Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: avantgarde

Trommeln, Glocken und anderes Geklöppel

Grandios: Die Eröff­nung des diejähri­gen Mainz­Musik-Fes­ti­vals der Mainz­er Musikhochschule. Ein Fest für ent­deck­ende Ohren, für offene Köpfe und Sinne.

Banner am Gebäuder der Musikhochschule

Aus der angekündigten Eröff­nung mit dem Pauken­schlag wurde dann doch nichts. Das Radyan-Ensem­ble hat­te für das Eröff­nungskonz­ert der diesjähri­gen Aus­gabe von Mainz­Musik näm­lich über­haupt keine Pauke mit­ge­bracht. Dafür waren auf der Bühne im Roten Saal der Musikhochschule aber jede Menge andere mehr oder wenige ungewöhn­liche Schla­gin­stru­mente. Und ja, ein paar Trom­meln waren auch dabei. Aber die spiel­ten gar keine so große Rolle.

Schon beim Auf­takt, einem Teil von Guo Wen­jings „Dra­ma“, kam das Per­cus­sion-Quar­tett ganz ohne Trom­mel aus: Nur mit drei Paaren des chi­ne­sis­chen Beck­ens, wie es eigentlich auss­chließlich in der Volk­sop­er Chi­nas ver­wen­det wird, arbeit­eten die Musik­er. Das reichte aber, um eine faszinierende Vielfalt des drama­tis­chen Aus­drucks, des genau struk­turi­erten Auf und Ab herzustellen. Das schep­perte dur­chaus mal kräftig, dröh­nte dumpf in den Ohren oder klir­rte flir­rend durch den Saal.

Ein vielver­sprechen­der Beginn. Und das Radyan-Ensem­ble löste das Ver­sprechen den Rest des Abend ein: Ein genau geplanter Ablauf, der nichts dem Zufall über­lässt, und naht­lose Übergänge machen aus der Rei­hung ver­schieden­ster Kom­po­si­tio­nen machen ihren Auftritt zu einem Ereig­nis, ein­er wun­der­baren Ent­deck­ungsreise in die Welt der kom­plex­en Rhyth­men.

Sich­er tauchen da auch Skuril­itäten auf: Ob Vito Zura­js „Top Spin“, das hier uraufge­führt wurde, wirk­lich dadurch gewin­nt, dass die drei Spiel­er am run­den Tisch mit den aus­gelegten Instru­menten immer mal wieder ihre Plätze wech­seln und die Stimme des anderen fort­set­zen? Beim ersten Hören zumin­d­est nicht. Es scheint, so der Klangein­druck, jeden­falls eine irrsin­nig kom­plizierte Par­ti­tur zu sein. Immer mal wieder schält sich aber aus dem ver­meintlichen Chaos so etwas wie Ord­nung her­aus – aber vielle­icht istauch das nur eine Täuschung, eine Illu­sion des Zuhör­ers.

Doch genau darum geht es hier ja: Neue Klänge ent­deck­en, neue Kom­bi­na­tio­nen erspüren, die Offen­heit des Hörens zu erfahren. Das kön­nen etwa die Uchi­wa Taikos sein, chi­ne­sis­che Trom­meln ohne Zarge, die fast nur aus dem Schlagfell beste­hen. Jar­rod Cagwin, der auch selb­st mit­spielt, hat für diese Instru­ment mit „Mut­tekopf“ eine Art Naturschilderung geschrieben – zumin­d­est hat er sich bei der Kom­posi­ton von der Berg­welt um den Mut­tekopf inspiri­eren lassen. Mit min­i­malen Ton­höhen­ver­schiebun­gen, erzeugt durch wan­dernde Schlag­punk­te auf den fächer­ar­ti­gen Trom­meln, und mit über­lagern­den Rhyth­men erzeugt er faszinierende Muster, aus denen man dann wirk­lich den Wasser­fall, den hin­ab­stürzen­den Stein oder den schnellen Abstieg ins Tal her­auzuhören meint.

Und solche Fasz­i­na­tio­nen gibt es immer wieder eine Menge an diesem Abend – etwa Sal­va­tore Scia­r­ri­nos kleines Glock­en­stück „Appen­dice alla per­fezione“ oder das große „Psap­pha“ von Ian­nis Xenakis. Genau solche Ent­deck­un­gen sind ja das Ziel von Mainz­Musik – und deshalb war das Radyan-Ensem­ble ein wun­der­bar­er Griff für das Eröff­nungskonz­ert.

(geschrieben für die Mainz­er Rhein-Zeitung.)

