Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: gedicht

Gedichte, Verstehen und Bildung

Gegen die Bil­dung­shu­berei, die viele Inter­pre­ten vor ihre Lek­türen von Gedichte stellen, schreibt Jahn Kuhlbrodt1 auf “Postkul­tur” in ein­er kleinen The­sen­samm­lung zur rezip­i­en­tenori­en­ten Hermeneu­tik lyrisch­er Sprach­w­erke (wenn man das alles so nen­nen mag …):

Ver­ste­hen set­zt Bil­dung nicht voraus, son­dern ist die Bil­dung. Der Rezip­i­ent also bildet sich im Erschließen des Textes selb­st, entwick­elt sein Vok­ab­u­lar und Werkzeug, und somit sich selb­st.

Und gegen die Behaup­tung der “Unver­ständlichkeit”, die ja tat­säch­lich auch the­o­retisch gar nicht so ein­fach zu fassen ist, set­zt er die ganz und gar klare, unzwei­deutige Ansage:

Es gibt keine unver­ständlichen Gedichte (kein einziges).

Und damit ist schon klar: Zum Lesen von Lyrik braucht es keine beson­deren Ken­nt­nisse, kein spezielles Experten­wis­sen um die lit­er­atur- und motivgeschichtlichen Zusam­men­hänge, kein wie auch immer geart­etes Spezial­w­erkzeug im Umgang mit dem Text, son­dern nur ( — ja, nur! Wenn das immer so ein­fach wäre!) einen offe­nen Ver­stand und die Bere­itschaft, sich auf den jew­eili­gen Text auch wirk­lich einzu­lassen und ihn nicht nur abzufer­ti­gen (mein­er Erfahrung nach ist das aber schon der schwierig­ste Schritt über­haupt bei jed­er Lek­türe: Sich auf den Text und seine Ver­fass­theit, seine Struk­turen und seine Gemachtheit, seine Bilder, Gedanken und all das wirk­lich ganz einzu­lassen — das gelingt beileibe nicht immer!). Dann ist aber auch der dritte Punkt Kuhlbrodts sowieso schon klar, näm­lich:

Jedes Gedicht ist konkret.

Tja. So ist das eben. Wirk­lich.

Show 1 foot­note

  1. So behauptet zumin­d­est die Lyrikzeitung, der ich auch den Hin­weis auf diese Sätze ver­danke. Der Ein­trag bei “Postkul­tur” selb­st ist ohne Autorenkennze­ich­nung.

Rezitieren von Gedichten

Im Cult­mag hat Carl Wil­helm Macke 10 sehr sin­nige Regeln bzw. Gebote über das richtige, angemessene und zuläs­sige Rez­i­tieren von lyrischen Tex­ten niedergeschrieben. Sie seien jedem Ver­anstal­ter, Rez­i­ta­tor und Lyrik­lieb­haber unbe­d­ingt ans Herz gelegt. Da heißt es unter anderem:

1. Während der Lesung eines Gedichts ist aus feuer­polizeilichen und ver­sicherungsrechtlichen Grün­den das Anzün­den von Kerzen streng­stens unter­sagt.
[…] 3. Ob ein Gedicht ste­hend, sitzend, liegend, knieend oder auf dem Kopf ste­hend, in gebück­ter oder ger­ad­er Hal­tung vor­ge­tra­gen wird, muss dem jew­eili­gen Rez­i­ta­tor über­lassen wer­den.
[…] 4. Ein nüt­zlich­es Gedicht ist ein schlecht­es Gedicht und sollte deshalb möglichst nicht vor­ge­tra­gen wer­den. Das Rez­i­tieren von Pro­pa­gandagedicht­en ist nach dem Fall der Berlin­er Mauer, den Twin-Tow­er-Anschlä­gen vom 11. Sep­tem­ber 2001 streng­stens unter­sagt.

Auch die anderen Gebote sind so scharf und tre­f­fend for­muliert. Man sollte sie eigentlich vor jed­er Rez­i­ta­tion als Pflicht­teil eben­falls vor­tra­gen …

Winternacht

Winternacht.

1.

Vor Kälte ist die Luft erstarrt,
Es kracht der Schnee von meinen Tritten,
Es dampft mein Hauch, es klirrt mein Bart;
Nur fort, nur immer fortgeschritten!


Wie feierlich die Gegend schweigt!
Der Mond bescheint die alten Fichten,
Die, sehnsuchtsvoll zum Tod geneigt,
Den Zweig zurück zur Erde richten.

Frost! friere mir ins Herz hinein,
Tief in das heißbewegte, wilde!
Daß einmal Ruh mag drinnen seyn,
Wie hier im nächtlichen Gefilde!

2.

Dort heult im tiefen Waldesraum
Ein Wolf; – wie’s Kind aufweckt die Mutter,
Schreit er die Nacht aus ihrem Traum
Und heischt von ihr sein blutig Futter.

Nun brausen über Schnee und Eis
Die Winde fort mit tollem Jagen,
Als wollten sie sich rennen heiß:
Wach auf, o Herz, zu wildem Klagen!

Laß deine Todten auferstehn,
Und deiner Qualen dunkle Horden!
Und laß sie mit den Stürmen gehn,
Dem rauhen Spielgesind aus Norden!

Die Sommernacht

Wenn der Schim­mer von dem Monde nun herab
In die Wälder sich ergießt, und Gerüche
Mit den Düften von der Linde
In den Küh­lun­gen wehn;

So umschat­ten mich Gedanken an das Grab
Der Geliebten, und ich seh in dem Walde
Nur es däm­mern, und es weht mir
Von der Blüthe nicht her.

Ich genoß einst, o ihr Todten, es mit euch!
Wie umwe­ht­en uns der Duft und die Küh­lung,
Wie ver­schönt warst von dem Monde,
Du o schöne Natur!

— Friedrich Got­t­lob Klo­stock, 1766

Sprache

“Die Rache
der Sprache
ist das Gedicht”
(Ernst Jan­dl)

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