Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: gedicht Seite 1 von 2

Schweigen

Was sie sagen,
die Vor­fah­ren,
geht uns viel­leicht gar nichts an.
Wir sehen, was sie tun, was sie taten,
aber ob es sie waren?

Ich könn­te in die Biblio­thek gehen
und lesen, was eigent­lich gemeint war,
und schrei­en.
Ich könn­te die Blöd­heit im Schnitt der Stei­ne,
ver­mer­gelt mit Weis­heit, erken­nen
und schrei­en,
ein­ge­mau­ert in die­se Geschich­te.

Es muss Geschwis­ter geben (alle so Schwesta, Bru­da, Cou­sin)
unter­schied­lich reagie­rend auf den glei­chen Schas,
gleich (gemein­sam) im Unter­schied­li­chen,

und ich bin blö­de zu mei­nem Glück
wie ein Göt­ter­baum ein, zwei Meter wach­send im Jahr,
das kann ich,
mit dem gan­zen Kör­per in die Bewe­gung leh­nen.

Die Anlei­tun­gen: Was sagen sie, was – wohin fal­len sie,
dahin fal­len wir auch und dann sagen wirs nicht.
Schau mich an,
wir sind die Rui­nen
für alle Idyl­len,
wir sind die Minen
für Iro­nie

Ann Cot­ten (aus: Die Anlei­tung der Vor­fah­ren. Ber­lin: Suhr­kamp 2023, 138)

Zukunft

Seven Lines About Future

Die Zukunft wird kom­men.
Auch die der Lite­ra­tur.
Sie wird wenig Hei­mat haben,
wenn sie kommt.
Aber Tag und Nacht und
die Kör­per, die sie lie­ben.

Lud­wig Fels, Mit mir hast du kei­ne Chan­ce, 5
Snowflake in close-up

Schnee

Schnee: wer
die­ses Wort zu Ende
den­ken könn­te
bis dahin
wo es sich auf­löst
und wie­der zu Was­ser wird

das die Wege auf­weicht
und den Him­mel in
einer schwar­zen

blan­ken Pfüt­ze
spie­gelt, als wär er
aus nicht­ros­ten­dem Stahl

und blie­be
unver­än­dert blau.

Rolf Die­ter Brink­mann (aus: Le Chant du Monde)[Rolf Die­ter Brink­mann: Stand­pho­tos. Gedich­ter 1962–1970. Rein­bek: Rowohlt 1980, S. 40]

Herbst

Die Blät­ter fal­len, fal­len wie von weit,
als welk­ten in den Him­meln fer­ne Gär­ten;
sie fal­len mit ver­nei­nen­der Gebär­de.

Und in den Näch­ten fällt die schwe­re Erde
aus allen Ster­nen in die Ein­sam­keit.

Wir alle fal­len. Die­se Hand da fällt.
Und sie dir and­re an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, wel­cher die­ses Fal­len
unend­li­chen sanft in sei­nen Hän­den hält.

Rai­ner Maria Ril­ke, Herbst (Das BUch der Bil­der)

Gedichte

Bei Gedich­ten hilft zwei Mal lesen immer. Das kann nie falsch sein. Denn meis­tens ist schon nach dem zwei­ten Mal klar, ob das Ding vor uns über­haupt ein Gedicht ist oder nicht. Wenn näm­liuch nach dem zwei­ten Mal klar ist, was da steht, und eben­so due­litch, dass da nichts wei­ter ist, als was man ver­stan­den hat, dann ist es kein Gedicht. Weil ein Gedicht eben nicht das ist, was man gemein­hin meint, wenn man sagt: Ich habe ver­stan­den.

Urs Enge­ler, Mein Lie­ber Lühr (in: MÜt­ze #33, 1671)

Herbst

Der dunk­le Herbst kehrt ein voll Frucht und Fül­le,
Ver­gilb­ter Glanz von schö­nen Som­mer­ta­gen.
Ein rei­nes Blau tritt aus ver­fal­le­ner Hül­le;
Der Flug der Vögel tönt von alten Sagen.
Gekel­tert ist der Wein, die mil­de Stil­le
Erfüllt von lei­ser Ant­wort dunk­ler Fra­gen

[…]—Georg Tra­kl, Der Herbst des Ein­sa­men

Ins Netz gegangen (17.2.)