Tristano No. 6665

“Mul­ti­pler Roman in Einze­laus­gaben” ist der offzielle Unter­ti­tel dieses Büch­leins von Nan­ni Balestri­ni. Meines hat die Nr. 6665 (knapp daneben …) und ist ein­er von 109027350432000 Tristano No. 6665Roma­nen. Nun hat Balestri­ni natür­lich nicht eine solch irrsin­nige Zahl an Büch­ern geschrieben: Der Witz am “Tris­tano” ist, dass per Zufall­sal­go­rith­mus (im Com­put­er) die 20 Abschnitte für jedes der 10 Kapi­tel neu ange­ord­net weden. 1966, als Balestri­ni die Idee dazu hat­te, war das druck­tech­nisch noch nicht wirk­lich umzuset­zen — dank Dig­i­tal­druck ist das heute auch für Suhrkamp kein Prob­lem mehr. Die Entste­hung der Textblöcke ist dabei übri­gens auch schon ein Ergeb­nis kom­bi­na­torisch­er Prozesse: Balestri­ni hat aus ver­schiede­nen Quellen Sätze ent­nom­men, sie ihrer inneren Satzze­ichen beraubt und mehr oder min­der zufäl­lig gerei­ht. So viel also ganz kurz zu der Entste­hung des Romans.

Das ist — aus­nahm­sweise — nicht belan­g­los, weil es sich natür­lich mas­siv im Text nieder­schlägt: Eine “nor­male” Geschichte, eine herkömm­liche Hand­lung, ein linerar­er Plot — das alles gibt es hier nicht. Wohl gibt es wiederkehrende Motive — die aber in sich und in ihrer Verknüp­fung sehr unklar bleiben. Denn alle (!) Eigen­na­men wer­den durch ein uni­verselles “C” erset­zt. Trotz­dem lassen sich eine männliche und eine weib­liche Fig­ur unter­schei­den, die miteinan­der in Beziehung treten und diese auch wieder ver­lassen (Tris­tan!). Viel ließe sich sicher­lich kon­stru­ieren. Aber das funk­tion­iert natür­lich nur bed­ingt: Zum einen ist ja jedes Buch anders, hat eine eigene “Geschichte” durch die zufäl­lige Rei­hen­folge (wie hoch wäre eigentlch die Wahrschein­lichkeit, dass da zwei Mal das gle­ich Ergeb­nis her­auskommt?), zum anderen ist der Spaß an diesem Exper­i­ment eher, zu schauen, was mit Wörtern, Sätzen, Abschnit­ten passiert — wie sich manch­mal “Sinn” ergibt, wie er sozusagen aus Verse­hen “passiert”, wie die Sig­nifikan­ten sich — im Lese­prozess des wahrnehmenden Sub­jek­ts — eben doch wieder zu einem/mehreren Sig­nifikat­en gezwun­gen sehen, wie Leser und Text danach streben, sinnhaltig zu sein. Das allerd­ings ist zwar zunächst faszinierend zu beobacht­en, wird aber auch ermü­dend. Dabei umfasst der Tris­tano ger­ade mal 120 Seit­en. Doch das reicht mehr als genü­gend aus, das Prinzip und seine Fol­gen zu ver­ste­hen, begreifen und erfahren. Und auch zu erlei­den. Denn so span­nend das nar­ra­tol­o­gisch, semi­ol­o­gisch — kurz: intellek­tuell — ist bzw. erscheint, so trock­en kann die Lek­türe wer­den: Man hängt oft sehr in der Luft, sucht beim Lesen nach sinnhalti­gen Fun­da­menten oder Hor­i­zon­ten — das ist schon inter­es­sant, das an sich selb­st zu beobacht­en. Da aber der Text/die Texte durch die Mon­tage der Sätze aus fremder Urhe­ber­schaft und unbekan­nten Kon­tex­ten (manch­mal kann man etwas erah­nen, z.B. die wieder­holten Frag­ment zu Text und Erzählthe­o­rie1) auch sprach­lich nur sehr bed­ingt faszinieren (zumin­d­est in der deutschen Über­set­zung von Peter O. Chot­je­witz) ist das let­ztlich ein eingeschränk­tes Vergnü­gen: “Als ich diese Texte las fand ich sie nicht nur bedeu­tungs­los son­dern auch ohne irgen­dein Ele­ment das sich auf das vorgegebene The­ma bezieht. Ich bin so unglück­lich daß ich am lieb­sten ster­ben möchte.”

