Es ist nicht mehr als ein klein­er Auss­chnitt der fort­dauern­den Erkun­dung des kom­plex­en und schö­nen Net­zes von Bedeu­tun­gen – musikalis­che und lit­er­arische, textuelle und meta­textuelle –, inner­halb dessen die Win­ter­reise ihren Zauber her­vor­bringt.S. 396

bostridge, schuberts winterreise (cover)– Mit diesem Schluss endet der britis­che Tenor Ian Bostridge (übri­gens ein aus­ge­bilde­ter His­torik­er) sein großes, faszinieren­des und in sein­er bere­ich­ern­den Klugheit aus­ge­sprochen lesenswertes Buch über Schu­berts Win­ter­reise. Aber es ist ein Satz, der das, was auf den knapp vier­hun­dert Seit­en zuvor passiert ist, sehr gut auf den Punkt bringt. Lieder von Liebe und Schmerz hat der deutsche Ver­lag Bostridges Buch im Unter­ti­tel benan­nt. Das englis­che Orig­i­nal finde ich passender: Anato­my of an Obses­sion. Denn bei­des, das sezierende Unter­suchen als auch die obses­sive Beschäf­ti­gung mit dem Kunst­werk, bringt das Ver­hält­nis von Bostridge zur Win­ter­reise sehr gut auf den Punkt. Und bei­des, die Analyse und die emo­tionale Bindung, merkt man dem Text eigentlich auf jed­er Seite an: Jede Seite dieses großar­ti­gen Buch­es, das Lied für Lied die Win­ter­reise unter die Lupe nimmt, lässt die obses­sive Liebe und die jahrzehn­te­lange Beschäf­ti­gung mit Musik und Text, mit Dichter und Kom­pon­ist, mit Hin­ter­grün­den und Bedeu­tun­gen spüren.

Lied für Lied – diese Gliederung greift das gut gemachte (ich habe – abge­se­hen von der prinzip­iell etwas unsin­ni­gen Über­set­zung englis­ch­er Über­set­zun­gen deutsch­er Texte – nur einen Über­set­zungs­fehler bemerkt – der ist allerd­ings etwas pein­lich, weil er das englis­che b‑minor mit b‑moll statt h‑moll über­set­zt und auf der sel­ben Seite auch noch richtig vorkommt …) und schön aus­ges­tat­tete Buch auch äußer­lich auf. Bostridge fol­gt damit zwar der Dra­maturgie Schu­berts (die ja, wie er mehrfach dar­legt, von der Rei­hen­folge Müllers abwe­icht), ges­tat­tet sich aber auch Frei­heit­en: Manche Kapi­tel sind auf­fal­l­end kurz, andere etwas auss­chweifend. Manche bieten eine sehr konzen­tri­erte Analyse von Text und Musik, andere liefern vor allem geschichtliche, poli­tis­che, wirtschaftliche, sozi­ol­o­gis­che Hin­ter­gründe. Wie er prinzip­ielle Beobach­tun­gen und Anmerkun­gen über die einzel­nen Lied­kapi­tel verteilt, das ist sehr geschickt. Die sind dadurch näm­lich immer mehr als bloße Kom­mentare oder Erläuterun­gen, das Buch wird nicht zu ein­er seriell-schema­tis­chen Analyse, son­dern zu einem großen Ganzen: Alles in allem ist das eine großar­tige Samm­lung von Wis­sen aus allen Bere­ichen zu den 1820er Jahren. Da liegt aber auch schon eines der Prob­leme, die ich damit hat­te (neben der meist fehlen­den Ref­eren­zierung des ange­sam­melten Wis­sens): Bei Bostridge wer­den die 1820er in Tech­nik, Ökonomie, Gesellschaft und Poli­tik zu einem frühen Höhep­unkt der Mod­ernisierung. Ich bin mir nicht so recht sich­er, ob das stimmt (und ob es hil­fre­ich wäre). Für ein endgültiges Urteil fehlt mir da freilich etwas Wis­sen, mir scheinen diese Jahre aber doch mehr Durch­gang als Gipfel zu sein.

