Die Kunst des Lebens bestand doch darin, zwar nach Höherem zu streben, sich aber klugerweise mit dem zu begnügen, was man kriegen konnte
—Brigitte Glaser, Bühlerhöhe, 432
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Unser größter und längster Irrtum ist, daß wir das Leben, d.h. seinen Genuß, wie die Materialisten das Ich, in seiner Zusammensetzung suchen, als könnte das Ganze oder das Verhältnis der Bestandteile uns etwas geben, das nicht jeder einzelne Teil schon hätte. Besteht denn der Himmel unsers Daseins, wie der blaue über uns, aus öder matter Luft, die in der Nähe und im Kleinen nur ein durchsichtiges Nichts ist und die erst in der Ferne und im Großen blauer Äther wird? Das Jahrhundert wirft den Blumensamen deiner Freude nur aus der porösen Säemaschine von Minuten; oder vielmehr an der seligen Ewigkeit selber ist keine andere Handhabe als der Augenblick. Das Leben besteht nicht aus 70 Jahren, sondern die 70 Jahre bestehen aus einem fortwehenden Leben, und man hat allemal gelebt und genug gelebt, man sterbe, wenn man will. —Jean Paul, Titan, Erster Band, Erste Jobelperiode, 2. Zykel
Leitsatz
Fürcht nicht die Stunde, da du stirbst.
Die Welt, oh glaub’s nur, kann dich missen.
Kein Stern, um dessen Licht du wirbst,
wird mit dir in den Tod gerissen.Solang du lebst, wirst du gebraucht.
Soll dich das Leben nicht vergessen,
sorg, dass die Tat nicht untertaucht,
an der du deine Kraft gemessen.Leb’, dass du stündlich sterben kannst,
in Pflicht und Freude stark und ehrlich,
nicht dich, – das Werk, das du begannst,
mach für die Menschheit unentbehrlich!
Erich Mühsam, 1929
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- Max Reger: Akkordarbeiter im giftigen Klima der Moderne | Der Standard — roland pohl im standard über max reger, seine rezeption und warum er so wenig bekannt und geschätzt wird — immerhin ist in diesem jahr sein hunderster todestag zu begehen …
Es fällt nicht leicht, nach den Gründen zu suchen, warum der deutsche Komponist Max Reger (1873–1916) derart gründlich in Vergessenheit geraten ist. Den meisten seiner unzähligen Werke haftet eine gewisse Sprödigkeit an. Reger, im privaten Umgang ein humoriger Kauz, hat vor allem auf dem Gebiet der Harmonik Epochales gelei[s]tet.
Des Meisters viel zu früher Tod – er entschlief herzkrank in einem Leipziger Hotelzimmer – dürfte auch hundert Jahre später kein Reger-Fieber auslösen. Die Klassikbranche fasst den eigenbrötlerischen “Akkordarbeiter” nicht mit der Kneifzange an. Einer größeren Verbreitung steht die Komplexität der introvertierten Reger-Musik im Wege.
- Sport, überall nur noch Sport: Die geistige Macht unserer Epoche | taz — robert redecker hat in der taz eine wunderbare, fulminante abrechnung mit dem sport und unserer obsessiven beschäftigung damit geschrieben:
Die heutige Gesellschaft hat eine neue Variante des Totalitarismus erfunden: den Sport.[…]
Diese Sportanlässe besetzen schamlos und rücksichtslos den gesamten Platz in den Medien.
Wie ein Nimmersatt mit unstillbarem Hunger vereinnahmt der Sport den ganzen Platz für sich. Niemand kann dieser erdrückenden Invasion der Sportberichte entgehen, die alles andere verdrängt. Diese Überdosis an Sport hat eine zerstörerische Umkehrung der Werte und der Hierarchie der Information zur Folge. Statt sich auf ein paar Worte am Ende der Fernseh- und Rundfunknachrichten zu beschränken, was angesichts ihrer Bedeutungslosigkeit normal wäre, verweist die Sportberichterstattung alles wirklich Wichtige auf die Randplätze.Was dagegen für die Zivilisation von Bedeutung wäre, woran man sich noch Jahrhunderte später erinnern wird – die herausragenden Persönlichkeiten der Philosophie, der Malerei, Dichtung, Choreografie, Musik oder Architektur – findet dagegen kaum Beachtung in den Medien.
