Politiker, die die kostenlose Bereitstellung von Grundnahrungsmitteln, Wohnraum oder öffentlichem Nahverkehr als Einstieg in den Sozialismus verdammen würden, fördern die kostenlose Nutzung öffentlichen Raums für den individualisierten Automobilverkehr – so, als ob das Grundrecht auf Mobilität das Recht beinhaltete, mit dem eigenen Auto jederzeit überall hinfahren zu dürfen, nur weil man die Schäden, anders als bei Terroranschlägen, nicht sofort sieht.
Es gibt Momente medialen Überdrusses, da scheint mir Hölderlins Sprache die einzig mögliche. Eingängig und kristallin klar, transportiert sie in jeder Silbe dann mehr Sinn als eine Tageszeitung. An anderen Tagen erscheinen mir dieselben Verse dagegen dunkel und unverständlich, ihre Bedeutung unfassbar. Eines Tages, ich bin sicher, bin ich Hölderlin gewachsen.
Welzer: Gewalt ist ein Mittel sozialer Praxis” | Panorama → ganz ausgezeichnetes gespräch mit harald welzer über den g20-gipfel, gewalt, gesellschaft etc — wunderbar, wie genau und treffend er vieles einordnet, historisch und soziologisch — unbedingt ansehen!
Nein, ich wollte immer bloß interessante Literatur verlegen, solche, die irgendwas bietet, was man anderswo nicht geboten bekommt. Ich muss nicht jedes Jahr ein Programm füllen und kann warten, was mich trifft. Darüber hinaus verlege ich lieber Autoren, deren Besonderheit ich auch greifbar schildern kann. […]
Insgesamt ist der Verdacht, dass bestimmte alte Formen bestimmte alte Inhalte nahelegen, zwar nie unbegründet, aber das Problem erweist sich als eines, mit dem man sehr gut umgehen kann.
Für mich persönlich: die Simulation einer gesellschaftlichen Relevanz, die sie schon seit Längerem nicht mehr hat. Ich muss zumindest so tun, als wäre die Kritik noch wichtig, damit ich jenes Maß an Hingabe und Ernst aufbringe, das jeder literarische Text grundsätzlich verdient. Mitten in dieser mir selbst vorgespielten Wichtigkeit dämmert mir freilich die Irrelevanz meines Tuns, die wiederum eine schöne Freiheit eröffnet. Allgemein betrachtet ist die Kritik in ihrer Marginalisierung natürlich als siamesischer Zwilling an die Literatur gebunden. Der Zeitgeist hält nicht viel von Literatur und von literarischer Bildung beziehungsweise er hält sie für Luxus, ergo entbehrlich. Das wird sich einmal auch wieder ändern, bis dahin lese und schreibe ich unverdrossen weiter.
Smarte Mobilität | taz → Martin Held, Manfred Kriener und Jörg Schindler schlagen vor, vorhandene, funktionierende Assistenzsystem bei Pkw und Lkw viel stärker einzubinden, um Unfälle zu vermeiden
Wir haben Visionen vom komplett autonomen Auto, das angeblich alles besser macht. Wir trauen uns aber nicht, nützliche Assistenzsysteme auch nur in Ansätzen vorzuschreiben?
Der oben beschriebene Einsatz der Technik wäre sofort machbar und würde eine heilsame Wirkung entfalten. Ebenso wäre in der Übergangszeit ein „Mischbetrieb“ von Fahrzeugen mit und ohne Assistenzsysteme problemlos möglich. Und noch einmal: In allen Fällen blieben die Freiheitsgrade beim Fahren so lange vollständig erhalten, wie die Rechtsvorschriften eingehalten und keine gefährlichen Fahrmanöver gestartet werden.
Shifting baselines sind gerade in Zeiten großer politischer Dynamik ein Problem, weil die Nachrichten, Begriffe, Konzepte und Provokationen so beschleunigt und vielfältig einander abwechseln, dass man kaum bemerkt, wie das, was gestern noch als unsagbar galt, heute schon Bestandteil eines scheinbar normalen politischen Diskurses ist. […] Wie bemerkt man solche Verschiebungen, und wie stemmt man sich dagegen? Dafür gibt es kein Patentrezept, schließlich ist man als Mitglied einer Gesellschaft stets Teil einer sich verändernden sozialen Gemeinschaft. Aber vielleicht kann man sich darin üben, gelegentlich “Augenblick mal!” zu sagen, wenn einem etwas so vorkommt, als habe man es kurz zuvor nicht mal denken, geschweige denn sagen wollen. … Einfach mal den Rede- und Denkfluss unterbrechen, die baseline am Verschieben hindern. Den eigenen moralischen Kompass eichen.
