 49 Seiten 

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Und gleich noch ein schma­les Bänd­chen von Rei­ne­cke & Voss, den Hör­spiel­text Das deut­sche Dich­ter­ab­zei­chen. des gro­ßen Lyri­kers Ulf Stol­ter­foht. Dich­tung und vor allem die Lyrik wird hier als streng regu­lier­tes, ent­beh­rungs­rei­ches Hand­werk insze­niert (ein biss­chen wie eine moder­ne Vari­an­te der Meis­ter­sin­ger …), das ist ganz nett aus­ge­dacht. Zugleich ist es aber auch noch eine „Sys­te­ma­tik“ der Lyrik mit ver­schie­de­nen „lyri­schen Typen“. Da heißt es zum Beispiel: 

Wild­tex­te, die noch vor Zei­ten wei­te Tei­le Euro­pas besie­del­ten, haben sich mitt­ler­wei­le den immer spe­zi­el­le­ren Anfor­de­rungs­pro­fi­len unter­wor­fen. (17)

Wei­ter geht es im beleh­ren­den Gespräch über die Dich­ter-Aus­bil­dung, also die hand­werk­li­che Kom­po­nen­te des Dich­tens. Wei­te­res, ganz wich­ti­ges The­ma: Die kom­pe­ti­ti­ve Kom­po­nen­te des Dich­tens, die Lesun­gen und die Wett­be­wer­be. Das führt Stol­ter­foht als Zir­kus vor, als eine Art Dres­sur, in der die Dich­ter die Rol­le der Tier­chen über­neh­men: pos­sier­lich, gut für die Unter­hal­tung, aber nicht ernst zu neh­men … In der Radi­ka­li­tät, in der die­se mes­sen­den und ver­glei­chen­de Kom­po­nen­te der Dich­tung über­ge­stülpt wird, ist das natür­lich – dar­aus macht der Text kein gro­ßes Geheim­nis – eine Para­bel auf den deut­schen Lite­ra­tur­be­trieb der Gegen­wart. Aber eine – ganz wie es das The­ma ver­langt – unter­hal­ten­de, in der sich durch­aus – schließ­lich ist Stol­ter­foht selbst ein intel­li­gen­ter Teil­neh­mer – wah­re und tref­fen­de Beob­ach­tun­gen finden:

Im Zeit­al­ter hoch ent­wi­ckel­ter Pro­sa hat das Gedicht an Bedeu­tung ver­lo­ren. in dem Maße aber, in dem es aus sei­ner natür­li­chen Umge­bung ver­schwin­det, wächst sei­ne Beliebt­heit als domes­ti­zier­ter Wett­be­werbs­text. (7)

Schön auch kurz vor Schluss: 

Etwas ganz beson­de­res ver­birgt sich hin­ter der Bezeich­nung „Viel­sei­tig­keits­prü­fung“: Der Drei­kampf näm­lich aus Lyrik, lyri­scher Über­set­zung und Poe­to­lo­gie – das alles an drei auf­ein­an­der fol­gen­den Tagen. (40)