- David Bowie: Schön dick aufgetragen | ZEIT ONLINE — diedrich diederichsen über das bowie-album, das blackstar-video und bowies auftritte
Hier, bei einem Album, das die rundum zu begrüßende Devise seiner Eröffnungsoper, “Mehr ist mehr”, bis zum Schluss beherzigt, hat man beides versucht: Jazz-Virtuosität und die dunkle Ekstase heutiger Dance- und Gothic-Kulturen.
- Israel ǀ Kibbuzim: Auf der Suche nach der Identität — der Freitag — über die entwicklung der kibbuzim von sozialistischen gemeinschaften zu marktkonformen wirtschaftsunternehmen — sehr interessant …
- Online-Fortsetzungsroman: Lang lebe der Shandyismus! | FAZ — jan wiele in der faz mit einer ersten einschätzung von tilman rammstedts gerade enstehendem “morgen mehr” — seine beobachtungen treffen sich ziemlich genau mit meinen eigenen …
- Trainingslager in den Golfstaaten : „Der Sport ist ein löchriger Käse“ — taz.de — die taz sprach mit dem “sportethiker” elk franke:
Die Politik nimmt den Sport gern für sich in Anspruch. Umgekehrt profitiert der Sport auch stark davon. Somit wird der Satz „Der Sport ist unpolitisch“ zu einer ideologischen Aussage, die in der Alltagspraxis keine Gültigkeit hat.
[…]
Der Sport ist ein inhaltsfreies Drama, das eine Identifikation mit allen möglichen Inhalten erlaubt. Ein Schweizer Käse, in dessen Löcher allerhand reinpasst, ohne dass der Geschmack verloren geht. - Als der Kaiser musste: Eine Unterstreichung und die Schuld am Ersten Weltkrieg | Aktenkunde — Als der Kaiser musste: Eine Unterstreichung und die Schuld am Ersten Weltkrieg — holger berwinkel zeigt (mal wieder) sehr schön, wie wichtig historische hilfswissenschaft (und genauigkeit) ist, auch für “großhistoriker”
- schleef-bilder — die erbengemeinschaft einar schleefs hat einige seiner bilder online bereitgestellt
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- Vor zwanzig Jahren starb Heiner Müller: Dramatiker des Aufstands — NZZ — tom schulz erinnert an heiner müller und seine (theater-)werke
- Soziologieprofessorin über Stadtplanung : „Der Eigenheimfokus ist realitätsfern“ — taz.de — sehr spannendes interview über stadtplanung, ihre möglichkeiten und ihre grenzen
- Sport: Laufen Sie den Ultramarathon | ZEIT ONLINE — tobias hürter hat ausprobiert, wie es ist, einen ultramarathon (und gleich den chiemgau 100) zu laufen — und verknüpft seine erfahrung mit aktuellen evolutionsbiologischen und medizinischen forschungen. sehr schön gemacht.
- Bilder der Seele | Schweizerische Gesellschaft für Symbolforschung — bildliche darstellung der seele in der geschichte — sehr reichhaltiges material!
