Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: identität

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Ins Netz gegangen (2.11.)

Ins Netz gegan­gen am 2.11.:

  • Jens Balz­er zu Musikvideos: Youtube kills the Youtube-Star Justin Bieber | Berlin­er Zeitung → jens balz­er über den aktuellen zusam­men­hang von pop, stars, youtube, konz­erten und fans

    Der Ver­such, als real musizieren­der Men­sch auf ein­er Bühne wenig­stens kurz zu reinkarnieren, scheit­ert an der Indif­ferenz eines Pub­likums, dem es reicht, in virtuellen Räu­men und bei sich sel­ber zu sein. Der erste Star der Youtube-Epoche wird als deren tragis­ch­er Held von der Bühne gekreis­cht.

  • Was a serv­er reg­is­tered to the Trump Orga­ni­za­tion com­mu­ni­cat­ing with Russia’s Alfa Bank? | slate → eine total ver­rück­te geschichte: trump hat(te) einen serv­er, der (fast) nur mit einem serv­er der rus­sis­chen alfa-bank kom­mu­nizierte. und kein­er weiß, wieso, was, warum — bei­de seit­en behaupten, das könne nicht sein …

    What the sci­en­tists amassed wasn’t a smok­ing gun. It’s a sug­ges­tive body of evi­dence that doesn’t absolute­ly pre­clude alter­na­tive expla­na­tions. But this evi­dence arrives in the broad­er con­text of the cam­paign and every­thing else that has come to light: The efforts of Don­ald Trump’s for­mer cam­paign man­ag­er to bring Ukraine into Vladimir Putin’s orbit; the oth­er Trump advis­er whose com­mu­ni­ca­tions with senior Russ­ian offi­cials have wor­ried intel­li­gence offi­cials; the Russ­ian hack­ing of the DNC and John Podesta’s email.

    (und neben­bei ganz inter­es­sant: dass es spezial­is­ten gibt, die zugriff auf solche logs haben …)

  • The Dig­i­tal Tran­si­tion: How the Pres­i­den­tial Tran­si­tion Works in the Social Media Age | whitehouse.gov → die pläne der über­gabe der dig­i­tal­en massenkom­mu­nika­tion (und accounts) des us-präsi­den­ten. inter­es­sant: dass die inhalte zwar erhal­ten bleiben, aber als archiv unter neuen account-namen. und die “offiziellen” accounts geleert übergeben wer­den.
  • Refor­ma­tion­sju­biläum: Lasst uns froh und Luther sein | FAZ → sehr selt­samer text von jür­gen kaube. am refor­ma­tion­sju­biläum gäbe es einiges zu kri­tis­eren. aber das ist der falsche weg — zum einen ist die evan­ge­lis­che kirche deutsch­lands keine luther-kirche (und käß­mann sich­er nicht ihre wesentlich­ste the­olo­gin). zum anderen scheint mir kaubes kri­tikpunkt vor allem zu sein, dass evan­ge­lis­che the­olo­gie sich in den 500 jahren gewan­delt hat und nicht gle­icher­maßen kon­ser­v­a­tiv-fun­da­men­tal­is­tisch-autoritär ist wie bei luther selb­st. was soll das aber?
  • Siri Hustvedt und Paul Auster | Das Mag­a­zin → langes gespräch mit hustvedt und auster, dass sich aber nahezu auss­chließlich um die poli­tis­che lage dreht — immer­hin eine halbe frage gilt auch dem, was sie tun — näm­lich schreiben
  • Das Para­dox der Demokratie: Judith But­ler über Hillary Clin­ton | FAZ → langes, gutes inter­view mit judith but­ler über demokratie, ver­samm­lun­gen, frei­heit­en, kör­p­er und iden­titäten
  • Aids in Ameri­ka: HIV kam um 1970 in New York an | Tagesspiegel → forsch­er haben mit genetis­chen analy­sen von blutkon­ser­ven die geschichte von aids in den usa neu geschrieben — nicht patient O war der erste, der virus kam schon jahre vorher nach new york. span­nend, was heute so alles geht …
  • Frank­furter Buchmesse „Schwierige Lyrik zu einem sehr hohen Preis“ | Berlin­er Zeitung → mal wieder ein inter­view mit ulf stolter­fo­ht zum funk­tion­ieren von brue­terich press. dem ver­lag würde es wahrschein­lich mehr helfen, wenn seine büch­er besprochen wür­den und nicht nur der ver­lag ;-) …

    Ich ver­di­ene nicht nur mit dem Schreiben kein Geld, ich ver­di­ene auch mit dem Über­set­zen kein Geld. Da möchte man dann mit dem Ver­legen natür­lich auch nichts ver­di­enen. Das berühmte dritte unrentable Stand­bein. Das Para­doxe an der Sache ist nun aber, dass ich trotz­dem irgend­wie davon leben kann, und das schon ziem­lich lange. Diese ganzen nicht oder schlecht bezahlten Tätigkeit­en haben, zumin­d­est in meinem Fall, dazu geführt, dass eine indi­rek­te Form der Vergü­tung stat­tfind­et, also etwa in Form von Preisen, Stipen­di­en, Lehrtätigkeit­en, Lesun­gen und Mod­er­a­tio­nen. Und ich glaube, dass durch die Ver­legerei das Spielfeld noch ein biss­chen größer gewor­den ist. Das hat jedoch bei der Grün­dung des Ver­lags keine Rolle gespielt. Den Ver­lag gibt es, weil ich das schon sehr lange machen wollte. Schreiben tue ich ja auch, weil ich das schon immer wollte. Das reicht mir völ­lig aus als Begrün­dung. Mehr braucht es nicht.

  • “Die Ökonomisierung der Natur ist ein Fehler” | der Fre­itag → bar­bara unmüßig, im vor­stand der hein­rich-böll-stiftung, über “grüne ökonomie”, notwendi­ge umdenkprozesse und warum kom­pen­sa­tion nicht reicht

    Wir bräucht­en vielmehr Mit­tel für den ökol­o­gis­chen Land­bau oder um her­auszufind­en, wie eine wach­s­tums­be­friedete Gesellschaft und Wirtschaft ausse­hen kann. Es liegt ein­deutig zu viel Gewicht auf tech­nol­o­gis­chen denn auf sozialen und kul­turellen Verän­derun­gen.