Gedichte für alle! | NZZ Felix Philipp Ingold recht klug über die Vorteile von Lyrik, ihre Rezeption und Kritik momentan →
Im Unterschied zum Informationsgehalt des Gedichts steht seine Sprachgestalt ein für alle Mal fest, sie ist am und im Gedicht sinnlich fassbar, ist Gegenstand seiner ästhetischen Erkenntnis, dies in Ergänzung oder auch in Kompensation zu dem von ihm Gemeinten. Nicht seiner Bedeutung nach, aber als Lautgebilde hat das Wort in jedem Fall seine eigene Wahrheit – nicht zu widerlegen, nicht zu verfälschen, niemals adäquat zu übersetzen.
Viele Literaturgattungen nähern sich vorsichtig den Maschinen an, nur die Lyrik hat Berührungsängste. Wie digital kann ein Gedicht sein?
Marlene Streeruwitz: Die Stunde der Wahrheit des Geldes | derStandard.at — marlene streeruwitz über die auflösung der demokratischen gesellschaft ins lachen, am beispiel der usa & donald trump: “Die Entwertung demokratischen Verhandelns in der Gesellschaft erfolgt über die Entwertung von Minderheiten.”
So wird das Prinzip der Geschwisterlichkeit aus der politischen Kultur entfernt. Demokratie war geschwisterlich gedacht. Verantwortung füreinander sollte das Prinzip sein. Die Übernahme von Pflichten und die gerechte Verteilung der Rechte waren vorgesehen. Das bedeutete je neues Verhandeln der Aufteilung der Rechte und der Übernahme von Pflichten. Denn. Die Grundrechte der Person achtend kann es keine endgültige Regelung dieser Verteilung geben. Es muss stets neu verhandelt werden. Keiner und keine soll über den anderen stehen. Und. Um das leben zu können, müssen alle daran Beteiligten sich ihrer Grundrechte bewusst sein. Alle müssen den Wert der Person an den Grundrechten messen und daraus auf ihren eigenen Wert und den der anderen schließen. Der Wert muss bewusst sein. […]
Das Grundrecht der Person auf Würde ist im Lachen der anderen aufgelöst.
Das ist dann ziemlich unwiederbringlich. Denn. Es bleibt der Entscheidung der Lachensbestimmer überlassen, wer wie ernst genommen wird. Die Lachenden sind nur noch Gefolgschaft. Im Fall von Donald Trump geht es genau darum. Die demokratische Verhandlung soll durch Führung ersetzt werden. Der Kapitalist will aber nicht ins Patriarchat zurückkehren. Vater zu sein. Das hieße ja auch wieder nur die Übernahme von Verantwortung. Der Postkapitalist Trump will die Welt ja nur für den Geldfluss in seine Tasche zurichten. Denn. In der Logik unserer verwirtschaftlichten Welt der fragmentierten Dienstleistungswirtschaft gibt es als mögliches Ziel einer Politik ohnehin nur die Weiterfüllung der Taschen des einen Prozents der Allesbesitzenden. Es ist darin dann wieder logisch, dass einer aus diesem Besitzstand heraus die Rhetorik der Schmähung der Anderen so authentisch liefern und sich so in den Besitz des Lachens der Mitschmähenden setzen kann.
Unter jungen Frauen nimmt der Marktanteil der Pillen der 3. und 4. Generation trotzdem stetig zu. Das ist einigermaßen rätselhaft, denn die Risikobewertung der Europäischen Arzneimittelbehörde hat eindeutig ergeben, dass die Präparate zu einem deutlich höheren Embolie- und Thromboserisiko führen. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hat im Frühjahr 2014 entschieden, dass in immer mehr Beipackzetteln auf die erhöhte Gefahr hingewiesen werden muss. Sonstige Konsequenzen bisher: keine.
die ärzte — die das ja verschreiben müssen — bekommen auch ihr fett weg …
Die Wissenschafter entdeckten kürzlich bei Ausgrabungen unter dem früheren Givati-Parkplatz südlich des Tempelberges Überreste der legendären Festung Acra. Die Zitadelle war vor etwa 2.150 Jahren unter dem Seleukiden-König Antiochus IV. Epiphanes gebaut worden.
Städtebeschimpfungen — auch cool: thomas bernhards städtebeschimpfungen, auf der karte verordnet und mit zitaten garniert …
Die Evidenz ist tot, es lebe das medial inszenierte Gefühl der Evidenz.
