»Nächstens mehr.«

Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Gleichgewicht

Die Natur erhältt alles in einem schwer­ben­den Gle­ichgewicht. Der Geist wird nicht müde, ihm nachzusin­nen.

Wil­helm Lehmann, Bukolis­ches Tage­buch (2. Feb­ru­ar 1931)

Herbst

Die Blät­ter fall­en, fall­en wie von weit,
als welk­ten in den Him­meln ferne Gärten;
sie fall­en mit verneinen­der Gebärde.

Und in den Nächt­en fällt die schwere Erde
aus allen Ster­nen in die Ein­samkeit.

Wir alle fall­en. Diese Hand da fällt.
Und sie dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Ein­er, welch­er dieses Fall­en
unendlichen san­ft in seinen Hän­den hält.

Rain­er Maria Rilke, Herb­st (Das BUch der Bilder)

Gedichte

Bei Gedicht­en hil­ft zwei Mal lesen immer. Das kann nie falsch sein. Denn meis­tens ist schon nach dem zweit­en Mal klar, ob das Ding vor uns über­haupt ein Gedicht ist oder nicht. Wenn näm­li­uch nach dem zweit­en Mal klar ist, was da ste­ht, und eben­so duelitch, dass da nichts weit­er ist, als was man ver­standen hat, dann ist es kein Gedicht. Weil ein Gedicht eben nicht das ist, was man gemein­hin meint, wenn man sagt: Ich habe ver­standen.

Urs Engel­er, Mein Lieber Lühr (in: MÜtze #33, 1671)
zeitungen gebündelt

Zeitgemäße Zeitung?

Die “Süd­deutsche Zeitung” geht mit der Zeit und hat ihre Dig­i­ta­laus­gabe mod­ernisiert, sagt sie. Und zugle­ich das Redaktionssystem/CMS gewech­selt. Dabei ist aber wohl einiges schiefge­laufen. Zumin­d­est aus mein­er Sicht ist die neue Gestal­tung aus­ge­sprochen man­gel­haft (bei eini­gen guten Ansätzen). Ich lese die SZ täglich im Abon­nement auf dem Tablet und habe mal aufgeschrieben, was mir direkt ins Auge gefall­en ist.

Ein neues Lay­out und neues Redak­tion­ssys­tem (also andere Soft­ware), aber für einen Typographen oder Schrift­set­zer (oder über­haupt jeman­den, der nur ein biss­chen Ahnung von Textsatz und ‑gestal­tung hat), reichte es offen­bar nicht mehr.

Schon beim ersten Lesen auf dem Tablet gle­ich aufge­fall­en sind mir (und da bin ich noch nicht mal auf Fehler­suche gegan­gen):

  • Es gibt keine Sil­ben­tren­nung, dafür aber katas­trophale Löch­er im Flat­ter­satz der nicht sehr bre­it­en Textspal­ten. Dabei gibt es doch inzwis­chen sehr gute automa­tis­che Sil­ben­tren­nun­gen, die ohne manuelle Ein­griffe (nahezu) fehler­frei arbeit­en.
  • Dafür wer­den Zahlen wie 150.000 jet­zt gnaden­los getren­nt, weil die Tausender­stelle hier wohl ein gewöhn­lich­es Leerze­ichen ist. Das ist ein erbärm­lich­er Anfänger­fehler, der das Lesen sehr erschw­ert.
  • Es gibt keine richti­gen Anführungsze­ichen (die im Deutschen nor­maler­weise zu Anfang unten, zu Ende oben ste­hen und nicht das Zoll-Zeichen benutzen), wed­er in Über­schriften noch im Text. Das ist ein­fach sehr unschön.
  • Ein ver­wandtes Prob­lem: Auch der ver­wen­dete Apos­troph ist sehr block­ig.
  • Es gibt keinen Gedanken­strich (Hal­bgeviert­strich), son­dern nur Binde-/Tren­nungsstriche — zumin­d­est wird der Hal­bgeviert­strich nicht genutzt, wed­er bei der Tren­nung der Orts­marke vom Text noch bei den typ­is­chen Fällen im Satz.
  • Die kur­sive Schrift wirkt im Text zugle­ich ange­fet­tet.
  • Meines Eracht­ens ist die aus­gewählte Schrif­tart für die Ressortüber­schriften für diesen Zweck ungeeignet und wirkt selt­sam (ger­ade in Verbindung mit den anderen ver­wen­de­ten Schriften), aber das ist auch eine Geschmacks­frage.

Immer­hin sind die Buch-Über­sicht­en (die Ressort­seit­en) nun deut­lich bess­er struk­turi­ert. Vor allem zeigen sie endlich die Autor*innen nicht nur bei weni­gen, son­dern allen Artikeln (außer bei reinen Mel­dun­gen, das ist ja sin­nvoll) und sind durch die Striche bess­er in sinnhafte Abschnitte gegliedert. Auch die Rei­hen­folge der Artikel ist jet­zt kon­sis­ten­ter zwis­chen Ressortüber­sicht und Artike­lan­sicht (das war vorher nicht immer so, son­dern schien manch­mal Glückssache).