    Das ist der wohl größte Fehler der Grü­nen Ökonomie: Dinge, die nie ökonomisiert waren, zu messen, zu berech­nen, zu ökonomisieren. Die Mon­e­tarisierung der Natur.

Ins Netz gegangen (18.8.)

Ins Netz gegan­gen am 18.8.:

  • Müssen wir Europa ‚anders‘ denken? Eine kul­tur­wis­senschaftliche Antwort | Mein Europa → span­nende analyse der his­torischen verknüpfung/verbindung von euo­pra-idee und geschlecht­si­den­tität und die kon­se­quen­zen für die gegen­wär­tige europa-idee und ‑debat­te, z.b.:

    Wenn Kul­tur im gegen­wär­ti­gen plu­ral­is­tis­chen Gesellschaftsmod­ell, das in den einzel­nen europäis­chen Län­dern unter­schiedlich stark oder ger­ing greift, nicht mehr an den Mann als auf­grund ein­er ver­meintlichen Geschlecht­si­den­tität Kul­turschaf­fend­en gebun­den ist oder gebun­den wer­den kann, ist Europa als Kul­tur im Sin­gu­lar nicht mehr als Pro­dukt des kul­turschaf­fend­en männlichen Geschlechts konzip­ier­bar, sie ist generell nicht mehr im Sin­gu­lar konzip­ier­bar.

    „Europa“ nicht im Sinne des essen­tial­is­tis­chen Sin­gu­lars der Aufk­lärung zu denken, son­dern als Vielfalt des Dif­fer­enten auf der Grund­lage von Kohärenz und Kohä­sion ist möglich und dies auf eine egal­itäre plu­ral­is­tis­che Gesellschaft zu beziehen, ist eben­so möglich.
    […] Kon­se­quent wäre es, EU-Europa von der Gesellschaft und der anti-essen­tial­is­tis­chen Per­spek­tive her zu denken. Dabei kann nicht mehr auf das Funk­tion­ieren eines kollek­tiv­en per­for­ma­tiv­en Sprechak­ts geset­zt wer­den. Das Erzeu­gen inhaltlich­er Kohärenz in Bezug auf Europa braucht die Europäerin­nen und Europäer als Kom­mu­nika­tion­sak­tive. Die Frage, wie sich das organ­isieren lässt, ist eben­so zen­tral wie sie unbeant­wortet geblieben ist. Von „europäis­ch­er Öffentlichkeit“ bis „soziale Medi­en“ gibt es viele Prak­tiken, aber diese weisen kein­er­lei Kohä­sion auf. Unbeant­wortet ist auch die Frage, ob Anti-Essen­tial­is­mus Dezen­tri­ertheit erfordert oder zur Folge hat? Dies würde der bish­eri­gen EU-Europaidee umfassend ent­ge­gen­ste­hen.

  • Europäis­che Union: Anleitung zum Nation­al­is­mus | ZEIT ONLINE → ein­fach wun­der­bar sarkastisch …

    Erweck­en Sie den Ein­druck, mit dem Nation­al­staat kön­nte man auch den Lebensstil ein­er unterge­gan­genen Epoche wieder aufleben lassen.

  • „Vom Über­set­zen“ – Fest­spielrede von Car­olin Emcke | Ruhrtri­i­i­en­nale → car­olin emcke ist rat­los angesichts des entset­zens der gegen­wart und ver­sucht, die aufk­lärung (als prozess) wieder stark zu machen

    Es braucht Über­set­zun­gen der Begriffe und Werte, die aus­ge­höhlt und ver­stüm­melt wor­den sind, es braucht eine Über­set­zung von Nor­men in Anwen­dun­gen, es müssen Begriffe in Erfahrun­gen über­set­zt wer­den, damit sie vorstell­bar wer­den in ihrer Sub­stanz, damit wieder deut­lich und nachvol­lziehbar wird, woraus sie beste­hen, damit erleb­bar wird, wann und warum der Rechtsstaat einen schützt, dass sub­jek­tive Rechte nicht nur pas­siv vorhan­den, son­dern dass sie auch aktiv ein­klag­bar sind, dass eine Demokratie nicht ein­fach die Dik­tatur der Mehrheit bedeutet, wie es sich die AfD oder Ukip oder der Front Nation­al wün­schen, son­dern eben auch den Schutz der Min­der­heit, es braucht eine Über­set­zung der Geset­ze und Para­graphen, der Experten­sprache in demokratis­che Wirk­lichkeit­en, es braucht Erzäh­lun­gen davon, wie die Frei­heit schmeckt, wie die Gle­ich­heit sich anfühlt, wie die Brüder­lichkeit klingt.

Identität

Ich kann Leute nicht ver­ste­hen, die über 22 sind und trotz­dem noch glauben, sie müssten sich über ihre Musikvor­lieben eine Iden­tität zusam­men­klauben. Arm­selig, hil­f­los.Michael Weins, Lazy­boy, 183

Ins Netz gegangen (20.7.)

Ins Netz gegan­gen am 20.7.:

  • «Dig­i­tal Human­i­ties» und die Geis­teswis­senschaften: Geist unter Strom — NZZ Feuil­leton — sehr selt­samer text von urs hafn­er, der vor allem wohl seine eigene skep­sis gegenüber “dig­i­tal human­i­ties” bestäti­gen wollte. dabei unter­laufe ihm einige fehler und er schlägt ziem­lich wilde volten: wer “human­i­ties” mit “human­wis­senschaften” über­set­zt, scheint sich z.b. kaum auszuken­nen. und was die verz­er­rende darstel­lung von open access mit den dig­i­tal human­i­ties zu tun hat, ist auch nicht so ganz klar. ganz abge­se­hen davon, dass er die fäch­er zumin­d­est zum teil fehlrepräsen­tiert: es geht eben nicht immer nur um close read­ing und inter­pre­ta­tion von einzel­tex­ten (abge­se­hen davon, dass e‑mailen mit den dig­i­tal human­i­ties unge­fähr so viel zu tun hat wie das nutzen von schreib­maschi­nen mit kittler’schen medi­en­the­o­rien …)
  • Lyrik: Reißt die Seit­en aus den Büch­ern! | ZEIT ONLINE — nette idee von thomas böhm, die lyrik zu vere­inzeln (statt in lyrik­bän­den zu sam­meln), das gedicht als optis­ches sprachkunst­werk zu ver­mark­ten (auch wenn ich seine argu­men­ta­tio­nen oft über­haupt nicht überzeu­gend finde)
  • Ein­sam auf der Säule « Lyrikzeitung & Poet­ry News — gute kri­tikkri­tik zur besprechung des aktuellen “Jahrbuchs für Lyrik” in der “zeit”, die auch mich ziem­lich ver­wun­dert hat.