Ins Netz gegan­gen am 17.2.:

  • SENSATIONSFUND ERSTEN RANGES: NEUES TRAKL-GEDICHT ENTDECKT! – bei einer biblio­theks­auf­lö­sung in wien wur­de ein bis­her auch den tra­kl-spe­zia­lis­ten unbe­kann­tes gedicht von georg tra­kl ent­deckt: „höl­der­lin“ hat tra­kl auf dem vor­satz eines ban­des sei­ner höl­der­lin-aus­ga­be (wohl in rein­schrift) notiert. die salz­bur­ger „Georg Tra­kl For­schungs- und Gedenk­stät­te“ hat das erwor­ben und als foto, in einer tran­skrip­ti­on und mit einem kom­men­tar hier ver­öf­fent­licht.
  • Sili­con Val­ley: Jen­seits von Awe­so­me | Zeit – davd hug, lite­ra­tur­re­dak­teur der „zeit“, hat das sili­con val­ley besucht. und eine herr­li­che repor­ta­ge dar­über geschrie­ben, vol­ler sanf­tem spott, iro­ni­scher distanz und prä­zi­se tref­fen­den for­mu­lie­run­gen über eine selt­sa­me mischung aus uto­pie der tech­no­lo­gi­schen zukunft und här­ten des all­täg­li­chen lebens der gegen­wart
  • Kari­ka­tu­ren­Wi­ki – Kari­ka­tu­ren gehö­ren zu den schöns­ten wie zugleich zu den anspruchs­volls­ten Quel­len im Deutsch‑, Geschichts- oder Poli­tik­un­ter­richt. Sie sind des­halb so scher zu ent­schlüs­seln, weil sie sich einer Zei­chen- und Sym­bol­spra­che bedie­nen. Die­se Zei­chen und Sym­bo­le konn­ten in ihrer Zeit meist bei den Lese­rin­nen und Lesern der Zei­tun­gen und Zeit­schrif­ten, in denen die Kari­ka­tu­ren erschie­nen sind, als bekannt vor­aus­ge­setzt wer­den. Eini­ge die­ser Zei­chen benut­zen wir heu­te auch noch, ande­re nicht mehr.

    Die­ses Wiki soll dabei hel­fen, die Ent­schlüs­se­lung von Kari­ka­tu­ren in der Schu­le ein­fa­cher zu machen.

  • „Ver­steck­te Kame­ra“ im ZDF: Das muss eine Par­odie sein | Süd­deut­sche Zei­tung – hans hoff zer­reißt die „ver­steck­te kame­ra“ von zdf mit aplomb und häme:

    Außer­dem trägt er einen Hips­ter-Bart, also irgend so eine Wuschel­be­haa­rung, die man von Ange­hö­ri­gen der Tali­ban und arbeits­lo­sen Ber­li­ner Dreh­buch­au­to­ren kennt.
    […]
    Wenn man etwas Gutes über Ste­ven Gät­jen sagen möch­te, könn­te man anmer­ken, dass er ein guter Ober­kell­ner wäre. Er kann sich Sachen mer­ken, kann Sät­ze unfall­frei aus­spre­chen, und hier und da hat er sogar eine kecke Bemer­kung parat. […] Das wirk­lich Gute an Gät­jen ist aber vor allem sei­ne Dis­kre­ti­on. Kaum hat er sei­ne Ansa­ge voll­endet, ver­schwin­det er kom­plett aus der Erin­ne­rung des Zuschau­ers und beläs­tigt die­sen nicht mit even­tu­ell zu befürch­ten­den Erup­tio­nen von Cha­ris­ma oder Ori­gi­na­li­tät. So wie sich das für einen ganz dem Dienst­leis­tungs­ge­dan­ken ver­pflich­te­ten Ober­kell­ner nun mal gehört.
    […]
    Für die­se bei­den Momen­te hat sich Die ver­steck­te Kame­ra 2016 gelohnt. Für alles ande­re nicht.

  • Och, scha­de: die taz darf nicht zu „Cine­ma for Peace“ | taz Haus­blog

Ins Netz gegangen (23.4.)