Aber als Ganzes ist das ziem­lich unwürdig für ein Unternehmen dieser Größe. Es scheint fast so, als hätte das nie­mand mal vorher getestet ;-) Man kön­nte also sagen, die “Süd­deutsche Zeitung” ist mit dieser Mis­sach­tung gestal­ter­isch­er Grun­dregeln mit der Zeit gegan­gen …

Waldwege

Borsten und räu­berisch sind meine spezialen
Ver­stärk­er auf Waldp­faden, Käfer spiegelns
Hase-Fuchs-Reh, selb­strufend Herr und Frau
Kuck­uck. Der Men­sch, ide­alisch, sei immer
dem Walde zu, sin­gend. Beeren‑, Pilzkörbe
neben sich an dem gluck­senden Bache sitzen
gle­ich­sam zaubrisch. Nicht achte Zwer­gen-
werk niedrig und ‑horte in Ger­maniens Adern.
Neb­st Dis­po, Glatzen, Spuk, mag sein, auch
ächt­es Gold … Denn wer hat nachge­forscht.

Wald­wege

Stef­fen Popp, 118, 65

Gebirge

              There are the Alps,
fools! Sit down and wait for them to crum­ble!

Basil Bunting, On the Fly­leaf of Pound’s Can­tos

Erzählt-Werden

Kann es sein, daß das Leben keinen anderen Sinn hat, als erzählt zu wer­den und im Erzählt-Wer­den immer wieder neu zu entste­hen? Daß also das Erzählt-Wer­den ein­er der vie­len Wege der Fortpflanzung ist, die das Leben ken­nt?

Anne Weber, Luft und Liebe, 184

Er ist’s.

Früh­ling läßt sein blaues Band
Wieder flat­tern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekan­nte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träu­men schon,
Wollen balde kom­men.
– Horch, von fern ein leis­er Har­fen­ton!
  Früh­ling, ja du bist’s!
Dich hab’ ich ver­nom­men!

Eduard Mörike

Wochenblog 11/2023

Stür­mis­che Woche. Ganz wörtlich — am Mon­tag und Dien­stag war es zeitweise so windig (vor allem auf dem Heimweg), dass ich momen­tan sog­ar zwei Gänge run­ter­schal­ten musste: Ich kam ein­fach nicht mehr gegen den Sturm an.

Stür­misch auch, weil viel Pla­nung zu organ­isieren war, damit ich mich in den näch­sten Wochen auf mein neues Pro­jekt konzen­tri­eren kann und nicht von dem ganzen alltäglichen Aller­lei immer wieder abge­lenkt werde. Aber irgend jemand muss das ja trotz­dem machen … Ich bin ges­pan­nt, wie sich das in den näch­sten Wochen entwick­eln wird — ich kann es mir noch nicht so ganz vorstellen.

Text: “Kriegslyrik” von Her­mann Plagge. Ein (nicht nur mir) abso­lut unbekan­nter Dichter aus der Zeit des Ersten Weltkrieges, for­mal und sprach­lich jet­zt nicht unbe­d­ingt die besten Gedichte aus dieser Zeit, aber doch immer wieder sehr ein­drück­lich und lebendig in den Schilderun­gen und Stim­mungen. Die Lek­türe habe ich der wun­der­baren Edi­tion Versen­sporn von “Poe­sie schmeckt gut” zu ver­danken — das ist ein sehr zu rüh­mendes Unternehmen, das mehrmals im Jahr kleine Hefte mit Lyrik von meist vergesse­nen, unbekan­nten Dichter*innen, meist aus dem weit­en Feld des Expres­sion­is­mus (wie Plagge) oder ver­wandten Strö­mung, zum kleinen Preis versendet und meinen lit­er­arischen Hor­i­zont immer wieder angenehm erweit­ert.

Ton: Ein­stürzende Neubaut­en. Und die Münch­en­er Auf­nah­men von “Fol­low me” und “Where are you” von Ondřej Adámek.

Bild: You Peo­ple von und mit Jon­ah Hill. Ziem­lich cool, ziem­lich gelun­gen, witzig und tre­f­fend die Prob­leme der (amerikanis­chen) Gesellschaft bzw. ihrer Teile im Umgang miteinan­der darstel­lend.

Draußen: Der Streak hält, ich ver­suche es sog­ar mal wieder mit struk­turi­ertem Train­ing. Und dabei habe ich mir gle­ich am Mon­tag ein ordentlich­es Prob­lem einge­han­delt: Für den Tem­potest­lauf fand ich es sin­nvoll, die passenden Schuhe anzuziehen. Nur hat­te ich die seit min­destens 15 Monat­en nicht mehr an den Füßen. Das endete, ich hätte es mir denken kön­nen, im Blut­bad: Zwei große, fette Blasen an den Fersen. Vor allem die rechte Ferse war mit ein­er flächi­gen, bluti­gen Blase verse­hen. Mit Blasenpflaster und Com­peed ging es dann aber immer­hin auch am Dien­stag weit­er. Doch für den Rest der Woche blieb das Andenken noch, wenn auch allmäh­lich verblassend/verheilend. Dafür kon­nte ich diese Woche sowohl beim schö­nen Son­nenun­ter­gang als auch im spek­takuläre bun­ten Son­nenauf­gang laufen — der Früh­ling macht’s möglich.

Krieg

Krieg

Alle Straßen sind mit Blut beglitzt.
Gierig leck­en viel­er Hunde Mün­der.
Bajonette lüstern hochge­spitzt.
Wit­ternd reck­en sich die Zwanzigpfün­der.

In den Nächt­en dro­hte der Komet.
Über Städten platzen die Granat­en.
Trom­meln, Trom­meln wird weit­ergewe­ht.
Braunge­plät­tet liegen alle Saat­en.

Her­mann Plagge (1914)

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