- Mörderisches Millionengeschäft: In Ostafrika werden Albinos gejagt und verstümmelt — Gesellschaft/Leben — Organe von Albinos werden in Ostafrika gehandelt. Auf der Spur von Menschenjägern — eine sehr eindrucksvolle und harte reportage
- Leitkultur-Debatte: Integriert euch selber! — Debatten — FAZ — Claudius Seidl sehr schön über den schwierigen Begriff der Integration, der Tradition — und was das heute eigentlich noch sein und/oder bedeuten soll
- Radfahren in Berlin – Die Diskrepanz zwischen Realität und Theorie » Zukunft Mobilität — martin randelhoff zur radverkehrssituation in berlin — mit hinweisen, wie man das relativ einfach ändern, d.h. verbessern könnte:
Eine Stadt mit 3,5 Millionen Einwohnern, die sich selbst als „Fahrradstadt Berlin“ bezeichnet, benötigt mehr als eine (!) Vollzeitstelle für den Radverkehr. Der Aufgabenumfang und die Komplexität des Aufgabenspektrums machen vielmehr eine Fachabteilung von mindestens zehn Vollzeitstellen sowie jeweils einer Ingenieursstelle auf Bezirksebene notwendig. Ergänzt werden müssen diese durch Budget und Stellen für Instandhaltung der geschaffenen Infrastruktur sowie zur Planung und zum Bau von Radabstellanlagen. Und durch Schaffung von Stellen zur Durchsetzung von Verkehrsregeln wie Parkverboten, Rücksichtnahme bei Abbiegevorgängen sowie dem sicheren Zustand von Fahrrädern.
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- Hiltibold: Wanderer zwischen Antike und Mittelalter: Das potemkinsche Dorf Campus Galli — Ein kritischer Jahresrückblick — hiltibold über die letzten entwicklungen am “campus galli”, wo angeblich versucht wird, den st. gallener klosterplan mit mittelalterlichen techniken und mitteln zu verwirklichen (tl,dr: viele verzögerungen, viele fehler und unsinnigkeiten, bisher noch so gut wie nichts geschafft von den großen zielen)
- Autodesign: Hübsch gefährlich | ZEIT ONLINE — Burkhard Straßmann über die — vor allem für andere Verkehrsteilnehmer, d.h. Fußgänger und Radfahrerinnen — gefährliche “Verpanzerung” der Autos durch die Designentwicklungen der letzten Jahre/Jahrzehnte, die immer schlechtere Sichten für PKW-Fahrer produzieren
- Das grosse Universum | Schröder & Kalender — rainald goetz über jörg schröder, die bundesrepublik, das leben und die welt — ein eigentlich für den spiegel 1984 geschriebener text, dort nicht gedruckt, hier von schröder & kalender der mit- und nachwelt überliefert
In Wirklichkeit erlebt jeder vielen, täglich Neues. Weitergegeben jedoch, berichtet, erzählt, schrumpeln die meisten Leben auf ein trostlos Altbekanntes zusammen. Einfach weil es so schwierig ist, sich selbst zu glauben, dem, was man sieht, was man denkt. Und beim Zuhören, noch mehr beim Lesen von Schrift gewordenem erzähltem Leben befällt einen manische Traurigkeit, Schwäche, großes Mattsein und Schmerz.
Schröders Erzählen hingegen belehrt einen auf eine unschlagbar unterhaltsame, wahrhaft komische Weise, wie genau die Radikalität aussieht, die vom eigenen mickrigsten Kümmerlichkeitseckchen genauso unspektakulär spricht wie vom eigenen Größenwahn, und wie genau an diesem Punkt, wo alle Entlarvungs- und Selbstentlarvungsabsichten längst zu nicht verglüht sind, das Ich explodiert ins tröstlich Unbesondere, Allgemeine, Verwechselbare.
- Sachal Studios’ Take Five Official Video — nimm fünf! — geniale coverversion des dave brubeck/paul desmond-klassikers “take five” mit dem pakistanischen sachal studio orchestra
- Debatte um Flüchtlinge: Deutsche Werte manipuliert — Kolumne — SPIEGEL ONLINE — die neue kolumne von margaret stokowski beim spiegel-online fängt gut an
Wie halten es diese Flüchtlinge mit der Gleichstellung Homosexueller? Und respektieren sie die Rechte der Frauen? Ausgerechnet Konservative machen sich darüber jetzt große Sorgen — dabei waren ihnen diese Themen bisher herzlich egal.