Peter Kurzeck — ein Getriebener der Sprache | Frankfurter Rundschau — claus-jürgen göpfert berichtet in der FR über peter kurzeck, sein schreiben, seinen nachlass und die arbeit des stroemfeld-verlages (und der lektoren deuble & loss), den in eine publikationsfähige form zu bringen:
Im Gespräch mit seinem Freund Rudi Deuble erscheint Kurzeck als ein Getriebener. „Zu Ruhe kam der nie!“ Sehr früh sei er stets aufgestanden in seiner zweiten Heimat Uzés, habe gearbeitet bis zum Mittag. Dann folgte ein ausgedehnter Spaziergang durch die sonnendurchglühte Landschaft, danach ein Mittagessen und ein kurzer Schlaf. Am Nachmittag habe er dann wieder zu schreiben begonnen, bis etwa um 22 Uhr.
Mit der Schreibmaschine: Die Seiten waren stets nur zu einem Drittel bis zu einer Hälfte beschrieben, in ganz engem Zeilenabstand, dazwischen hatte der Autor noch handschriftliche Korrekturen eingetragen. Die untere Manuskripthälfte war weiteren Anmerkungen gewidmet. Symbole wie Dreiecke und Kreuze strukturierten den Text. Die Arbeit der Lektoren glich der von Archäologen.
Was wir derzeit erleben, ist etwas anderes, nämlich eine zunehmende, fundamentale Verachtung für die Demokratie, für das “System” und die “Systemparteien”. Ich halte das für hochgefährlich, gerade auch weil sich solche Stimmungen über die digitalen Kommunikationskanäle so leicht verbreiten lassen. Dadurch ist eine Parallelöffentlichkeit entstanden, die sich für die “bürgerliche Öffentlichkeit” kaum mehr interessiert.
Justiz : Das soll Recht sein? | ZEIT ONLINE — die Zeit gibt dem strafverteidiger schwenn möglichkeit, auf probleme (wie u.a. das fehlende protokoll) der deutschen strafgerichtsverfahren aufmerksam zu machen
Die größte Gefahr für den Unschuldigen lauert in den Vorentscheidungen. An ihnen sind oft dieselben Berufsrichter beteiligt, die später an der Hauptverhandlung mitwirken und das Urteil fällen. […] Auch ein Haftbefehl darf nur ergehen, wenn der Tatverdacht dringend, die spätere Verurteilung eines Angeklagten also hochwahrscheinlich ist. Und da lauert die zweite Falle. Denn hat der Richter den Haftbefehl selbst erlassen oder aufrechterhalten, so wird es ihm später schwerfallen, von der eigenen Verurteilungsprognose abzurücken.
Zwei Jahrzehnte Onlinejournalismus sind vorbeigezogen, ohne dass jemand die Datenbasis für die Erforschung dieser Gründerzeit geschaffen hat. All das ist für immer verloren, wir haben heute dank Brewster Kahle immerhin Bruchstücke und Momentaufnahmen. Enorm wichtige Daten für die Erforschung von Themenkarrieren und veränderten Nutzungsgewohnheiten in den 20 Jahren Onlinejournalismus wäre die Abrufzahlen der archivierten Werke. All diese Daten lagen einmal digital in irgendwelchen Datenbanken vor. Vielleicht sind sie noch irgendwo da draußen. Aber wenn heute jemand die Onlineberichterstattung über den 11.9.2001 mit der über den 13.11.2015 vergleichen will, hat er noch viel weniger Material als ein Historiker, der die archivierten Zeitungsausgaben aus dem 19. Jahrhundert für seinen Bergarbeiterstreik untersucht.
Sorgen kann man sich um vieles. Aber wo kämen wir hin, wenn jede Sorge zu einem vorsorglichen Verbot des mutmaßlichen Sorgenanlasses führen würde? Der öffentliche Raum ist kein klinischer Bezirk, der nach der Metapher der Keimvermeidung zu denken wäre. Auch für die bekenntnisoffene Gemeinschaftsschule gilt, dass sie Spiegel der religiös-pluralistischen Gesellschaft ist, heißt es in dem Beschluss, den der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts am Freitag veröffentlichte.