Wal­ter Kem­pow­ski: Hamit. Tage­buch 1990. Ber­lin: btb 2010. Seiten 

kempowski, hamit

Mit die­sem Buch habe ich mir Kem­pow­ski ver­lei­det, das ist zum Abgewöhnen …
Hamit – die dia­lek­ta­le Vari­an­te von „Hei­mat“ – ist ein Tage­buch der Zeit direkt wäh­rend bzw. nach der Wen­de. Für Kem­pow­ski heißt das: Er kann wie­der Ros­tock besu­chen, die Stadt, in der er auf­wuchs. Und auch Baut­zen, wo er ein­ge­ker­kert war. Wei­te­re The­men des Tage­buchs: Die Medi­en – wie sie über Poli­tik und über ihn berich­ten -, die Fer­tig­stel­lung von Alkor, Zwis­tig­kei­ten, Besu­che etc. Dazwi­schen taucht noch die Samm­lung von Tage­bü­chern und Erin­ne­run­gen ande­rer Leu­te immer wie­der auf (fürs sein Echo­lot und um’s dem „Ver­ges­sen zu ent­rei­ßen“), auch die Poli­tik der Gegen­wart spielt natür­lich eine Rol­le, gera­de hin­sicht­lich des Ver­ei­ni­gungs­pro­zes­ses. Das ist aber auch der Bereich, wo Kem­pow­ski vor allem sei­nen Ani­mo­si­tä­ten frei­en Lauf lässt: Außer ihm (und weni­gen ande­ren) hat nie­mand je etwas kapiert, sehen alle die Wider­sprü­che und Pro­ble­me nicht. Dabei ist das kein ganz rei­nes Tage­buch, es ist min­des­tens zwei Mal über­ar­bei­tet (und damit end­gül­tig lite­r­a­ri­siert) wor­den. Aber auch die Anmer­kun­gen aus den 2000ern ver­stär­ken die Ten­denz der Bes­ser­wis­se­rei noch las­sen ihn als den ein­zi­gen „Wei­sen“ und das gro­ße Genie erschei­nen, dass die ande­ren ein­fach nicht errei­chen. Dabei ist der gan­ze Text durch­tränkt von Res­sen­ti­ments gegen so ziem­lich alle und jeden (mit Aus­nah­me viel­leicht bestimm­ter Berei­che der Ver­gan­gen­heit). Und eine gro­ße Eitel­keit bricht sich immer wie­der Bahn: Alle, die Leser, der Lite­ra­tur­be­trieb, die Medi­en und die Kri­tik, aber auch sein Ver­lag, alle ver­ken­nen sei­ne Genia­li­tät und sei­ne Leis­tun­gen. Dabei ist er doch uner­setz­lich, wie er ganz typisch beschei­den festhält: 

Ich gebe der Gesell­schaft ihre Geschich­ten zurück. (284)

Was wür­den wir Armen also nur ohne ihn tun!

Mir war der Kem­pow­ski, der sich hier zeigt, jeden­falls aus­ge­spro­chen unsym­pa­thisch. Lus­tig am Ran­de auch: Bei einem Ver­dienst von 50.000 DM/​Monat bzw. 1200 DM/​Tag (321) beschwert er sich immer wie­der dar­über, dass er Restau­rant­rech­nun­gen bezah­len muss/​soll: total ich­zen­triert eben, der Schrei­ber die­ser Sei­ten, der sich vor allem durch sei­ne Kau­zig­kei­ten – wie die total kon­tin­gent schei­nen­de Ableh­nung der Wor­te „Akzep­tanz“ und „Diri­gat“ (329) – auszeichnet.

Wenn nie­mand eine Bio­gra­phie über mich schreibt, tue ich es eben selbst. (177)

Jürg Hal­ter: Wir fürch­ten das Ende der Musik. Gedich­te. Göt­tin­gen: Wall­stein 2014. 72 Seiten 

halter, wir fürchten das ende der musik

„Für sich“ steht als Wid­mung in die­sem Gedicht­band. Und das stimmt einer­seits, ande­rer­seits aber auch über­haupt nicht. Zwar ste­hen die Gedich­te erst ein­mal „für sich“ da, geben sich recht offen und direkt dem Leser preis. Aber ande­rer­seits blei­ben sie auch gera­de nicht „für sich“, denn Hal­ter geizt nicht mit inter­tex­tu­el­len Anspie­lun­gen und Ver­wei­sen. Gera­de die Musik spielt da durch­aus eine gro­ße Rol­le. Und den­noch: Man muss die­se Inter­tex­tua­li­tä­ten nicht erken­nen, man muss ihnen schon gar nicht nach­ge­hen (obwohl das durch­aus span­nend sein könn­te, das sys­te­ma­tisch zu tun), um die Lyrik Hal­ters ver­ste­hen zu kön­nen. Oder zumin­dest glau­ben zu kön­nen, etwas ver­stan­den zu haben. Denn sei­ne Gedich­te blei­ben zugäng­lich und wol­len das wohl auch sein. Oft sind sie gera­de­zu erzäh­lend, ihre Meta­phern blei­ben leicht nach­voll­zieh­bar, die Form klar und über­sicht­lich. Manch­mal wirkt das mit dem locke­ren Sprach­duk­tus, dem leich­ten Ton mir aber auch etwas zu plät­schernd, zu pro­sa-nah, zu wenig form­be­stimmt für Lyrik.
Doch gibt es durch­aus schö­ne und span­nen­de Text in die­sem Band. Da zeigt sich nicht nur die Ver­wur­ze­lung Hal­ters und Tra­di­ti­on und Inter­tex­tua­li­tät (sei­ne Gedich­te schöp­fen viel aus oder mit der Kul­tur und ihrer Geschich­te), da ist auch ein anre­gen­des Spiel mit sich selbst immer wie­der zu beob­ach­ten, die Selbst­re­flex­ti­on des Lyri­kers und des Gedich­tes zu erken­nen. Inter­es­sant ist auch das immer wie­der auf­tau­chen­de Zeit­kon­zept – ein sehr vages Kon­zept von Zeit, das nicht auf das Tren­nen­de von Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart abzielt, son­dern auf den Über­gang, die flie­ßen­de Ent­wick­lung: Vom Holo­zän bis zum Jetzt und dem Augen­blick sind ein­zel­nen Momen­te kaum zu fas­sen und zu bestimmen: 