Ins Netz gegan­gen am 23.4.:

  • Bis­lang unver­öf­fent­lich­te Wehr­machts­ak­ten jetzt online zugäng­lich – das dhi mos­kau und das zen­tral­ar­chiv des russ. ver­tei­di­gungs­min­s­te­ri­ums haben bis­her unver­öf­fent­lich­te wehr­machts­ak­ten digi­ta­li­siert und stel­len sie (in kür­ze) online zur ver­fü­gung

    Der Bestand der deut­schen Doku­men­te im Zen­tral­ar­chiv des Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­ri­ums umfasst ca. 28.000 Akten und ist ins­ge­samt in 50 Find­bü­cher geglie­dert. Nach dem Abschluss der ers­ten Pro­jekt­pha­se wer­den am 29. April 2015 die für die For­schung beson­ders wich­ti­gen Unter­la­gen des Ober­kom­man­dos der Wehr­macht (271 Akten) und des Hee­res (988 Akten) sowie der Hee­res­grup­pe Mit­te (852 Akten) weit­ge­hend online zugäng­lich gemacht. Aus­ge­nom­men sind bis­lang groß­for­ma­ti­ge Kar­ten, deren Digi­ta­li­sie­rung beson­ders auf­wän­di­ge Tech­no­lo­gien erfor­dert. In einer zwei­ten Pro­jekt­pha­se fol­gen in Kür­ze die Bestän­de der Hee­res­grup­pe „Weich­sel“ (54 Akten), des Amts Ausland/​Abwehr im OKW (52 Akten), der Waf­fen-SS und Poli­zei (120 Akten) sowie Beu­te­do­ku­men­te der Auf­klä­rungs­ver­wal­tung beim Gene­ral­stab der Roten Armee –GRU (332 Akten).

  • Bun­des­nach­rich­ten­dienst: Neue NSA-Affä­re erschüt­tert BND – SPIEGEL ONLINE – Über­wa­chung: Neue Spio­na­ge­af­fä­re erschüt­tert BND (und mich auch …)
  • We Can’t Let John Dee­re Des­troy the Very Idea of Owner­ship | WIRED – wenn urhe­ber­schutz (und so etwas wie soft­ware-paten­te …) wild lau­fen, freu­en sich kon­zer­te – denn dann kommt so etwas her­aus:

    John Dee­re and Gene­ral Motors want to evis­ce­ra­te the noti­on of owner­ship. Sure, we pay for their vehic­les. But we don’t own them. Not accor­ding to their cor­po­ra­te lawy­ers, any­way

  • 31 Theo­rie­an­sät­ze: Wor­an erkennt man ein Gedicht? – NZZ – der ver­le­ger jochen jung (von jung & jung) hat 31 „theo­rie­an­säat­ze“ (man könn­te sie auch the­sen nen­nen) über das wesen von gedich­ten notiert:

    Gedich­te strah­len in ihrer Herr­lich­keit, sie kön­nen blen­den (aber nicht blind machen). Bis­wei­len sind sie auch Blen­der.

  • Jour­na­lis­mus als Kata­stro­phe | Lesen was klü­ger macht – eine erklä­ren­de abrech­nung mit dem zustand des jour­na­lis­mus heu­te von georg seeß­len

    Einen Unter­schied zwi­schen „Qua­li­täts­jour­na­lis­mus“ und Bou­le­vard kann es dann nicht mehr geben, wenn alle Nach­rich­ten­me­di­en einer­seits aus den glei­chen Inter­es­sen und den glei­chen Quel­len ent­ste­hen, und wenn sie ande­rer­seits alle an die glei­chen Kun­den (Anzei­gen auf der einen, Leu­te die Kau­fen, ein­schal­ten, kli­cken usw. auf der ande­ren) wol­len, wenn sie Down­gra­den von Niveau und Respekt als Über­le­bens­stra­te­gie recht­fer­ti­gen. Dabei wer­den die Tricks der Nach­rich­ten­er­zeu­gung aus mehr oder weni­ger nichts immer selbst­zer­stö­re­ri­scher.[…]
    Kann denen mal viel­leicht jemand sagen, dass die Unter­schei­dung zwi­schen gutem und schlech­tem Jour­na­lis­mus nicht dar­in lie­gen kann, dass man letz­te Gren­zen der Nie­der­tracht über­schrei­tet oder nicht, son­dern dar­in, dass man sei­ne Arbeit und sei­nen Auf­trag grund­sätz­lich anders ver­steht?