Penny will einen anderen Feminismus. Einen Feminismus, der sich nicht ausschließlich für das Idealbild der Karrieretraumfrau einsetzt, ein Feminismus für Homosexuelle, Hässliche, Arme, Schwarze, Männer. […]
Penny hat keine Antwort auf die Frage, wie alles anders werden kann, aber das ist auch nicht ihr Job. Sie formuliert nur mit absoluter Radikalität, dass es anders werden muss. Für Frauen, Männer, für alle. Und dabei gelingen der rasend klugen Penny dann Beobachtungen und Analysen, für die man sie küssen möchte
Laurie Penny: Lebe wild und frei! | ZEIT ONLINE — marie schmidt hat sich mit laurie penny getroffen und einen zwischen übermäßiger personalisierung und theorie schwankenden text aus boston mitgebracht. laurie penny:
“Ich glaube, die Idee einer Zukunft, in der Geschlechterrollen ganz aufgegeben werden, ist ganz erschreckend für Männer, denn ihr Selbstwertgefühl stammt aus einer Welt, die es nie wirklich gab, in der sie die Mächtigen waren, das Geld verdienten und die Abenteuer bestanden”, sagt sie, bevor sie im Café Diesel nicht mehr still sitzen kann und wir atemlos über den verschneiten Campus rennen.
Kandidat für Leipziger Buchpreis: Dichter am Erfolg — taz.de — luise checchin hat sich in der lyrikszene umgehört und rekationen auf die/einschätzungen der nominierung von jan wagners “regentonnenvariationen” für den preis der leipziger buchmesse gesammelt
Der Klassenzimmer-Club der toten Dichter Das kann ja wohl nicht wahr sein: Der modernste Autor, der in Berliner Schulen gelesen wird, ist seit fast sechzig Jahren tot. Zur Lage der zeitgenössischen Literatur in deutschen Oberstufen.
Bitte malt mir kein Schaf! | — anne schüssler über die missbräuchliche nutzung des “kleinen prinzen” (ich bin aber doch der meinung, dass schon der “kleine prinz” eigentlich ziemlich schrottig ist und den missbrauch geradezu herausfordert …)
Ich mochte meine Grundschullehrerin wie jedes normale Grundschulkind seine Lehrerin mag, aber im Nachhinein muss man vielleicht sagen, dass sie eben auch Unfug gemacht hat. Gesellschaftlich anerkannten Unfug zwar, aber trotzdem Unfug.
Der Druck der nächsten feinen Sache — Perlentaucher — florian kessler diskutiert mit daniela seel & axel von ernst über die hotlist, vermarktung von büchern und nischen oder schubladen. daniela seel (kookbooks) stellt grundsätzliche fragen:
So macht die Hotlist sich selbst zur kleineren Kopie der Großen und trägt mit zur Verengung des Literaturverständnisses bei. Was eigentlich nötig wäre, nämlich auf eine Vermittlung gerade des Sperrigeren hinzuwirken, sich für andere literarische Formen und auch komplexer gestaltete Bücher stark zu machen, die nicht so leicht schubladisiert werden können, findet viel zu wenig statt.
Die Abdrängung in “Nischen” ist durchaus ein Symptom von Verdrängung im doppelten Sinn. Dabei steht die Erosion traditioneller Literaturvermittlung, durch Zeitungskritik, Buchhandel, Schullektüre und so weiter, ja gerade erst am Anfang. Vielleicht wird es in zehn Jahren kaum noch Auflagen über 1000 Exemplare geben oder Kritiken mit einer höheren Reichweite, und die verbliebenen Gewinne landen fast vollständig bei Onlinekonzernen und Geräteherstellern. Umso wichtiger wäre es, jetzt alternative, zukunftsfähige Instrumente zu erfinden und ins Gespräch zu bringen — überhaupt als Akteure in diesem Wandel zu handeln statt sich von ihm treiben zu lassen — , gerne auch mit erweiterten Hotlist-Werkzeugen. Weiter bloß die gerade publizierten Bücher möglichst vielen Menschen verkaufen zu wollen, riecht jedenfalls nach Paralysierung durch Panik und greift nach allen Seiten zu kurz.
Aber Schulze wollte nicht der herrschenden Schule gefallen, sondern die Quellen zum Reden bringen. Beides machte ihn zum Solitär, dessen Klasse viele Kritiker aber zähneknirschend anerkennen mussten.
childLex ist ein Kooperationsprojekt mit der Universität Potsdam und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Das Korpus umfasst über 10 Millionen Wörter, die in einer Auswahl von 500 Kinder- und Lesebüchern enthalten sind. Die Bücher decken den Altersbereich von 6–12 Jahre ab und können entweder insgesamt oder in drei verschiedenen Altersgruppen (6–8, 9–10, 11–12 Jahre) getrennt abgefragt werden. Dabei werden die meisten linguistisch und psychologisch relevanten Variablen für ca. 200.000 unterschiedliche Wörter zur Verfügung gestellt.