    Unter­schei­dung, Alter­na­tiv­en, Schw­er­punk­t­set­zung? Fehlanzeige. Rez. zieht es vor, sich als scharfe Kri­tik­erin zu insze­nieren, jede Dif­feren­zierung schwächte das Bild nur. Lieber auf der Schul­ter von Riesen, hier neben Krüger, Benn & Co. vor allem Jos­sif Brod­sky, auf die behauptet magere deutsche Szene her­ab­blick­en. Ein­sam ist es dort oben auf der Säule!

  • Verkehrssicher­heit: Brun­ners let­zte Fahrt | ZEIT ONLINE — sehr inten­sive reportage von hen­ning susse­bach über die prob­leme der/mit altern­den aut­o­fahrern (für meinen geschmack manch­mal etwas trä­nen­drüsig, aber ins­ge­samt trotz­dem sehr gut geschrieben)

    Urlaub­szeit in Deutsch­land, Mil­lio­nen Reisende sind auf den Straßen. Da biegt ein 79-Jähriger in falsch­er Rich­tung auf die Auto­bahn ein – fünf Men­schen ster­ben. Ein Unglück, das zu ein­er brisan­ten Frage führt: Kann man zu alt wer­den fürs Aut­o­fahren?

  • Lyrik und Rap: Die härteste Gan­gart am Start | ZEIT ONLINE — uwe kolbe spricht mit mach one (seinem sohn) und kon­stan­tin ulmer über lyrik, raps, rhyth­mus und the­men der kun­st

    Dass ich mit meinen Gedicht­en kein großes Pub­likum erre­iche, ist für mich etwas, worunter ich sel­ten lei­de. Ich möchte das, was ich mache, auf dem Niveau machen, das mir vorschwebt. Dabei nehme ich auch keine Rück­sicht mehr. Ich gehe an jeden Rand, den ich erre­ichen kann.

  • Rainald Goetz: Der Weltab­schreiber | ZEIT ONLINE — sehr schöne und stim­mende (auch wenn das the­ater fehlt …) würdi­gung rainald goet­zes durch david hugen­dick anlässlich der bekan­nt­gabe, dass goetz diesjähriger büch­n­er-preis-träger wird

    Die einzige Reak­tion auf die Zudringlichkeit der Welt kann nur in deren Pro­tokoll beste­hen, die zugle­ich ein Pro­tokoll der eige­nen Über­forderung sein muss.

  • “Panora­mafrei­heit”: Wider den Urhe­ber­rechts-Extrem­is­mus — Süddeutsche.de — leon­hard dobusch zum ver­such, in der eu das urhe­ber­recht noch weit­er zu ver­schär­fen:

    Wir alle sind heute ein biss­chen wie Licht­en­stein oder Warhol. Wir erstellen und teilen ständig Fotos und Videos, in denen Werke ander­er vorkom­men. Zeit, dass das Urhe­ber­recht darauf einge­ht.

  • Stravinsky’s Ille­gal “Star Span­gled Ban­ner” Arrange­ment | Tim­o­thy Judd — ich wusste gar nicht, dass es von straw­in­sky so ein schönes arrange­ment der amerikanis­chen hmyne gibt. und schon gar nicht, dass die ange­blich ver­boten sein soll …
  • Essay Griechen­land und EU: So deutsch funk­tion­iert Europa nicht — taz.de — ulrich schulte in der taz zu griechen­land und der eu, mit vie­len sehr guten und tre­f­fend­en beobach­tun­gen & beschrei­bun­gen, unter anderem diesen

    Von CSU-Spitzenkräften ist man inzwis­chen gewohnt, dass sie jen­seits der bay­erischen Lan­des­gren­ze so dumpf agieren, als gössen sie sich zum Früh­stück fünf Weiß­bier in den Hals.
    […] Das Char­mante an der teils irrlichtern­den Syriza-Regierung ist ja, dass sie einge­spielte Riten als nackt ent­larvt.

  • Sich „kon­struk­tiv ver­hal­ten“ heißt, ernst genom­men zu wer­den | KRZYSZTOF RUCHNIEWICZ — Stel­lung­nahme ehe­ma­liger Mit­gliedern des Wis­senschaftlich Beraterkreis­es der (sowieso über­mäßig vom Bund der Vertreibenen dominierten) Stiftung Flucht, Vertrei­bung, Ver­söh­nung zur Farce der Wahl des neuen Direk­tors unter Kul­turstaatsmin­is­terin Moni­ka Grüt­ters
  • Kon­sum: Kleine Geschichte vom richti­gen Leben | ZEIT ONLINE — marie schmidt weiß nicht so recht, was sie von craft beer, handgeröstetem kaf­fee und dem ganzen zele­bri­erten super-kon­sum hal­ten soll: fetisch? rückbesin­nung alte handw­erk­liche werte? oder was?
  • Alle Musik ist zu lang — wun­der­bare über­legun­gen von diet­mar dath zur musik, der welt und ihrer philoso­phie

    Alle bere­its vorhan­dene, also aufgeschriebene oder aufgeze­ich­nete Musik, ob als Schema oder als wieder­gabefähige Auf­führung erhal­ten, ist für Men­schen, die heute Musik machen wollen, zu lang, das heißt: Das kön­nen wir doch nicht alles hören, wir wollen doch auch mal anfan­gen. Wie gesagt, das gilt nicht nur für die Werke, son­dern schon für deren Muster, Prinzip­i­en, Gat­tun­gen, Tech­niken.
    […] Musik hält die Zeit an, um sie zu ver­brauchen. Während man sie spielt oder hört, passiert alles andere nicht, insofern han­delt sie von Ewigkeit als Ereig­nis- und Taten­losigkeit. Aber bei­de Aspek­te der Ewigkeit, die sie zeigt, sind in ihr nicht ein­fach irgend­wie gegeben, sie müssen hergestellt wer­den: Die Ereignis­losigkeit selb­st geschieht, die Taten­losigkeit selb­st ist eine musikalis­che Tat.