- dichterlesen.net — interessantes archiv, mit spannenden fundstücken und großem entdeckungspotenzial …
Dichterlesen.net ist ein gemeinsames Projekt des Literarischen Colloquiums Berlin (LCB) und des Deutschen Literaturarchivs Marbach (DLA) und seit dem 3. Oktober 2015 online. Gemeinsam haben es sich die kooperierenden Einrichtungen zum Ziel gesetzt, ihre Veranstaltungsmitschnitte aus einem halben Jahrhundert deutscher und internationaler Literaturgeschichte der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Das Herzstück des Projektes bildet das Online-Tonarchiv, in welchem die Audio-Aufnahmen literarischer Veranstaltungen (u.a. Lesungen, Diskussionen, Werkstattgespräche und Colloquien) der beteiligten Institutionen weltweit zum kostenfreien Nachhören angeboten werden. - Oliver Maria Schmitt Poschardts Kinder | TITANIC – Das endgültige Satiremagazin — oliver maria schmitt rechnet mit dem welt-feuilleton ab — sehr treffend, sehr gemein & sehr gut:
»Springerjugend« nannte die linke Lügenpresse seine Boys und Girls. »Hitlers Kinder«, so sann es in Poschardts Polo, so nannte man doch früher mal sozusagen metaphorisch die Deppen von der RAF. Kohls Kind, das war er im Prinzip selbst. Und Merkels Kinder, die schrieben ihm jetzt das Feuilleton voll. Die ehemals von den Linken monopolisierte Protest- und Randaliergeste war nun im rechten Mainstream angekommen, analysierte der Dr. die Gesamtlage auf den Straßen von Großberlin. Und recht eigentlich waren es doch seine Kinder. Ja, das war die Poschardtjugend, haha! Flink wie Schoßhunde, zäh wie Nappaleder und hart wie die Kronkorken von Club-Mate.
- Vorwürfe gegen von der Leyen: Ungelesene Doktorarbeiten? — sehr gute einordnung von jürgen kaube über das promotionswesen in deutschland, forschung, qualifikation, lesen und schreiben …
- NSU ǀ Geheime Kommunikation — der Freitag — der “Freitag” über hinweise und indizien, dass der baden-württembergische nsu-ausschuss der exekutive — die er kontrollieren soll — hinweise auf aussagen und hinweisgeber weitergegeben hat.
- Der Bibliothekar als Gatekeeper der Wissenschaft | KSW Blog — michael knoche, direktor der herzogin-anna-amalia-bibliothek in weimar, über die notwendigkeit, auch heute unter bedinungen zumindest teilweiser elektronischer publikation, in forschungsbibliotheken noch/weiter sammlungen aufzubauen
- Wider die Aktengläubigkeit! Eine Lehrstunde bei Egon Bahr | Aktenkunde — die “Aktenkunde” über das diffizile zusammenspiel von akten und memoiren von politikern, interessant dargestellt anhand egon bahrs:
Quellenkritisch ist das natürlich ein Problem, denn Zirkelschlüsse drohen. Vor allem müssen Historiker in der Lage sein, die den “Erinnerungen” zugrundeliegenden Unterlagen aktenkundlich einzuschätzen. Dazu erteilt Bahr in seinen Memoiren eine Lehrstunde: 1968 führte er als Planungsstabschef des Auswärtigen Amts in Wien ein vertrauliches Sondierungsgespräch mit dem polnischen Geschäftsträger in Österreich, Jerzy Raczkowski. Um dieses Gespräch in seinen Memoiren darzustellen, hatte Bahr in einem seltenen Glücksfall nicht nur seinen eigenen Gesprächsvermerk zur Hand, sondern auch den seines polnischen Gegenübers.
- Apfelernte: Ohne Streuobstwiesen keinen Apfelwein
- Rebuilding Berlin’s Stadtschloss is an Act of Historical Whitewashing | The Maybachufer — sehr richtig (und passiert leider nicht nur in berlin):
By rebuilding the Stadtschloss in place of the Palast der Republik, Berlin is airbrushing its own history. East Germany happened. Physically removing the evidence of it from the heart of Berlin, replacing it with what was there before, pretending it was never there, is disingenuous and it is dangerous.