Dafür wird man neben den 120 Seit­en “Roman” (die den für Suhrkamp aus­ge­sprochen hohen Preis von 15 Euro haben) auch noch reich­lich mit Para­tex­ten ver­sorgt: Eine Vorbe­merkung des Ver­lags, eine Notiz des Autors eine Vor­wort von Umber­to Eco (zum Ver­fahren der Kom­bi­na­torik in der Geschichte der Wis­senschaften und Kün­ste, weniger zum “Tris­tano” selb­st), einem nachgestell­ten ana­lytis­chen Vor­wort zur franzö­sis­chen Aus­gabe 1972 von Jacque­line Rist und schließlich noch eine lit­er­aturgeschichtliche Einord­nung des “Tris­tano” in die exper­i­mentelle (Prosa-)Literatur des 20. Jahrhun­derts und das Lebenswerk Balestri­nis durch Peter O. Chot­je­witz — fast mehr Para- als ‑Text also …

Nan­ni Balestri­ni: Tris­tano No. 6665 von 109027350432000 Roma­nen. Ein mul­ti­pler Roman in Einze­laus­gaben. Frank­furt am Main: Suhrkamp 2009. 120+XXXII Seit­en. ISBN 978–3‑518–12579‑3.

 

Show 1 foot­note

  1. “Es wird drin­gend emp­fohlen das Buch bis zum Ende zu lesen. Je weit­er man kommt desto pack­ender wird es.”, heißt es z.B. ein­mal. Oder: “Es ist nicht nur ver­boten den nor­malen Gebrauch­swert der Sätze und ihre Eig­nung zur Kom­mu­nika­tion zu hin­ter­fra­gen sie erfahren zur gle­ichen Zeit auch eine zen­tripetale und zen­trifu­gale Beschle­u­ni­gung.”

györgy kurtágs chorwerke

Das hört sich gewaltig an: Die kom­plet­ten Chor­w­erke von Györ­gy Kurtág hat das SWR Vokalensem­ble Stuttgart unter der Leitung von Mar­cus Creed aufgenom­men. Aber es ist kaum mehr als halbe CD dafür nötig. Denn es sind „nur“ drei Zyklen, die Kurtág fast alle schon Anfang der Achtziger kom­ponierte. Gewaltig ist diese CD aber den­noch – in mehrfach­er Hin­sicht. Denn Kurtágs Chor­w­erke sind fast nie zu hören: Im Konz­ert trauen sich nur wenige Ensem­bles das zu und Auf­nah­men gab es bish­er über­haupt nicht. Und außer­dem ist diese Musik, das lässt sich nicht anders sagen, unbe­d­ingt übe­wälti­gend.
Kurtág, seit jeher bekan­nt für seine hochverdichteten Minia­turen, betreibt mit der Chor­musik eine Forschung im Inneren der Töne. Mit herkömm­lichen Vorstel­lun­gen von Chork­lang hat das wenig zu tun – wie Hans-Peter Jahn im Book­let schreibt, sind diese Zyklen „vokale Kam­mer­musiken, Instru­men­tal­musik für Sänger“. Und ihre Geheimnisse wahren diese Ver­to­nun­gen lange. Dabei verza­ubern sie schon beim ersten Anhören, lassen aber in ihrer extremen Vielschichtigkeit, ihrer extremen Zusam­men­bal­lung und Konzen­tra­tion doch bei jedem wieder­holten Hören immer neue Ent­deck­un­gen und Erken­nt­nisse zu. Das SWR Vokalensem­ble singt das trotz der immensen Anforderun­gen mit höch­ster Präz­sion: sowohl vokaltech­nisch als auch emo­tion­al lässt diese CD keinen Wun­sch unbe­friedigt. Die unheim­liche Ruhe der aufge­fächerten Klänge und genau­so der sel­tene Über­schwung der deshalb nur um so heftigeren drama­tis­chen Aus­brüche – vor allem in den „Liedern der Schw­er­mut und Trauer“ op. 18, mit sorgfältiger, zurück­hal­tender Unter­stützung der Instru­men­tal­is­ten des Ensem­ble Mod­ern – ist hier ein­fach unge­heuer bewe­gende Musik, die direkt unter die Haut geht.

Györ­gy Kurtág: Com­plete Choral Works (Omma­gio a Lui­gi Nono, Eight Cho­rus­es to Poems by Dezsö Tan­dori, Songs of Despair and Sor­row). SWR Vokalensem­ble Stuttgart, Ensem­ble Mod­ern, Leitung: Mar­cus Creed. Hänssler Clas­sic 93.174.

erschienen in der zeitschrift des deutschen chorver­ban­des, der „neuen chorzeit”, aus­gabe juli/august 2007.

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