Uber, die deutsche Startupszene und die Medien im Kampf gegen Regulierung und das Taxi-Establishment » Zukunft Mobilität — sehr guter text von martin randelhoff bei “zukunft mobilität” über die gründe, warum “uber” vielleicht doch keine so tolle idee ist (und der reguliterte taxi-markt gar nicht so schlecht ist, wie internationale erfahrungen mit deregulierungen zeigen) — weder für den städtischen verkehr insgesamt noch für den individuellen nutzer (von den fahrern wohl zu schweigen …)
Wer pflegt die Fülle selten gehörter Stimmen? — taz.de — Jürgen Brôcan schreibt in der taz sehr bedenkenswert über das seltsame missverhältnis zwischen der hohen zahl guter neuer lyrik und ihrer schwindenden reichweite:
Lyrik ist das Angebot einer nicht primär auf Informiertheit und Effektivität gegründeten Denkweise in einer anderen Sprache als der des täglichen Umgangs. Darin besteht ihr Wert und ihre Stärke, darin besteht leider auch ihre Problematik hinsichtlich der Rezeption. […]
Dabei brauchen Gedichte nur jemanden, der willens ist, nicht bloß zu konsumieren, sondern sich konzentriert auf eine Sache einzulassen, sich ihr behutsam anzunähern und selbst ein gelegentliches Stocken nicht als hinderlich, vielmehr als bereichernd zu empfinden. Entspinnt sich auf diese Weise ein Gespräch mit dem Text, wird sogar das einsame Lesezimmer nicht als Isolation empfunden.
vorschläge, die marginalisierung der lyrik umzukehren, dem gedicht zu mehr bedeutung & rezeption zu verhelfen:
Mir scheint zweierlei unabdingbar: Die mediale Aufmerksamkeit müsste dezentralisiert werden, denn es ist nicht alles “Provinz”, was sich außerhalb Berlins oder Leipzigs befindet, künstlerisches Potenzial kann man überall entdecken, es entfaltet sich an den Peripherien oftmals eigener als in den Schutzzonen der Metropolen. Darüber hinaus sollten Preise und Stipendien der vorhandenen Vielfalt stärker als bisher Rechnung tragen; deren mangelnde Unterstützung setzt nämlich einen Teufelskreis in Gang, der am Ende die Argumentation stützt, es existiere diese Vielfalt gar nicht.
“Revolution mit Feder und Skalpell” ist die große Ausstellung zum 200. Geburtstag von Georg Büchner untertitelt. Das ist bemerkenswert (weil momentan das Revolutionäre in Leben und Werk Büchners keine besondere Konjunktur hat …) und sonderbar, weil es die Ausstellung nicht widerspiegelt. Offenbar war die Lust nach einem griffigen Slogan aber größer als der Wunsch, dem Besucher zu signalisieren, was ihn erwartet …
Ganz Darmstadt büchnert dafür, für die Gelegenheit “seinen” Dichter zu ehren. Überall wird für ihn und vor allem die Ausstellung geworben. Auch das übrigens viel bunter, peppiger und poppiger als in den Hallen selbst — da herrscht klassische Typographie in Schwarz auf Weiß bzw. Weiß auf Schwarz vor. Sonst tun sie das ja eher nicht oder doch zumindest deutlich zurückhaltender. Sei’s drum …
“wir alle haben etwas mut und etwas seelengröße notwendig” — Büchner-Zitat-Installation am Darmstädter Hauptbahnhof
Im Darmstadtium hat die veranstaltende Mathildenhöhe mit der Ausstellung Raum gefunden, Georg Büchner zu erinnern und zu vergegenwärtigen. Wobei Raum schon schwierig ist — das sind offenbar ein paar Ecken, die bisher ungenutzt waren, verwinkelt und verschachtelt — was der Ausstellung nur mäßig guttut, Übersicht oder logische Abläufe oder auch bloße Entwicklungen gibt es hier wenig.
Was gibt es aber in der Ausstellung zu erfahren und zu sehen? Zuerst mal gibt es unheimlich viel zu sehen — und viele schöne, spannende Sachen. Zum Beispiel das nachgebaute Wohnzimmer der Büchners — nicht rekonstruiert, aber schön gemacht (schon die Wände haben mir gefallen). Sehr schön auch die Rekonstruktion seiner letzten Wohnung in Zürich (Spiegelgasse 12 — ganz in der Nähe wird später auch Lenin residieren), seines Sterbezimmers (zwar hinter Glas, aber dennoch sehr schön). Auch die Büchner’sche Haarlocke darf natürlich nicht fehlen.