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- Was hinterlässt Günter Grass?: Olymp der Old Boys — taz.de — marlene streeruwitz blickt kritisch aus Günter Grass und sein politisches Engagement zurück:
Wenn die soziale Gerechtigkeit am Ende doch parteiisch gedacht war. Die Moral zerbricht an so einem Widerspruch. Das kam wohl auch daher, dass diese Generation von kritischen Söhnen sich auf einem Olymp der Moralität wähnten und dort bleiben wollten. Aber ungestört. Statt also den Olymp zu demokratisieren, wurde die deutsche Kultur zu einem der vielen old boys clubs, wie sie die Welt immer schon beherrschten. Solche Personen haben viel verändert und am Ende dann wieder gar nicht so viel.
- Die Geschichte offenhalten (junge Welt) — ingar solty & enno stahl diagnostizieren die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit der Literatur und machen Vorschläge, wie sich das ändern ließe
Diese sozialen und ökonomischen Dissonanzen müssen sich in der Literatur niederschlagen, die monströse Asymmetrie des Lebens, Momente der Schönheit neben Ausbrüchen atavistischer Grausamkeit, die Verstrickungen des einzelnen im großen Ganzen, gerade wenn er oder sie sich herauszuhalten sucht. Die Literatur muss sagen, was Sache ist, muss dokumentieren, nachhaltig aufbewahren und damit anklagen, welche Verheerungen sich ereignet haben und wer die Verursacher sind
- Mara Genschel: Die Erhabenheit des Tesafilms | ZEIT ONLINE — Michael braun über die wunderbare und spannende Lyrikerin mara genschel
- Mauerfall: Schabowski-Zettel soll gestohlen worden sein — Politik — Süddeutsche.de — Mehr als 20 Jahre lang galt der Notizzettel von Günter Schabowski für die Pressekonferenz, die den Mauerfall auslöste, als verschollen. Dann tauchte er bei der Stiftung “Haus der Geschichte” auf. Schabowskis Ehefrau erhebt schwere Vorwürfe gegen Bekannte.
- Don’t make bicyclists more visible. Make drivers stop hitting them. — The Washington Post — eben weiss hat zwar die usa im blick, seine argumente (etwa in bezug auf die helmpflicht für radfahrer) lassen sich aber problemlos auf europa & deutschland übertragen:
Effectively, we’ve lost equal access to the public roadways unless we’re willing and able to foot the hefty bill for a car. Instead, what we have is an infrastructure optimized for private vehicles and a nation of subsidized drivers who balk at the idea of subsidizing any other form of transit, and who react to a parking ticket as though they’ve been crucified.
- Blitzmarathon: Rasen und witzeln — Welt — Tagesspiegel — interessanter vergleich:
Die Römer hielten Gladiatorenkämpfe, also das, was wir heute Barbarei nennen, für Spiele. In einer späteren Zivilisation wird man womöglich auf uns zurückblicken und sich fragen, warum wir die Barbarei auf unseren Straßen für Sport gehalten haben.
- Der Wortvandale — taz.de — jens uthoff würdigt rolf dieter brinkmann zu seinem 75. geburtstag:
Brinkmann wollte die ungefilterte Wirklichkeit darstellen, einen unvermittelten, ersten Eindruck der Dinge wiedererlangen und sprachlich formulieren.[…]
Brinkmann ist als Poet, dessen großes Thema Entfremdungserfahrungen, die Wahrnehmung und das Bewusstsein waren, noch immer aktuell: Die Mediatisierung ist vorangeschritten; die Erfahrungen sind noch weniger als zu Brinkmanns Zeiten unmittelbare. Mehr noch: Die mediale Verwertung des Augenblicks muss heute stets mitgedacht werden, erst das Selfie dient dazu, uns unserer selbst zu versichern. Und auch sein Strampeln und Schlagen “gegen die Subjektverdrängung” (Handke), gegen die Verdinglichung und den Verlust natürlicher Lebenswelten spiegelt stets aktuelle menschliche Grundkonflikte oder fortlaufende Prozesse. - Die Gründe, bitte | law blog — udo vetter
Hier sind nach wie vor die Befürworter der Speicherung in der Pflicht nachzuweisen, dass eine Einschränkung der Bürger- und Freiheitsrechte überhaupt einen Nutzen bringt, der den weiteren Ausverkauf des Grundgesetzes und europäischer Wertestandards verschmerzbar erscheinen lässt.