  • Lit­er­atur­blogs are bro­ken | The Dai­ly Frown — fabi­an thomas attestiert den “lit­er­atur­blogs” “fehlende Dis­tanz, Gefall­sucht und Harm­losigkeit aus Prinzip” — und angesichts mein­er beobach­tung (die ein eher kleines und unsys­tem­a­tis­ches sam­ple hat) muss ich ihm lei­der zus­tim­men.
  • Inter­view ǀ „Ent-iden­ti­fiziert euch!“ — der Fre­itag — großar­tiges gespräch zwis­chen har­ald fal­ck­en­berg und jonathan meese über wag­n­er, bayreuth, kun­st und den ganzen rest:

    Ja, ich hab total auf lieb Kind gemacht. Ich merk­te ja schon, dass ich im Wag­n­er-Forum so als Mon­ster dargestellt wurde. Ich bin kein Mon­ster. Ich wollte das Ding nur radikalisieren. Ich hab auf nett gemacht und so getan, als wäre ich gar nicht ich selb­st. Was ich ja immer tue. Sei niemals du selb­st. Keine Selb­st­suche, bitte. Keine Pil­ger­fahrt. Keine Möncherei. Ich bin ein­fach wie ’n Spielkind da range­gan­gen, und ich dachte, jet­zt geht’s ab.
    […] Kul­tur ist genau­so beschissen wie Gegenkul­tur. Main­stream ist genau­so beschissen wie Under­ground. Kul­tur und Gegenkul­tur ist das Gle­iche. Poli­tik kannst du nicht mit Kul­tur bekämpfen. Son­dern nur mit Kun­st. Du kannst nicht eine neue Partei grün­den, weil sie genau­so scheiße ist wie jede andere. Du kannst keine neue Reli­gion grün­den, weil sie genau­so scheiße ist wie alle anderen. Du kannst keine neue Eso­terik schaf­fen, weil sie genau­so scheiße ist wie jede andere. Du kannst keine Spir­i­tu­al­ität schaf­fen, die bess­er wäre als alle anderen.
    Jede Partei ist gle­ich scheiße, jede Reli­gion ist gle­ich zukun­ft­sun­fähig, jede Eso­terik ist abzulehnen. Ich benutze Eso­terik, aber ich iden­ti­fiziere mich nicht damit. Ich iden­ti­fiziere mich nicht mit Wag­n­er, ich iden­ti­fiziere mich nicht mit Bayreuth, ich iden­ti­fiziere mich mit gar nichts.
    Ent-iden­ti­fiziert euch! Seid nicht mehr! Seid eine Num­mer! Seid endlich eine Num­mer!
    Das ist geil. Seid kein Name! Seid kein Indi­vidu­um! Seid kein Ich! Macht keine Nabelbeschau, keine Pil­ger­reise, geht niemals ins Kloster, guckt euch niemals im Spiegel an, guckt immer vor­bei!
    Macht niemals den Fehler, dass ihr auf den Trip geht, euch selb­st spiegeln zu wollen. Ihr seid es nicht. Es ist nicht die Wichtigtuerei, die die Kun­st aus­macht, son­dern der Dienst an der Kun­st. Die Kun­st ist völ­lig frei. Meine Arbeit, die ist mir zuzuschreiben, aber nicht die Kun­st. Die spielt sich an mir ab.

  • Eine Bemerkung zur Kom­pe­ten­zori­en­tierung by Fach­di­dak­tik Deutsch -

    »Fak­ten­wis­sen« kommt nicht zuerst, wenn Kom­pe­ten­zori­en­tierung ernst genom­men wird – Kön­nen kommt zuerst. Kom­pe­ten­zori­en­tierung bedeutet, die Ler­nen­den zu fra­gen, ob sie etwas kön­nen und wie sie zeigen kön­nen, dass sie es kön­nen. Weil ich als Lehren­der nicht mehr zwin­gend sagen kann, auf welchem Weg dieses Kön­nen zu erre­ichen ist. Dass dieses Kön­nen mit Wis­sen und Moti­va­tion gekop­pelt ist, ste­ht in jed­er Kom­pe­ten­zde­f­i­n­i­tion. Wer sich damit auseinan­der­set­zt, weiß das. Tut das eine Lehrkraft nicht, ist das zunächst ein­fach ein­mal ein Zeichen dafür, dass sie sich nicht mit Kom­pe­ten­zori­en­tierung beschäftigt hat. Fehlt diese Bere­itschaft, müssen zuerst die Voraus­set­zun­gen dafür geschaf­fen wer­den.

  • Essay zum UN-Weltkul­turerbe: Mord mit besten Absicht­en — taz.de -

    Und immer noch drän­geln die Städte, die Dör­fer, die Regio­nen, dass sie ja als Erste ein­bal­samiert wer­den. Wie die Län­der, die sich um Olymp­is­che Spiele bewer­ben, ohne sich klarzu­machen, dass sie damit ihren Unter­gang her­auf­beschwören wie Griechen­land mit Athen.

  • Wie man nicht für die Vor­rats­daten­spe­icherung argu­men­tiert | saschalobo.com — sascha lobo seziert den tweet von rein­hold gall. wie (fast) immer exzel­lent. schade (und mir unver­ständlich), dass solche texte in den großen, pub­likum­swirk­samen medi­en keinen platz find­en — warum ste­ht das nicht im print-spiegel, der gedruck­ten faz oder süd­deutschen?
  • Sex (und gen­der) bei der Fifa | Männlich-weib­lich-zwis­chen — ein schön­er text zum prob­lem der bes­tim­mung des geschlechts, des biol­o­gis­chen, wie es die fifa ver­sucht — näm­lich über den testos­teron-spiegel. mit dem (inzwis­chen erwart­baren) resul­tat: so kann man das jeden­falls nicht machen.

    an darf also ver­muten und hof­fen, dass auch diese Def­i­n­i­tion von sex zu sportlichen Zweck­en dem­nächst, wie bish­er alle anderen Def­i­n­i­tio­nen auch, als unbrauch­bar und absurd erweisen – aber wohl, eben­falls wie immer, erst zu spät.

Ins Netz gegangen (18.6.)