Büchner auf der Treppe zur Ausstellung (keine Angst, der Rest der Ausstellung ist nicht so wild …)
Überhaupt, das kann man nicht oft genug betonen: Zu sehen gibt es unendlich viel: Unzählige Stiche, Radierungen, Bilder — von Darmstadt und Straßburg vor allem. Gießen zum Beispiel ist extrem unterrepräsentiert. Und natürlich gibt es Texte über Texte: Schriften, die Büchner gelesen hat, die er benutzt hat, die er verarbeitet hat — sie tauchen (fast) alle in den enstprechenden Drucken der Büchnerzeit hier auf, von Shakespeare bis zu den medizinischen Traktaten, von Descartes bis Goethe und Tieck. Auch Büchner selbst ist mit seinen Schriften vertreten — naturgemäß weniger mit Drucken — da ist außer “Danton’s Tod” ja wenig zu machen -, sondern mit Handschriften. Die sind in der Ausstellung zwar reichlich in Originalen zu bewundern, aber Transkriptionen darf man nicht erwarten. Und lesen, das ist bei Büchners Sauklaue oft nicht gerade einfach. Zumal mir da noch ein anderer Umstand arg aufgestoßen ist: Die Exponate in der (aus konservatorischen Gründen) sehr dämmrigen Ausstellung sind in der Regel von schräg oben beleuchtet — und zwar in einem sehr ungünstigen Winkel: Immer wenn ich mir einen Brief an oder von Büchner genauer betrachten wollte, um ihn zu entziffern, stand ich mir mit meiner Rübe selbst im Licht.
Sonst bietet die Ausstellung so ziemlich alles, was moderne Ausstellungsplaner und ‑bauer so in ihrem Repertoire haben: Projektionen, Multimediainstallationen, Animationen, überblendete Bilder, eine Art Nachrichtenticker (der schwer zu bedienen ist, weil er dazu tendiert, in irrem Tempo durchzurasen), mit Vorhängen abgetrennte Separées (während das beim Sezieren/der Anatomie unmittelbar Sinn macht, hat mir das erotische Kabinett insgesamt nicht so recht eingeleuchtet …) und sogar einen “Lenz-Tunnel” (von dem man sich nicht zu viel erwarten darf und sollte). Der letzte Raum, der sich der Rezeption der letzten Jahrzehnte widmet, hat das übliche Problem: So ganz mag man die Rezeption nicht weglassen, eine verünftige Idee dafür hatte man aber auch nicht. Da er auch deutlich vom Rest der Ausstellung getrennt ist und quasi schon im Foyer liegt, verliert er zusätzlich. Viel spannendes gibt es da aber eh’ nicht zu sehen, so dass man durchaus mit Recht hindurcheilen darf (wie ich es getan hab — Werner Herzog kenne ich, Alban Berg kenne ich, Tom Waits auch, die Herbert-Grönemeyer-Bearbeitung von “Leonce und Lena” sollte man sowieso meiden …).
Bei manchen Wertungen bin ich naturgemäß zumindest unsicher, ob das der Wahrheit letzter Schluss ist — etwa bei der Betonung der Freude und des Engagements, das Büchner für die vergleichende Anatomie entwickelt haben soll — was übrigens in der Ausstellung selbst schon durch entsprechende Zitate konterkariert wird und in meiner Erinnerung in Hauschilds großer Büchner-Biografie nicht von ungefähr deutlich anders dargestellt wird. Unter den Experten und Büchner-Biografen schon immer umstritten war die Rolle des Vaters — hier taucht er überraschend wenig auf. Überhaupt bleibt die Familie sehr im Hintergrund: Sie bietet nur am Anfang ein wenig den Rahmen, in dem Georg aufwächst — mehr Wert als auf die Familie und persönliche Beziehungen überhaupt legt die Ausstellung aber auf Erfahrungen und Rezeptionen von Kunst (Literatur, Theater, Gemälde und andere mehr oder weniger museale Gegenständlichkeiten) und geo-/topographischem Umfeld.
Nicht zu vergessen sind bei den Exponaten aber die kürzlich entdeckte Zeichnung August Hoffmann, die wahrscheinlich Büchner zeigt. Auch wenn ich mir dabei wiederum nicht so sicher bin, dass sie das Büchner-Bild wirklich so radikal verändert, wie etwa Dedner meint (in der Ausstellung wird sie nicht weiter kommentiert). Und die erste “echte” Guillotine, die ich gesehen habe, auch wenn es “nur” eine deutsche ist.