Wenn ich schon Verzicht üben und künftig in einem anderen Staat leben soll, der mich als potenziell Verdächtigen behanelt, dann möge man mir bitte plausibel erklären, warum.
Ins Netz gegangen am 16.7.:
- 70. Geburtstag des Autors Jörg Fauser: Er war der Champ — taz.de — ambrow waibel überlegt in der taz, warum das fauser so uncool und ein “literat der loser” war, aber trotzdem ein toller autor:
Das Große an Fauser – SPD-Mitglied – ist, dass er nie aufgehört hat, mit allem, was er aufbringen konnte, danach zu streben, seine Schmerzen zu popularisieren. Daraus entstanden Geschichten: über die, die unten sind, über die, die in der Mitte sind – und zu denen ganz oben wäre er auch noch gekommen: Er warte noch auf den großen deutschen Managerroman, hat er 1984 im Fernsehen gesagt.
Das Uncoole an Fauser war, dass er, als er es ab 1968 und folgend wollte, nicht dazugehören konnte zu den Coolen und Schönen seiner Generation. Das Uncoole war, dass er sich dieser Zurückweisung nicht durch die demütige Flucht ins Privatleben, in den Suff oder in den Reiseteil entzog, sondern darauf beharrte, ein Schriftsteller zu sein. Der ganz unverfroren auf ein Lesepublikum setzte, das sich nichts vorschreiben ließ.
- Mythen ǀ Alles Gute, Macker! — der Freitag — katja kullmann über jörg fauser, der am 16. juli 70 jahre alt geworden wäre:
Jörg Fauser, der schmächtige Hesse mit der hitzigen Abneigung gegen Trendphänomene, hat in diesem Zusammenhang ein posthumes Problem: Er wird heute ganz überwiegend als Macker rezipiert – beziehungsweise missverstanden.
- Debatte Überwachung in Deutschland: Völkerrecht im Glasfaserkabel — taz.de — andreas fischer-lescano:
Die unverhältnismäßigen Überwachungsmaßnahmen der NSA sind völkerrechtswidrig.
deshalb fordert er:
Entweder wir verlieren uns in transatlantischen Vorwürfen über Spionage und Geheimnisverrat. Oder aber wir widmen uns endlich dem Wesentlichen: der demokratischen Selbstvergewisserung über die Grenzen und Möglichkeiten der Freiheit des Internets.
Diese Diskussion können wir aber nicht im nationalen Rahmen alleine führen. Nur wenn wir die Infrastruktur des globalen Rechts nutzen, werden wir wirksame Sicherungen für unsere Freiheitsräume entwickeln können.
- Identitätskonsumismus | Lesen was klüger macht — georg seeßlen:
Den Identitätskonsumismus hat wohl keine Unterhaltungsindustrie dieser Welt, nicht einmal die US-amerikanische, so perfektioniert wie die deutsche. Schlagermusik, Trachtenmode, Volksfeste, Eventdramaturgie, Fernsehserien, Sport und Markenzeichen, sogar Autos und T‑Shirts, sind einem neuen Identitätsmarketing unterworfen. Im Identitätsmarketing treffen sich die ursprünglich als Widersprüche agierenden Kräfte der Superflexibilisierung und der Eventökonomie mit den fiktiven Kontinuitätskonstruktionen und der Sehnsucht nach der verlorenen Identität. Dabei wird eine Menge Geld umgesetzt. Und eine Menge Träume gehen verloren. Klingt „Schland“ nicht nach einem verdammt komisch-traurigen Abgesang auf Heimat? Der Identitätskonsumismus trägt die Selbstverachtung in sich.