Ins Netz gegan­gen am 18.6.:

  • Ste­fan Nigge­meier | Der Ehrgeiz des Ste­fan Raab — ste­fan nigge­meier schreibt einen nachruf auf ste­fan raab (zumin­d­est liest es sich über weite streck­en so …)
  • Pro­fil, ver­schachert für 25 Cent — con­stanze kurz in ihrer faz-kolumne über die selt­same dig­i­talpoli­tik der kan­z­lerin

    Warum sollte sich aber daran in Zukun­ft nicht mehr nur ein klein­er Kreis von Konz­er­nen eine gold­ene Nase ver­di­enen, son­dern plöt­zlich – falls endlich die stören­den Skep­tik­er aus dem Weg gehen – Big Data zum Segen für die deutsche Wirtschaft wer­den? Glaubt die Bun­deskan­z­lerin, die Big-Data-Könige wer­den ihre Serv­er-Hallen, Cloud-Stan­dorte und Rechen­zen­tren neb­st den Forschungszen­tren und den klüg­sten Data-Min­ing-Köpfen, die sie inter­na­tion­al eingekauft haben, den deutschen Unternehmern abtreten, wenn diese nur ihre skep­tis­che Hal­tung able­gen?

  • Rachel Dolezal: Die Far­ben­frage | ZEIT ONLINE — ein sehr kluger, aus­führlich­er und abwä­gen­der text von nils mark­wardt über rachel dolezal, schwarz und weiß und die (aus deutscher/meiner sicht reich­lich merk­würdig anmu­tende) diskus­sion um “rasse” als iden­titäts­mark­er

    Doch was fol­gt nun aus dem Ganzen? Sofern race eine soziale Kon­struk­tion ist, stellt sich die hypo­thetis­che Frage, ob das Pass­ing von Rachel Dolezal nicht zumin­d­est dann legit­im gewe­sen wäre, wenn sie mit offe­nen Karten gespielt hätte, wenn sie also von vorn­here­in pub­lik gemacht hätte, dass sie als Weiße geboren wurde, sich aber als Schwarze fühlt.
    Doch selb­st dann hätte dieser Fall ein entschei­den­des Prob­lem, das sich aus ein­er his­torischen Unter­drück­ungs­geschichte ableit­et. Wenn man solch ein tran­sra­cial-Konzept radikal zu Ende denkt, hieße dies ja, dass let­ztlich jede Form eth­nis­ch­er Selb­st­beschrei­bung indi­vidu­ell ver­han­del­bar würde. Und dies würde dann, zumin­d­est bis zu einem gewis­sen Grade, eben­falls bedeuten, dass let­ztlich auch jene affir­ma­tiv­en schwarzen Iden­tität­skonzepte, etwa black­ness oder négri­tude, die nicht zulet­zt auch als Reak­tion auf jahrhun­derte­lange Repres­sion durch Weiße ent­standen sind, obso­let wür­den oder sich zumin­d­est soweit öff­nen müssten, dass auch Weiße “I’m proud to be black” sagen kön­nten.
    Sprich: Man hätte, wenn auch unge­wollt und mit den Mit­teln weißer dekon­struk­tivis­tis­ch­er Essen­tial­is­muskri­tik, aber­mals eine Sit­u­a­tion, in der Schwarzen gesagt wird, wie sie ihre Kul­tur zu definieren haben.

  • Wie ich Fem­i­nist wurde | Log­buch Suhrkamp — ein sehr per­sön­lich­er, auf­schlussre­ich­er und inter­es­san­ter text von thomas mei­necke (fast eine art beken­nt­nis), im dem es um den weg zum selb­st und zum schreiben (und auch: dem ver­ste­hen von welt und men­sch) geht

    In diesem ästhetisch-poli­tis­chen Spalt lassen sich diskur­sive Romane ver­fassen, die von anderen Din­gen erzählen als jene, die von den großen männlichen, ver­meintlich geschlosse­nen, auf jeden Fall sich als autonom insze­nieren­den Autor-Sub­jek­ten (oft als Genies beze­ich­net) ver­fasst wur­den (und weit­er­hin munter ver­fasst wer­den). Die große Bina­rität, wie sie dem an der Kat­e­gorie der Klasse ori­en­tierten poli­tis­chen Denken und Schreiben anhaftete, wurde nun durch einen genauen Blick auf die kleinen Unter­schiede, auf sub­tile Ver­schiebun­gen und Mod­u­la­tio­nen abgelöst

  • Trea­sure In Heav­en | Lapham’s Quar­ter­ly — peter brown über die “kam­pagne” des frühen chris­ten­tums und beson­ders hierony­mus’, euer­getismus in christlich­es almosen­geben zu ver­wan­deln

    Alto­geth­er, to accept Chris­t­ian preach­ing was to make a major shift in one’s image of soci­ety. In terms of the social imag­i­na­tion, it involved noth­ing less than mov­ing from a closed uni­verse to an open one. We begin, in the clas­si­cal world, with a hon­ey­comb of lit­tle cities, in each of which the rich thought of nur­tur­ing only their fel­low cit­i­zens, with lit­tle regard to whether any of them were poor. We end, in Chris­t­ian times, with an open uni­verse, where soci­ety as a whole—in town and coun­try­side alike—was seen to be ruled, as if by a uni­ver­sal law of grav­i­ty, by a sin­gle, bleak divi­sion between rich and poor. The duty of the Chris­t­ian preach­er was to urge the rich no longer to spend their mon­ey on their beloved, well-known city, but to lose it, almost heed­less­ly, in the face­less mass of the poor. Only that utter­ly coun­ter­fac­tu­al gesture—a ges­ture that owed noth­ing to the claims of one’s home­town or of one’s fel­low citizens—would earn the rich “trea­sure in heav­en.”

  • Der Pianist Mau­r­izio Polli­ni im Inter­view — ein sehr, sehr gutes, inter­es­santes und intel­li­gentes gespräch zwis­chen zwei beethoven-lieb­habern, jan brach­mann und mau­r­izio polli­ni, anlässlich der vol­len­dung sein­er auf­nahme aller beethoven-sonate

    Es gibt in Beethovens Musik Momente, die in die Nähe religiös­er Erfahrung führen kön­nen. Momente von gesteigertem Enthu­si­as­mus. Ich will das gar nicht leug­nen. Ich per­sön­lich finde, dass man nicht notwendi­ger­weise an Reli­gion denken muss, um diese Musik zu würdi­gen. Es ist nur deren Größe, welche die ästhetis­che Begeis­terung schnell ins Religiöse umschla­gen lassen kann.[…] Das Prob­lem liegt darin, dass Beethovens Werke so vielgestaltig sind. Er wech­selt Stil und Stim­mung von Stück zu Stück. Es wieder­holt sich nichts. Deshalb sind diese Sonat­en so schw­er zu spie­len. Die Ken­nt­nis der einen Sonate hil­ft Ihnen über­haupt nicht weit­er bei der näch­sten.

