Es klingt viel zynischer, als es gemeint: Aber (inzwischen) habe ich mehr Angst vor den politischen und gesellschaftlichen Diskussionen (und natürlich den entsprechenden Gesetzesänderungen) nach Gewalttaten als vor der Gewalt selbst.
Sozusagen aus psychosozialer Hygiene verordne ich mir inzwischen regelmäßig beim Bekanntwerden von gewalttätigen Ereignissen eine gewisse Medienabstinenz. Sobald klar und absehbar ist, dass es mich nicht unmittelbar betrifft — weil ich zum Beispiel nicht in München bin und auch niemand, der mir nahe steht, gerade dort weilt — meide ich den Blick auf Twitter, Reddit, die Nachrichtenseiten etc. Denn dort wird es gefühlt immer schlimmer und ritualisierter. Noch während sich ein Ereignis entfaltet, noch während Menschen sterben und die meisten ganz und gar keine genauen Informationen haben (und ja auch nicht unmittelbar und sofort benötigen), tauchen die Leute auf, die es schon immer gewusst haben. Und dann auch die Leute, die schon immer wussten, dass jetzt die Leute, dies es schon immer gewusst haben, auftauchen. Und so weiter — das spiralisiert sich ganz schnell und ganz unangenehm.
Und natürlich gibt es immer wieder die gleichen Reflexe: Noch mehr Polizei, noch mehr Überwachung, noch mehr Geheimdienst, jetzt neu: noch mehr bewaffnete Streitkräfte im Inneren (also zwangsläufig, denn dafür sind sie ja da: Noch mehr Tote.). Und die Metadiskussion läuft auch gleich noch mit, ohne wahrnehmbare Zeitverzögerung. Das ganze wirkt auch mich inzwischen regelrecht surreal, weil es von den tatsächlichen Ereignissen (und vor allem: dem Wissen darüber, das in großen Teilen der Diskussion zwangsläufig ein Nichtwissen ist) so abgekoppelt und beinahe unberührt erscheint. Da helfen dann auch die ritualisierten Mitleidsbekundungen nicht mehr. Die werden ja auch immer monumentaler — jetzt leuchtet der Eiffelturm in den Farben der deutschen Flagge (nachdem Hollande sich am Wochenende ja mit seinen abseitigen Spekulationen nicht gerade mit Ruhm bekleckerte …). Aber ist das, was in München passierte, wirklich unbedingt eine nationale Tragödie? Wie viele Menschen müssen gewaltsam sterben, damit die Beleuchtung eingeschaltet wird? Und wo müssen sie sterben? Natürlich ist es traurig und aus der Ferne kaum fassbar, wie viel Leid ein Mensch so schnell anrichten kann. Aber stimmen unsere Mitleidsmaßstäbe? Sind die acht bis zehn Menschen, die Tag für Tag durch den motorisierten Verkehr in Deutschland umgebracht werden, weniger Mitleid wert? Von den Toten in anderen Ländern, anderen Kriegen, anderen Kontinenten gar nicht zu reden (natürlich spielt Nähe immer eine Rolle). Mir geht es nicht darum, die Toten gegeneinander aufzurechnen. Mir geht es darum, Vernunft zu walten lassen — Vernunft und rationale Abwägung bei den Gefahren, denen wir ausgesetzt sind. Und natürlich auch bei den Maßnahmen, die zur Gefahrenabwehr (wie es so schön technokratisch heißt) notwendig oder möglicherweise zu ergreifen sind.
Irgendwie gehen Erregungs- Mitleids- und Vernunftmaßstäbe Stück für Stück, Schritt für Schritt, Interview für Interview immer mehr verloren (und das ist beileibe nicht nur ein Problem der AfD oder anderer rechts(radikaler) Parteien, sondern nahezu des gesamten politischen Systems) und verändern so unsere Gesellschaft mehr und nachhaltiger, als Gewalt und Gewalttäter — seien sie extremistische Terroristen oder psychisch Kranke — es bisher vermögen.
Und es bleibt die Angst, dass diese Gesellschaft vor lauter Hysterie und Sicherheitswahn bald nicht mehr meine ist. Und die Ratlosigkeit, was dagegen zu tun wäre …
Nachtrag: Der kluge Georg Seeßlen hat bei der “Zeit” einige interessante Überlegungen zu Gewalt, Medien und Gesellschaft aufgeschrieben. Er schließt mit dem aufklärerischen Appell:
Es ist nötig, was an aufklärerischer Energie noch vorhanden ist, zu bündeln, um eine offene, an keine Verdrängungsgebote oder soziale Taktiken gebundene Theorie der Subjekte des Terrors zu entwickeln, die nicht anders kann, als auch eine Theorie der Gesellschaft und ihrer Erosion und eine Theorie der Medien und ihrer Entfesselung zu enthalten. Niemand kann eine Katastrophe verhindern, denn es gibt kein System, das immun gegen Angriffe und immun gegen innere Widersprüche sei. Eines der großen Versprechen der Demokratie allerdings war es, dass es nicht nur ein anpassungsfähiges, sondern auch ein lernendes System sei, eines, das immer mehr Bewusstsein von sich und der Welt hat, kurzum, dass es zugleich Garant von Freiheiten und Instrument der Aufklärung sei.
Zum Projekt der Aufklärung zurück zu finden ist eine schwere Aufgabe, umso mehr, als auch sie sich in einer paradoxen Falle befindet: Jeder Terroranschlag und jeder Amoklauf ist auch ein Anschlag auf die Möglichkeit von Aufklärung. Jeder Terroranschlag und jeder Amoklauf ist auch eine Forderung, Aufklärung zu verwirklichen. Insofern wären wir schon einen Schritt weiter, wenn wir nicht länger so gebannt der Dramaturgie von Hysterisierung und Vergessen folgten.
Wir können nicht verhindern, dass soziale, politische und menschliche Katastrophen geschehen. Aber wir können verhindern, dass sie zum unaufgeklärten, unverstandenen, medialisierten, ideologisch manipulierten, politisch und ökonomisch missbrauchten Normalfall werden.
Und auch Mario Sixtus weist auf einen interessanten Punkt hin, der eventuell einen Ausweg aus dem immergleichen Reflex böte:
Wenn man Taten wie die in München verhindern will, muss man den mühsamen Perspektivwechsel nach innen vornehmen, in die eigene Gesellschaft hineinblicken, auf die eigenen Leute, auf die eigenen Werte.
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