Etwas hat begon­nen, dau­ert an oder ist vor­über. (25)

Nicht alles ist sprach­lich oder inhalt­lich sehr stark, gera­de im Abschnitt IV („O, auf­ge­klär­tes Leben, unse­re Dro­ge!“ über­schrie­ben) schei­nen mir eini­ge schwa­che Tex­te den Weg in den Druck gefun­den zu haben. Die Digi­tal-Skep­sis in „Hyp­no­se“ ist zum Bei­spiel ziem­lich ober­fläch­lich und bil­lig. Dazwi­schen gibt es aber immmer wie­der schö­ne Momen­te, die das Lesen den­noch lesens­wert mache, wie etwa die „Eine sich stets wie­der­ho­len­de Szene“:

Die sich lee­ren­den Straßen
an einem Sommerabend
in einer klei­nen Stadt.
Das Rück­licht des letz­ten Busses,
ein leich­ter Wind, der geht.
Im Ohr ein Lied über
das Ende einer Freundschaft. 

außer­dem noch:

  • Jost Amman & Hans Sachs: Das Stän­de­buch (1568).
  • Geor­ges Duby: Die Zeit der Kathedralen. 

Aus-Lese #4

Ulf Stol­ter­foht: holz­rauch über hes­lach. Basel, Weil am Rhein: Urs Enge­ler Edi­tor 2008. 122 Seiten.

Eine Schan­de, dass ich das erst jetzt lese – irgend­wie hat sich das immer wie­der in mei­nem Sta­pel unge­le­se­ner Bücher ver­steckt. Dabei bin ich ein gro­ßer Bewun­de­rer und Schät­zer der Stolterfoht’schen Dicht­kunst, sei­ne „fachsprachen“-zyklen habe ich mit gro­ßer Begeis­te­rung gele­sen. holz­rauch über hes­lach ist denen ganz ähn­lich, und doch ganz anders: In stren­gen, metrisch kla­ren sechs-ver­si­gen Stro­phen, auf­ge­teilt in neun Tei­le zu 36 Stro­phen (und einen kur­zen Pro­log), schreibt Stol­ter­foht ein Por­trät des Ört­chens Hes­lach. Oder lässt schrei­ben, denn wie gewohnt nutzt er eine Mischung aus ecri­tu­re auto­ma­tique, mas­sivs­ter Inter­tex­tua­li­tät, Zita­ten und Allu­sio­nen, gepaart mit einer unbän­di­gen deskrip­ti­ven Phan­ta­sie – das ist sehr ein­drück­lich und fas­zi­nie­rend. Und wer einen Text unter ein Mot­to aus Klaus Hof­fers Bei den Bie­resch-Roma­nen stellt, der hat bei mir sowie­so fast schon gewon­nen. Zu Recht ist das von der Kri­tik ein „eth­no­lo­gi­sches“ Gedicht genannt wor­den. Denn genau das macht Stol­ter­foht: Er nimmt den eth­no­lo­gi­schen Stand­punkt ein und fin­det dafür, für sei­ne Beschrei­bung der Wirk­lich­keit (s)einer Jugend in Hes­lach in den 1970er Jah­ren, eben eine eige­ne poe­ti­sche Spra­che, so dass Inhalt und Form zu einer fas­zi­nie­ren­den Deckung kom­men. Wenn schon auto­bio­gra­phi­sches Schrei­ben, dann bit­te doch so.

Timur Ver­mes: Er ist wie­der da. Der Roman. Köln: Eich­born 2012. 396 Seiten.