  • Dop­pelte Unfall­ge­fahr: Helmträger in Mün­ster öfter im Kranken­haus | Rad­helm­fak­ten — eine etwas beun­ruhi­gende samm­lung von dat­en der unfall­sta­tis­tiken: es scheint so, dass die ver­let­zungsrate bei helmträgern in unfällen deut­lich größer ist als bei nicht-helmträgern. das wider­spricht schön jed­er all­t­agslogik — und es ist über­haupt nicht klar, warum das so ist …
  • DER NERD: EINE MINI-PHÄNOMENOLOGIE | Das Schön­ste an Deutsch­land ist die Auto­bahn — sehr coole über­legun­gen von georg seeßlen zum nerd­tum, der pop-)kultur und ins­beson­dere dem deutschen nerd:

    Jede Kul­tur hat die Nerds, die sie ver­di­ent. Den Geist ein­er Com­ic-Serie, eines TV-Events, eines Star-Ima­gos oder ein­er Buchrei­he, ein­er Sportart, ein­er Kom­mu­nika­tion­stech­nik, ein­er Pro­duk­tlin­ie erken­nt man an ihren Nerds.[…] Der deutsche Nerd liebt nicht, was er sich erwählt hat, son­dern er has­st, was dem ent­ge­gen oder auch nur außer­halb ste­ht. Der deutsche Nerd denkt immer hier­ar­chisch. Er will unbe­d­ingt Ober-Nerd wer­den. Er will das Nerd-Tum organ­isieren. Statt Exege­sen pro­duziert er Vorschriften, statt Gottes­di­en­sten seines Kultes hält er Gerichte.

Ins Netz gegangen (13.1.)

Ins Netz gegan­gen am 13.1.:

  • Ein deutsch­er Dichter bin ich einst gewe­sen | ver­brecherei — Max Her­rmann-Neisse:

    Ein deutsch­er Dichter bin ich einst gewe­sen,
    die Heimat klang in mein­er Melodie,
    ihr Leben war in meinem Lied zu lesen,
    das mit ihr welk­te und mit ihr gedieh.

    Die Heimat hat mir Treue nicht gehal­ten,
    sie gab sich ganz den bösen Trieben hin,
    so kann ich nur ihr Traum­bild noch gestal­ten,
    der ich ihr trotz­dem treu geblieben bin.

    — der Ver­brech­er-Ver­lag hat jet­zt auch ein Ver­lags­blog …

  • Späte Kriegs­gewinnler — Wiener Zeitung Online — Edwin Baum­gart­ner über die flut an bedruck­tem papi­er im gedenk­jahr zum ersten weltkrieg

    Und so ein­fach ist es auch beim Ersten Weltkrieg: Es ist ein Riesen­re­ma­suri, ein — wie heißt das beina­he deutsche Wort? — ja, richtig: ein Hype.

    /via “der umblät­ter­er”, die das nicht ganz zu unrecht zum feuil­leton des jahres 2014 wählten (http://www.umblaetterer.de/2015/01/13/die-ergebnisse-der-feuilleton-meisterschaft-2014/)

  • What David Cameron just pro­posed would endan­ger every Briton and destroy the IT indus­try — Boing Boing — david cameron will den bösen buben die ver­schlüs­selung ver­bi­eten. dumm nur, dass er halt keine ahnung hat: “David Cameron does­n’t under­stand tech­nol­o­gy very well, so he does­n’t actu­al­ly know what he’s ask­ing for”, sagt cory doc­torow, “it puts the whole nation — indi­vid­u­als and indus­try — in ter­ri­ble jeop­ardy. ”
  • 33. Europas Werte und das Para­dox der Aufk­lärung | Geschichte wird gemacht — achim landwehr über europäis­che werte (eigen­tum!) und ihre para­doxale struk­tur
  • Schlund | Peter Richter — peter richter hat einen “mon­tags-spazier­gang” in dres­den besucht und in die abgründe der pegida-“bewegung” geschaut.
  • Büch­er von Pop­musik­ern: Wahre Größe gibt es nur schwarz auf weiß | ZEIT ONLINE — ger­rit bar­tels ste­ht etwas hil­f­los vor dem phänomen, dass schein­bar immer mehr popmusiker/innen büch­er schreiben und veröf­fentlichen (wie gle­ich der erste kom­men­ta­tor bemerkt, hat er mit thomas mei­necke das beste beispiel vergessen …)

    Das Kanon­isieren von Pop und bes­timmten Pop­szenen geht also inten­siv weit­er. Auch für Musik­er ist es da attrak­tiv, die flüchti­gen Pop­mo­mente auf den Büh­nen und den DJ-Kanzeln festzuhal­ten, die Dreiminuten-Sin­gle und den Club-Hit in eine Erzäh­lung zu bet­ten und damit zu sich­ern. Ein Buch hat eben doch Bestand, ist ein ganz eigen­er Wert.

  • Pegi­da-Demon­stra­tio­nen — “Das ist alles ernst zu nehmen” — Der Direk­tor der säch­sis­chen Lan­deszen­trale für poli­tis­che Bil­dung, Frank Richter, hat zum Dia­log mit den Anhängern der Pegi­da-Grup­pierung aufgerufen. “Wir haben es offen­sichtlich mit einem Prob­lem­stau zu tun”, sagte Richter im Deutsch­land­funk. Man müsse den Bürg­ern respek­tvoll zuhören, so schwierig es auch sein möge.
  • Islamisierung, Marken­schutz und dumme Fra­gen — jür­gen kaube hat recht:

    Gefüh­le haben ihr eigenes poli­tis­ches Recht. Die Frage ist nur, ob sich zutr­e­f­fende Gedanken daraus machen lassen.

  • Wie es bei „Maybrit Ill­ner“ im ZDF wirk­lich zuge­ht — der autor ulf erd­mann ziegler war bei der ill­ner-rede­gruppe im zdf als gast geladen. und kann skurile ergeb­nisse bericht­en, die alle hoff­nung auf qual­ität­sjour­nal­is­mus im talk­for­mat ver­nicht­en.