  • Auf Kan­te gepresst – War­um der Vinyl-Hype die Schall­plat­te kaputt­macht | Das Fil­ter – inter­es­san­te ein­bli­cke in die schwie­rig­kei­ten, die es mit sich bringt, ein „ver­al­te­tes“ medi­um wie die schall­plat­te wei­ter zu pro­du­zie­ren – v.a. die pro­ble­me, die feh­len­der neu­bau von pro­duk­ti­ons­ma­schi­nen und ‑werk­zeug ver­ur­sa­chen (von der fra­ge nach mate­ri­al für zwi­schen­stu­fen ganz abge­se­hen) …

Gedichte, Verstehen und Bildung

Gegen die Bil­dungs­hu­be­rei, die vie­le Inter­pre­ten vor ihre Lek­tü­ren von Gedich­te stel­len, schreibt Jahn Kuhl­brodt1 auf „Post­kul­tur“ in einer klei­nen The­sen­samm­lung zur rezi­pi­en­ten­ori­en­ten Her­me­neu­tik lyri­scher Sprach­wer­ke (wenn man das alles so nen­nen mag …):

Ver­ste­hen setzt Bil­dung nicht vor­aus, son­dern ist die Bil­dung. Der Rezi­pi­ent also bil­det sich im Erschlie­ßen des Tex­tes selbst, ent­wi­ckelt sein Voka­bu­lar und Werk­zeug, und somit sich selbst.

Und gegen die Behaup­tung der „Unver­ständ­lich­keit“, die ja tat­säch­lich auch theo­re­tisch gar nicht so ein­fach zu fas­sen ist, setzt er die ganz und gar kla­re, unzwei­deu­ti­ge Ansa­ge:

Es gibt kei­ne unver­ständ­li­chen Gedich­te (kein ein­zi­ges).

Und damit ist schon klar: Zum Lesen von Lyrik braucht es kei­ne beson­de­ren Kennt­nis­se, kein spe­zi­el­les Exper­ten­wis­sen um die lite­ra­tur- und motiv­ge­schicht­li­chen Zusam­men­hän­ge, kein wie auch immer gear­te­tes Spe­zi­al­werk­zeug im Umgang mit dem Text, son­dern nur ( – ja, nur! Wenn das immer so ein­fach wäre!) einen offe­nen Ver­stand und die Bereit­schaft, sich auf den jewei­li­gen Text auch wirk­lich ein­zu­las­sen und ihn nicht nur abzu­fer­ti­gen (mei­ner Erfah­rung nach ist das aber schon der schwie­rigs­te Schritt über­haupt bei jeder Lek­tü­re: Sich auf den Text und sei­ne Ver­fasst­heit, sei­ne Struk­tu­ren und sei­ne Gemacht­heit, sei­ne Bil­der, Gedan­ken und all das wirk­lich ganz ein­zu­las­sen – das gelingt bei­lei­be nicht immer!). Dann ist aber auch der drit­te Punkt Kuhl­brodts sowie­so schon klar, näm­lich:

Jedes Gedicht ist kon­kret.

Tja. So ist das eben. Wirk­lich.

Show 1 foot­no­te

  1. So behaup­tet zumin­dest die Lyrik­zei­tung, der ich auch den Hin­weis auf die­se Sät­ze ver­dan­ke. Der Ein­trag bei „Post­kul­tur“ selbst ist ohne Autoren­kenn­zeich­nung.

Rezitieren von Gedichten

Im Cult­mag hat Carl Wil­helm Macke 10 sehr sin­ni­ge Regeln bzw. Gebo­te über das rich­ti­ge, ange­mes­se­ne und zuläs­si­ge Rezi­tie­ren von lyri­schen Tex­ten nie­der­ge­schrie­ben. Sie sei­en jedem Ver­an­stal­ter, Rezi­ta­tor und Lyrik­lieb­ha­ber unbe­dingt ans Herz gelegt. Da heißt es unter ande­rem:

1. Wäh­rend der Lesung eines Gedichts ist aus feu­er­po­li­zei­li­chen und ver­si­che­rungs­recht­li­chen Grün­den das Anzün­den von Ker­zen strengs­tens unter­sagt.
[…]
3. Ob ein Gedicht ste­hend, sit­zend, lie­gend, knie­end oder auf dem Kopf ste­hend, in gebück­ter oder gera­der Hal­tung vor­ge­tra­gen wird, muss dem jewei­li­gen Rezi­ta­tor über­las­sen wer­den.
[…]
4. Ein nütz­li­ches Gedicht ist ein schlech­tes Gedicht und soll­te des­halb mög­lichst nicht vor­ge­tra­gen wer­den. Das Rezi­tie­ren von Pro­pa­gan­da­ge­dich­ten ist nach dem Fall der Ber­li­ner Mau­er, den Twin-Tower-Anschlä­gen vom 11. Sep­tem­ber 2001 strengs­tens unter­sagt.

Auch die ande­ren Gebo­te sind so scharf und tref­fend for­mu­liert. Man soll­te sie eigent­lich vor jeder Rezi­ta­ti­on als Pflicht­teil eben­falls vor­tra­gen …

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