Nun ja, auch wenn (fast) alle begeis­tert sind: Ich fand das nur mäßig – mäßig über­ra­schend, mäßig ori­gi­nell, mäßig lus­tig. Natür­lich ist die Idee ganz nett und erst­mal auch wit­zig, Hit­ler im Herbst 2011 aus einer Art Schlaf nach dem miss­glück­ten Selbst­mord­ver­such mit Kopf­schmer­zen auf­wa­chen zu las­sen, ihn auf die ver­än­der­te Gegen­wart mit ihren neu­en Medi­en und Gewohn­hei­ten tref­fen zu las­sen. Aber da wird es schon schwie­rig: Die­ses Auf­ein­an­der­tref­fen ist schon nicht so span­nend und komisch (oder wenigs­tens tra­gisch), wie es hät­te sein kön­nen und eigent­lich müs­sen. Dass Hit­ler dann als schein­bar per­fek­ter Komö­di­ant gleich beim Fern­se­hen lan­det, ist auch eine net­te Idee. Aber die Leu­te und das Gesche­hen beim Fern­se­hen ist schon wie­der so ober­fläch­lich und banal geschil­dert, dass es nicht ein­mal die Ober­fläch­lich­keit und Bana­li­tät des Fern­se­hens abbil­den kann. Und so geht das halt dann wei­ter – zum „lite­ra­ri­schen Kabi­nett­stück ers­ter Güte“, dass der Umschlag ver­heißt, ist da noch ein gutes Stück Weg …

Arnold Stad­ler: Mein Stif­ter. Por­trait eines Selbst­mör­ders in spe und fünf Pho­to­gra­phien. Mün­chen: btb 2009. 196 Seiten.

Das ist auch so ein selt­sa­mes Büch­lein. Stad­ler, der ja als Roman­cier sogar den Georg-Büch­ner-Preis bekam (auch wenn ich nie so recht ver­stand, war­um), schickt sei­ner Aus­ein­an­der­set­zung mit Adal­bert Stif­ter vor­sichts­hal­ber eine „Notiz“ vor­an. Da heißt es:

Dies ist kein Sach­buch, son­dern eine – viel­leicht son­der­ba­re – Lie­bes­er­klä­rung. […] Es ist ein Ver­ge­gen­wär­ti­guns­ver­such von einem, der selbst schreibt, Roma­ne und so wei­ter. Der Ver­such einer Lie­bes­er­klä­rung, ein Essay.

Und das ist es auch, da hat er schon recht. Dabei ist es aber nicht nur viel­leicht, son­dern wirk­lich son­der­bar und selt­sam. Er berich­tet von sei­ner Lek­tü­re und vom Leben Stif­ters – aber immer unge­heur sprung­haft und wie unkon­zen­triert wir­kend. Klu­ge Beob­ach­tun­gen, vor allem zu Stif­ters rei­hen sich mit Bana­li­tä­ten, Ein­sich­ten ver­ste­cken sich im Geschwa­fel. Das mag etwas hart klin­gen, aber Stad­ler nutzt die Frei­heit der Form „Essay“ ziem­lich aus – für mäan­dern­den und repe­ti­ti­ve Bruch­stü­cke, die in der Sum­me mehr über Stad­ler als über Stif­ter erzäh­len. Wie immer geht das natür­lich nicht ab ohne den Ver­weis auf sei­ne Her­kunft und sein Koket­tie­ren mit der Reli­gi­on bzw. der katho­li­schen Kir­che – für mich blieb das eher uner­gie­big und auch ein wenig freud­los: Von Lie­be (zu Stif­ter) ist nur hin und wie­der etwas zu spüren.

Kon­stan­tin Ames: sTiL.e(ins) Art und Welt­wa­isen. Ber­lin und Solo­thurn: rough­books 2012 (rough­book 024). 112 Sei­ten mit CD.

Ames ist ein Genie – ein Genie, das sich (so ist mein Ein­druck bis­her) nicht immer ganz im Griff hat: Vie­les ist ein­fach groß­ar­tig, auch hier, in sTiL., man­ches aber auch manie­ris­tisch und auf­ge­setz und ner­vig. Aber, davon bin ich ja fel­sen­fest über­zeugt, das Schei­tern gehört zum Gelin­gen immer dazu: Nur wer den Unter­gang wagt, kann den Gip­fel errei­chen. Jeden­falls: Mir macht sol­che Poe­sie gro­ßen Spaß – mehr dazu im pas­sen­den Blog­ein­trag.

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