    Okay, die plöt­zliche Über­frach­tung der Sendung mit Sebas­t­ian Edathy und seinem Schick­sal ist das eine. Den­noch, man hätte die Kurve kriegen kön­nen. Wie wäre es etwa mit der Frage gewe­sen: ob, Herr Ziegler, was an diesem Don­ner­stag die Haupt­stadt erschüt­terte, eigentlich ein gutes Roman­the­ma sei. Aber mit Sicher­heit, Frau Ill­ner! Die Neben­rolle der Igno­ran­tin, die sich all­wis­send gibt, wäre Ihnen darin sich­er.

gesund oder krank: das ich in der postmoderne

rain­er funk macht sich gedanken darüber: ist die spezielle ich-ori­en­tierung des sub­jek­ts in der post­mod­erne psy­cho­an­a­lytisch gese­hen etwas gutes oder schlecht­es? es ist natür­lich etwas defizientes, im grunde krankes: sie ist nicht-pro­duk­tiv (und noch eine menge anderes). da ich von psy­cho­nanalyse ja eigentlich kein­er­lei ahnung habe, kann ich nicht wirk­lich beurteilen, wie gut funk dabei ist. was ich aber sagen kann ist, dass sich die lek­türe des eigentlich gar nicht so umfan­gre­ichen büch­leins (ca. 240 seit­en im taschen­buch in sehr großer schrift­type) erstaunlich zäh hinzieht. und dass einiges auf­fällt. etwa, dass funk außer sieg­mund freud und seinem großen vor­bild und meis­ter erich fromm fast keine lit­er­atur ver­wen­det (außer eini­gen weni­gen sozi­ol­o­gis­chen unter­suchun­gen). entsprechend monogam ist die argu­men­ta­tion. und da ist noch ein schwach­punkt: funk reit­et ewig auf den sel­ben ent­deck­un­gen herum, führt sie immer wieder und wieder und wieder neu aus. denn so viel hat er gar nicht zu sagen: die ich-ori­en­tierung der post­mod­erne ist kein ego­is­mus, kein narziss­mus, son­dern eine eigene form, eine psy­chis­che reak­tion auf die erfahrung der „gemacht­en welt“, der unendlichen möglichkeit der fik­tion etc. pp.

damit rühren wir an eine grund­sät­zliche frag­würdigkeit für mich: sind die dig­i­tal­en wel­ten, die funk als so wesentlich für die post­mod­erne aus­macht, wirk­lich etwas kat­e­go­r­i­al neues? wenn man sie näm­lich wie funk auf ihre fik­tion­al­ität (als gege­nen­twurf zu oder flucht aus der real­ität) beschränkt, scheinen sie für mich zunächst gar nicht so sehr unter­schieden von den möglichkeit­en der ver­gan­gen­heit, ins­beson­dere der mod­erne, aber sog­ar auch früher­er zeit­en: da wären natür­lich jede art von lit­er­atur (was ist ein roman denn anderes als ein alter­na­tiv­er lebensen­twurf?), da wäre auch das the­ater und natür­lich schon von anfang an der (kino-)film. neu wäre möglicher­weise ihr aus­maß – aber selb­st das würde ich nicht so ohne weit­eres behaupten wollen, das müsste schon noch ein wenig fak­tisch unter­mauert wer­den – dass funke das nicht leis­tet, ver­wun­dert kaum.

denn seine unter­suchung zum ich in der post­mod­erne hat noch eine weit­ere ganz große lücke: seine post­mod­erne. die wird, wie so oft, zunächst sehr vage und unge­nau als philosophis­che strö­mung beschrieben, die dann aber auf ein­mal, in ein­er hoff­nungslosen über­be­w­er­tung ihres ein­flusses, den gesamten all­t­ag der men­schen erfasst (über­flüs­sig zu sagen, dass für funke irgend­wie nur men­schen der europäis­chen, vielle­icht noch amerikanis­chen län­der über­haupt vorkom­men), ihr denken und han­deln bes­timmt und dementsprechend ihre psy­che bee­in­flusst. genau das aber zeigt funke über­haupt nicht (es wäre auch nicht ganz anspruch­s­los…): ob die post­mod­erne der philoso­phie und ihrer ästhetis­chen auswirkun­gen (und da fängt es ja schon an – ganz große teile der kun­st ignori­eren ihre ideen schließlich ein­fach ganz und gar) wirk­lich unser leben in diesem aus­maße bes­timmt (hat), ist doch mehr als fraglich. und deshalb bleibt funkes buch auch so beschei­den im ertrag. und da ich ger­ade dabei bin, fällt mir doch noch etwas ein: wie alle „errun­gen­schaften“ der post­mod­erne sowieso in ihrer fak­tiz­ität fraglich sind, ist auch der von funke beobachtete/diagnostizierte post­mod­erne men­sch wohl nur sel­ten in freier wild­bahn anzutr­e­f­fen. heute noch sel­tener als in sein­er hochzeit, den neun­ziger jahren. denn inzwis­chen hat sich doch alles schon wieder dreimal geän­dert…

rain­er funk: ich und wir. psy­cho­analyse des post­mod­er­nen men­schen. münchen: dtv 2005
siehe auch: per­len­tauch­er, eine kurzver­sion in der “welt am son­ntag”

willensfreiheit — aber richtig, bitte!