Gestört hat mich insgesamt vor allem die Fixierung auf den Audioguide — ich hätte gerne mehr Text an der Wand gehabt (zum Beispiel, wie erwähnt, die Transkriptionen der Handschriften — die muss man mir nicht vorlesen, da gibt es wesentlich elegantere Lösungen, die einer Ausstellung über einen Schriftsteller auch angemessener sind). Zumal die Sprecher manchmal arg gekünstelt wirken.
Und wieder ist mir aufgefallen: Büchner selbst ist fast so etwas wie das leere Zentrum der Ausstellung (auch wenn das jetzt etwas überspitzt ist). Es gibt hier unheimlich viel Material aus seinem näheren und weiteren Umkreis, zu seiner Zeitgeschichte und seiner Geographie — aber zu ihm selbst gar nicht so viel. Das ist natürlich kein Zufall, sondern hängt eben mit der Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte zusammen. Aber als Panorama des Vormärz im Großherzogtum Hessen (und Straßburg) ist die Ausstellung durchaus tauglich. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, fällt mir allerdings auf: Weder “Vormärz” noch “Junges Deutschland” sind mir in der Ausstellung begegnet. Von der Einbettung sollte man sich auch überhaupt weder in literaturgeschichtlicher noch in allgemeinhistorischer Hinsicht zu viel erwarten: Das ist nur auf Büchner selbst bezogen, nachträgliche Erkenntnisse der Forschung oder nicht von Büchner selbst explizierte Zusammenhänge verschwinden da etwas.
Und noch etwas: eines der überraschendsten Ausstellungsstücke ist übrigens Rudi Dutschkes Handexemplar der Enzensberger-Ausgabe des “Hessischen Landboten”, mit sehr intensiven Lektürespuren und Anmerkungen …
Hoch geht’s zu Büchner
Aber dass der Katalog — ein gewaltiger Schinken — die Abbildungen aus irgend einer versponnenen Design-Idee alle auf den Kopf gestellt hat, halte ich gelinde gesagt für eine Frechheit. Ein Katalog ist meines Erachtens nicht der Platz für solche Spielereien (denen ich sonst ja überhaupt nicht abgeneigt bein), weil er dadurch fast unbenutzbar wird — so einen Brocken mag ich eigentlich nicht ständig hin und her drehen, so kann man ihn nicht vernünftig lesen.
Aber trotzdem bietet die Ausstellung eine schöne Möglichkeit, in das frühe 19. Jahrhundert einzutauchen: Selten gibt es so viel Aura auf einmal. Die Ausstrahlung der Originale aus Büchners Hand und der (Druck-)Erzeugnisse seiner Gegenwart, von denen es hier ja eine fast übermäßige Zahl gibt, ist immer wieder beeindruckend — und irgendwie auch erhebend. Fast so eindrücklich übrigens wie die Lektüre der Texte Büchners selbst — dadrüber kommt die Ausstellung auch mit ihrer Masse an Exponaten nicht.
Interessante Gedichte, die haben bei jedem Lesen neue Erlebnisse auf Lager für uns. Es gibt ganz viele Dinge zu beobachten, das heißt, man muss schon sehr geduldig sein, um hinter diese Qualitäten zu kommen, aber quasi je nachhaltiger ich beschäftigt werde durch einen Text, desto interessanter scheint er mir, und unterm Strich würde ich dann auch sagen, desto mehr Qualitäten scheint er mir zu haben, sprich, desto besser ist er.
100 Jahre Tour de France | ZEIT ONLINE — Schneefall im Juli: “Die Zeit” bereitet ihre Tour-de-France-Reportage(n) nach dem Snow-Fall-Modell der New York Times hübsch auf (trotz des kleinen Fehlers in der Überschrift …)
30 Jahre Spex — taz.de — Diedrich Diederichsen im taz-Interview über den Jubiläumsband der “Spex” und die “Spex” überhaupt:
Etwas war so begeisternd, es gibt so viel darüber zu wissen, man muss viel weiter in die Tiefe gehen. Wenn man eine Güterabwägung macht zwischen gelungener Kommunikation, also zwischen sogenannter Verständlichkeit und der Treue zum Gegenstand, oder der Treue gegenüber der eigenen Begeisterung, bin ich für Letzteres. Die Rezeptionsekstase hat bei mir immer Vorrang vor dem gelungenen Kommunikationsvorgang. Einer, der in eine Rezeptionsekstase gerät, ist doch viel interessanter zu beobachten als jemand, der Informationen verteilt.