- Twitter / Things4Strings: “Sounds of Summer” via Anne … — wunderbar! RT @Things4Strings: “Sounds of Summer” via Anne Akiko Meyers
- Umfänglich gescheitert (epic fail) III: Fahrradfahrer | Reptilienfonds — epic fail 3 by jakob hein:
Warum gibt man sich die Mühe, das Schloss mit einem Schlüssel zu öffnen und es dann so mit einem Poller zu verbinden? Soll der Poller die sanfte Umarmung der Plastikummantelung des Schlosses spüren? Oder möchte man der Polizei im Versicherungsfall sagen können, man habe alles getan?
Ins Netz gegangen am 27.11.:
- Chronist seines Lebens und seiner Epoche: Zum Tod von Peter Kurzeck — Literatur Nachrichten — NZZ.ch — Roman Bucheli weist in seinem Peter-Kurzeck-Nachruf in der NZZ sehr richtig darauf hin, dass die Lebenserinnerungsbeschreibung alleine nicht das Entscheidende für die Größe des Kurzeckschen Werks ist:
Nicht Prousts gepflegte «mémoire involontaire» hat ihn umgetrieben, sondern die panische Angst, das Verlorene und Vergangene im Vergessen noch einmal preisgeben zu müssen. Er überliess sich nicht dem Strom der Erinnerung, sondern brachte sie, mit Nabokov, noch einmal und – so die unerfüllbare Hoffnung – lückenlos zum Sprechen.
[…]
Kurzeck hegte noch einmal, als hätte es die Bruchstellen der Moderne und die neuen Formen des Erzählens nie gegeben, den Traum von einem Ganzen, das sich im literarischen Kunstwerk nachbilden lässt. Er mochte dabei auch nicht etwa auf das rhetorische Mittel vertrauen, dass im Teil das Ganze enthalten sein könne, sondern nahm sein Verfahren auf eine geradezu brachiale Weise wörtlich: Die Zeit sollte im erzählten Werk gleichsam massstabgerecht noch einmal erstehen. Er stand darum Balzac näher als Proust, und die deutschen Erzähler des 19. Jahrhunderts waren ihm mindestens ebenso vertraut wie seine an raffinierten Erzähltechniken geschulten Zeitgenossen. - Tod im Nebensatz — taz.de — Jan Süselbecks kluger Nachruf auf Peter Kurzeck in der taz:
In der Melancholie dieser Proust’schen Dauermeditation, die zu seiner Marke wurde und ihm einen Platz in der Literaturgeschichte sicherte, ging es Kurzeck aber gar nicht um konkrete Orte. Er war kein Regional- oder gar Heimatschriftsteller. Kurzeck träumte sich in einen ganz eigenen Sound des Denkens und Schreibens hinein, in eine detailversessene, musikalisch vor sich hin kontrapunktierende Ästhetik der Provinz, die tatsächlich alles andere als provinziell war. Kurzeck war auf der Suche nach utopischen Orten, die hätten existieren können
- Die Wahrheit über die Wahrheit: Architekturgeschichte (ganz) kurz gefasst — für so etwas muss man das Internet doch lieben: Architekturgeschichte (ganz) kurz gefasst (wirklich ganz kurz …)
- Nachruf Peter Kurzeck: Die ganze Zeit erzählen, immer | ZEIT ONLINE — Ein sehr anrührender, intensiver und liebevoller Nachruf von Christoph Schröder:
Der Tod von Peter Kurzeck ist das Schlimmste, was der deutschsprachigen Literatur seit vielen Jahren passiert ist./
- Koalitionsvertrag: Der Kern des Netzes — Technik & Motor — FAZ — Da hat Michael Spehr wohl recht:
Netzneutralität eignet sich also bestens als Lackmustest für Netzkompetenz./
Und leider gibt es kaum Politiker (und Manager) in entsprechenden Positionen, die den Test bestehen …