endlich das merkur-heft von märz ange­gan­gen. wie so oft ste­ht das beste am anfang: ein text von jan philipp reemts­ma, das schein­prob­lem wil­lens­frei­heit. ein plä­doy­er für das ende ein­er über­flüs­si­gen debat­te. denn reemts­ma gelingt — mit zunächst erstaunlich geringem, sehr schnell aber bewun­dernd beobachtet ökonomis­chen ein­satz von gehirn­schmalz und argu­men­ta­tion, die von den neu­rolo­gen (um wolf singer und kon­sorten) angezettelte debat­te um die neu­rol­o­gis­che vorbes­tim­mung aller men­schlichen entschei­dun­gen und die damit ange­blich ein­herge­hende unmöglichkeit des kon­struk­tes, der idee ein­er per­son­alen, sub­jek­tiv­en, ich-gebun­de­nen wil­lens­frei­heit, — ja man muss sagen, abzuschmettern und mit eini­gen ver­nich­t­end genau platzierten schlä­gen auf den boden zu schick­en. wenn ich das richtig ver­standen habe, geht die argu­men­ta­tion unge­fähr so: zunächst muss man natür­lich erst mal klarstellen, was wil­lens­frei­heit ist — näm­lich die unter­stel­lung, „men­schen hät­ten auch anders han­deln kön­nen, als sie es getan haben”. das impliziert ja ger­ade die idee der ver­want­wor­tung des sub­jek­tes für seine entschei­dun­gen und v.a. tat­en, und entsprechend seine schuld­fähigkeit. der entschei­dende schritt, der reemts­ma von den schein­bar philosophis­chen argu­menten der neu­ro­bi­olo­gen tren­nt, ist nun fol­gen­der: „nichts spricht gegen die annahme, daß solche phänomene [d.h. entschei­dun­gen, gedanken, stim­mungen etc.] als hirn­vorgänge in einem neu­ro­bi­ol­o­gis­chen respek­tive bio­chemis­chen vok­ab­u­lar voll­ständig beschrieben wer­den kön­nen. nichts spricht für die annahme, daß mit der möglichkeit ein­er solchen beschrei­bung ein vok­ab­u­lar der moralis­chen oder eines der ästhetis­chen oder eines der juris­tis­chen beschrei­bung solchen ver­hal­tens über­flüs­sig würde.” und vor allem dann: „eben­sowenig spricht dafür, daß die let­zt­ge­nan­nten vok­ab­u­lar­ien das wesentliche an diesen phänome­nen erfaßten, woge­gen die ersteren nur die ‘materielle erschei­n­ungs­form’.” par­al­lel dazu weist reemts­ma natür­lich auch das kausal­ität­sar­gu­ment zurück — das lässt sich ja durch ein­fachen regress ad adsur­bum führen: „wenn alles vom urk­nall an wie eine gut gebaute lin­ie domi­nos­teine durch die jahrmil­lio­nen klap­pert, dann ist auch die art und weise, wie ernst jemand dies als argu­ment nimmt, eben­so deter­miniert wie das vor­brin­gen des argu­ments selb­st. dann ist das für-läp­pisch-hal­ten dieses argu­ments bei eini­gen eben­so notwendig deter­miniert wie das vor­brin­gen des argu­ments selb­st.” der näch­ste schritt ist nun, das libet-exper­i­ment als argu­ment für einen neu­rol­o­gis­chen deter­min­is­mus zurück­zuweisen. denn das exper­i­ment sagt ja bei genauer betra­ch­tung nur aus, dass „das bere­itschaftspo­ten­tial entste­ht, bevor die ver­suchsper­son der empfind­ung, einen entschluß gefaßt zu haben, aus­druck ver­lei­ht.” das entschei­dende hier­bei ist näm­lich, nicht aus den augen zu ver­lieren, dass „wir niemals jene momente des bewußten über­gangs, des schwanken zwis­chen mehreren möglichkeit­en” ein­er entschei­dung über­haupt erleben. der wichtige schritt von den neu­ro­bi­ol­o­gis­chen vorgän­gen zu den gedanken schafft näm­lich die neu­ro­bi­olo­gie offen­bar noch nicht, da ist noch eine — entschei­dende — lücke. wie reemts­ma nun aber zeigen kann, muss singer die „vorstel­lung eines sub­jek­tes ‘hin­ter’ den neu­ronalen prozessen, das sich ihrer gle­ich­sam bedi­ent” über­haupt erst etablieren, um es dann ach so wirkungsvoll abwehren zu kön­nen. und die ursache dieser argu­men­ta­tiv­en mis­ere sieht reemts­ma in der man­gel­haften philosophis­chen bil­dung singers. denn: „das kuriose dabei ist, daß in dieser weise ambi­tion­ierte akademik­er den anspruch der philoso­phie zunächst ernst nehmen müssen, um ihn dann vehe­ment bestre­it­en zu kön­nen.” „denn die unken­nt­nis der philosophis­chen tra­di­tion ist ja bei diesen tex­ten oft mit hän­den zu greifen.” und aus all dem fol­gt schießlich ganz unauf­dringlich: „die mod­erne hirn­forschung zeigt uns, wie wir im laufe unseres lebens zu dem wer­den, was wir sind. … wenn wir unter ‘frei­heit’ ver­ste­hen wür­den, daß men­schen han­del­ten, als hät­ten sie einge­baute zufalls­gen­er­a­toren, wür­den wir die frei­heit nicht schätzen” — „die bedeu­tung von ‘wil­lens­frei­heit’ ist niemals die unter­stel­lung, jemand könne oder solle han­deln, als wäre er nicht er selb­st oder jemand anderes.” frei­heit meint also — das ist nicht über­raschend — autonomie: „frei­heit heißt nicht han­deln, als wäre ich nicht ich selb­st, son­dern anders han­deln zu kön­nen als jemand anderes.” und dann ist die ganze neu­ro­bi­olo­gie und ihr deter­min­is­mus doch ziem­lich belan­g­los: „was tut es hinzu, zu erwäh­nen, daß dies ‘wollen’, ‘die entschei­dung’, wie immer wir es nen­nen, im gehirn stat­tfind­et? … was tut es hinzu, daß sich dies ‘wollen’, ‘die entschei­dung’, wie immer wir es nen­nen, als eine abfolge neu­ronaler prozesse beschreiben läßt? nichts.” genau, das ist es!

reemts­ma ergänzt das ganze dann noch um einige anmerkun­gen zum prob­lem der moralis­chen (und rechtlichen) ver­ant­wor­tung, der schuld — fra­gen, die ja die neu­ro­bi­olo­gen auch gerne aufw­er­fen. auch hier beste­ht reemts­ma natür­lich auf die weit­er­hin gültige voraus­set­zung der wil­lens­frei­heit: „daß jemand gehan­delt hat, wie er gehan­delt hat, beweist natür­lich über­haupt nicht, daß er nicht anders han­deln kon­nte, son­dern allein, daß er nicht anders han­deln wollte.” –> „wer meint, die neu­ro­bi­olo­gie könne das strafrecht auf ein ganz anderes wis­senschaftlich­es fun­da­ment stellen, hat das funk­tion­ieren mod­ern­er gesellschaften nicht ver­standen. denn das strafrecht ruht auf über­haupt keinem wis­senschaftlichen (oder philosophis­chen) fun­da­ment, son­dern beruht auf den unter­schei­dun­gen, die sein spez­i­fis­ches vok­ab­u­lar erlaubt, in der welt zu tre­f­fen.” und damit wäre das jet­zt auch endlich mal gek­lärt.

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