Meine Netzfunde für die Zeit vom 5.3. zum 14.3.:
Wie klassische Musik fasziniert, heute — Hans Ulrich Gumbrecht überlegt in seinem FAZ-Blog “Digital/Pausen” aus Anlass eines (offenbar recht typischen) Konzertes mit Streichquartetten und ähnlichem, warum uns Musik der Klassik (& Romantik) anders/mehr fasziniert als die der Moderne (hier: Britten (!)) -
Noch intensiver als die Musik unserer Gegenwart vielleicht scheinen viele Stücke aus dem Repertoire, das wir “klassisch” nennen, diese Ahnung, diese unsere Existenz grundierende Erinnerung zu eröffnen, wieder Teil einer Welt der Dinge zu werden. Genau das könnte die Intuition, die vorbewusste Intuition der Hörer im ausgeschnittenen Marathon-Hemd sein — die sich zu weinen und zu lachen erlauben, wenn sie Mozart und Beethoven hören.
Kleines Adreßbuch für Jerichow und New York — Rolf Michaelis: Kleines Adreßbuch für Jerichow und New York. Ein Register zu Uwe Johnsons Roman »Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl« (1970–1983) Überarbeitet und neu herausgegeben von Anke-Marie Lohmeier Überarbeitete, digitale Neuausgabe 2012
«Schlussbetrachtungen und Ergebnisse» runden das Werk ab. Das ist für eine Enzyklopädie ungewöhnlich, macht aber das programmatische Ziel deutlich. Die «Enzyklopädie der Neuzeit» sammelt nicht abschliessend Wissen, sondern will die Grundlage abgeben für neuartige Untersuchungen zu historischen Prozessen, welche vor den Grenzen der Disziplinen ebenso wenig haltmachen wie vor denjenigen der Nationen und Kulturen. Insofern dient das Werk primär Forschenden und Lehrenden, die ihren eigenen Zugang relativieren und erweitern wollen, durch kompakt und reflektiert präsentierte Information auf hohem Niveau.
DDR-Presse (ZEFYS) — Im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekts werden drei DDR-Tageszeitungen digitalisiert und im Volltext erschlossen: Neues Deutschland [ND] (23. April 1946 — 3. Oktober 1990, vollständig in Präsentation), Berliner Zeitung [BZ] (21. Mai 1945 — 3. Oktober 1990, 1945–1964 in Präsentation) & Neue Zeit [NZ] (22. Juli 1945 — 5. Juli 1994, Präsentation folgt)
Damit ist ein erster, bedeutender Teil der Tagespresse der SBZ (Sowjetische Besatzungszone, 1945–1949) und der DDR (Deutsche Demokratische Republik, 1949–1990) für die wissenschaftliche Forschung und Recherche frei zugänglich.
Drucksachen und Plenarprotokolle des Bundestages — 1949 bis 2005 — In diesem elektronischen Archiv können sämtliche Drucksachen und Stenografischen Berichte des Deutschen Bundestages von der 1. bis zur 15. Wahlperiode recherchiert und im pdf-Format abgerufen werden.
Seit Wochen mischen sich unterschiedliche Gedanken zum Thema Sprache, Feminismus und Poltical Correctness und ich hätte gerne einen Artikel verfasst, der alles ordnet, vielleicht mit einer Prise Humor abrundet – leider bin ich an diesem Wunsch gescheitert und schreibe deswegen alles verhältnismäßig ungeordnet zusammen.
Neulich im Hass Seminar. 2012 zeigte die Goetz’sche Hau-drauf-Poetologie mehr denn je, dass textlicher Grobianismus erkenntnisfördernd wirkt.
Ich schlage deshalb analog zu Godwin’s Law hiermit Friedrich’s Law vor: Wer als Vertreter des Staates in einer Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht argumentiert, die Bürger sollten darauf vertrauen, der Staat werde das angegriffene Gesetz nicht in verfassungswidriger Weise nutzen, der hat die Verhandlung mit sofortiger Wirkung verloren.
Nun hat sich endlich ein Anlass gefunden! Am 5. Januar 2013 feiern ein paar Leute 60 Jahre »Warten auf Godot« on stage. Und da feiern wir mit und schicken den berühmtesten Godot-Darsteller aller Zeiten mit einer Creative Commons-Lizenz ins Netz
Es gibt allem Anschein nach nichts, was dem »Handelsblatt« zu falsch oder zu dumm ist, um es im Kampf gegen ARD und ZDF zu verwenden. Den vorläufigen (und schwer zu untertreffenden) Tiefpunkt markiert ein Gastbeitrag der früheren CDU-Bundestagsabgeordneten Vera Lengsfeld, den die Zeitung gestern auf ihrer Internetseite veröffentlichte.