Ein ander­er Punkt, bei dem ich Bostridge immer wieder wider­sprechen möchte, ist die Ironie. Die find­et er in der Win­ter­reise näm­lich wesentlich häu­figer und stärk­er als ich das immer nachvol­lziehen kann. Ähn­lich geht es mir mit der poli­tis­chen Dimen­sion von Text und Musik. In bei­den Fällen möchte ich Bostridges Deu­tun­gen gar nicht von vorn­here­in ver­w­er­fen, sie scheinen mir in diesen Aspek­ten aber etwas über­spitzt. Deut­lich wird das etwa bei seinen Aus­führun­gen zum „Köh­ler“, der (bzw. dessen Hütte, er selb­st ja ger­ade nicht) in der Win­ter­reise genau ein­mal vorkommt: Das kann man als mögliche poli­tis­che Chiffre lesen, so zwin­gend, wie Bostridge das darstellt, ist diese Lesart aber meines Eracht­ens nicht. Über­haupt hat mich seine poli­tis­che Lesart viel­er Lieder (bzw. eigentlich nur ihrer Texte, in diesem Deu­tungszusam­men­hang spielt die Musik keine Rolle) nicht so sehr befriedigt, zumal sie ja doch erstaunlich indif­fer­ent bleibt. Ähn­lich ist es übri­gens um Schu­bert selb­st hier bestellt: Zum einen wird er als poli­tis­ch­er Kün­stler, der extrem unter den harten Bedin­gun­gen der vor­mär­zlichen Zen­sur litt, dargestellt. Zugle­ich ist er für Bostridge aber auch ein Kom­pon­ist, der ganz unbe­d­ingt ein Ide­al des reinen, tran­szen­den­ten Kün­stler­tums ver­fol­gt – zwei Lesarten, die hier fast naht­los ineinan­der überge­hen, die ich aber nicht so recht zusam­men bekomme.

Das alles macht aber wenig bis nicht. Denn Bostridge zu lesen, ja eigentlich: zu schmök­ern, ist auf jeden Fall ein großer Gewinn. Zumal das Buch auch, ich sagte es schon, ein­fach schön ist und auch mit Abbil­dun­gen nicht geizt. Schade fand ich allerd­ings, um das Lob gle­ich wieder ein biss­chen einzuschränken, dass Bostridge so wenig über die Musik und ihre Details spricht. Mein Ein­druck war da, dass dieses Ele­ment in der Fülle der Zugänge und Mate­ri­alien, die er zur Win­ter­reise zusam­menge­tra­gen hat, etwas unterge­ht. Von einem Sänger hätte ich mir ger­ade auf diesem Gebi­et mehr musikol­o­gis­che Analyse und Beschrei­bung gewün­scht. Aber das wäre dann vielle­icht ein anderes Buch gewor­den.

Es ist näm­lich wirk­lich selt­sam mit diesem Buch: Als Ganzes finde ich es immer noch ziem­lich großar­tig, es ist ein (über)reiches Buch, das dem Ver­ständ­nis der Win­ter­reise auf jeden Fall in großem Maße dient und das Hören (oder Musizieren) unge­mein bere­ich­ern kann. Im Detail finde ich aber vieles frag­würdig und würde oft wider­sprechen. Ein paar kleine, fast willkür­liche Beispiele: Den Nation­al­sozial­is­mus und den Zweit­en Weltkrieg aus ein­er typ­isch deutschen „roman­tis­chen Todes­be­sessen­heit“ (118) zu erk­lären wollen – das ist ein­fach Quatsch. Oder wenn ein Fer­maten­ze­ichen zu einem „allesse­hen­den Auge“ (178) wird. Manch­mal ist es auch vor allem eine große Fleißleis­tung, wenn er etwa zum „Früh­lingstraum“ über mehrere Seit­en das Vorkom­men von Eis­blu­men in der Kun­st- und Lit­er­aturgeschichte referiert, was aber wed­er mit Müller noch mit Schu­bert in Verbindung ste­ht. Da erschließt sich mir dann nicht so ganz der Zweck, den das für eine Analyse oder Inter­pre­ta­tion dieses Kunst­werkes haben soll.

Aber: Die Welt von Schu­berts Win­ter­reise kann der über­aus gebildete Bostridge mit seinem gesam­meltem Wis­sen und seinen genauen, vielfälti­gen, emphatis­chen Beobach­tun­gen eben doch ganz toll ent­fal­ten und wun­der­bar ver­mit­teln. Es ist übri­gens kein Verse­hen, wenn ich von Schu­berts Win­ter­reise sprach: Der Schw­er­punkt sein­er Betra­ch­tun­gen liegt auf Schu­bert und sein­er Musik, auch wenn der Text und sein Autor, Wil­helm Müller, nicht ganz außen vor bleiben. Auch die Rezep­tion der Win­ter­reise wird nicht vergessen. Und seine intime Ver­trautheit en detail & en gros mit dem Werk sowie seine dop­pelte Autorität als ausüben­der Sänger und forschen­der His­torik­er tun dem Buch sehr gut: Er weiß, wovon er redet. Und nach der Lek­türe seine Buch­es weiß man auch, was man da eigentlich hört (oder: hören kann!), wenn man der Win­ter­reise lauscht.

Ian Bostridge: Schu­berts Win­ter­reise. Lieder von Liebe und Schmerz. 2. Auflage. München: Beck 2015. 405 Seit­en. ISBN 978–3‑406–68248‑3.