So viel gle­ich: Ein gutes Büch­lein ist dem Schu­bert-Forsch­er Hin­rich­sen gelun­gen. Natür­lich ist das auf 126 Seit­en alles nur sehr knapp möglich. Aber man merkt dem Text an, dass er aus ein­er Posi­tion des Wis­sens und der andauern­den Reflex­ion nicht nur Schu­berts und sein­er Kom­po­si­tio­nen, son­dern auch und beson­ders deren Erforschung geschrieben wurde. Hin­rich­sen ist näm­lich immer bemüht, allzu ein­fache Erk­lärungsmuster kri­tisch zu hin­ter­fra­gen — plat­te biographis­che “Erk­lärun­gen” des Werkes find­et man hier nicht. Aber auch anderes wird rel­a­tiviert, z.B. die “Schaf­fen­skrise” Schu­bert, die keine ist — die Zeit um 182x, in der — so die gängige Lehrmei­n­ung — Schu­berts Kom­po­si­tio­nen in Frag­menten steck­en bleiben. Hin­rich­sen weist nun aber darauf hin, dass die Idee ein­er “Krise” hier ein­er­seits viel zu monokausal (und zu “roman­tisch”) gedacht ist, ander­er­seits sich aber auch an den (über­liefer­ten) Quellen gar nicht bele­gen lässt, weil für die frag­men­tarisch über­liefer­ten Werke etwa ganz ver­schiedene Erk­lärun­gen zur Unvoll­ständigkeit herange­zo­gen wer­den müssen — zum Beispiel die Idee des Labors, aber auch der Umstand, dass Auf­führungsmöglichkeit­en weg­fie­len oder dass die Frag­mente kom­po­si­tion­stech­nisch eigentlich (fast) vol­len­det sind und nur noch der Abschrift har­rten. Das alles ist meines Eracht­ens, der ich nun kein Schu­bert­spezial­ist bin, dur­chaus ein­leuch­t­end argu­men­tiert.

Genau­so ein­leuch­t­end wie die gesamte Darstel­lung Schu­berts und seines Kom­pon­is­ten­leben. Wie gesagt, das ist weniger eine Biogra­phie als eine Werkgeschichte. Und die zeigt Schu­bert, da legt Hin­rich­sen wieder­holt Wert darauf, vor allem als Uni­ver­salkom­pon­ist, als Uni­ver­sal­ist und als ein­er der ersten freis­chaf­fend­en Kom­pon­is­ten, wie er zurück­hal­tend for­muliert. Hin­rich­sen weist aber auch ver­schiedentlich darauf hin, dass Schu­bert mit dem Kom­ponieren schon früh und immer wieder erhe­bliche Ein­nah­men erzie­len kon­nte — nur eben auf sehr unregelmäßiger und unzu­ver­läs­siger Basis, da es ihm nicht gelang, eine Stel­lung zu erhal­ten (was er aber offen­bar auch nicht mit vollem Eifer anstrebte …). Uni­ver­salkom­pon­ist also: Ein Kün­stler, der gezielt alle Gat­tun­gen und For­men bear­beit­et, vom Lied und den eher unter­hal­tenden Tänzen etc. für Klavier(e) über Kam­mer­musik und Sym­phonien und Kirchen­musik bis zum Musik­the­ater:

Von Anfang an also zielt der junge Kom­pon­ist auf ein Pro­fil, das man seinem reifen OEu­vre denn auch bedenken­los zuerken­nen mag: Schu­bert war ein­er der großen Uni­ver­sal­is­ten der Musikgeschichte, in deren Lebenswerk prak­tis­che alle Gat­tun­gen zahlre­ich und mit bedeu­ten­den Werken vertreten sind. (29)

Dabei sind für Hin­rich­sens Darstel­lun­gen Entwick­lun­gen und Kon­texte beson­ders bedeut­sam: Zunächst ein­mal die Sit­u­a­tion in Wien zu Beginn des 19. Jahrhun­derts, ins­beson­dere natür­lich die kul­turellen Gegeben­heit­en. Dann das Fre­un­des-Net­zw­erk Schu­berts, das ein­er­seits “inner­lich” über ästhetisch/philosophische Ein­flüsse wirkt, ander­er­seits eben auch “äußer­lich” über Kon­tak­te, Auf­führun­gen etc. Dann — natür­lich — die Beziehung zu Beethoven als Fixstern instru­men­tal­en bzw. sym­phonis­chen Kom­ponierens. Denn Hin­rich­sten betont den Instru­mentalkom­pon­is­ten Schu­bert sehr: als Sin­foniker und Kam­mer­musik­er, auch erfol­gre­ich­er Kirchen­musik­er. Beethoven als Kom­pon­ist, an dem sich Schu­bert “abar­beit­et”, erfährt dann allerd­ings eine gewisse Rel­a­tivierung — zum Beispiel durch die Situ­ierung des berühmten Schu­bert-Zitates, das es gle­ich wesentlich weniger verzweifelt klin­gen lässt. Und die Beto­nung der Beobach­tung, dass Schu­bert nicht eigentlich Sym­phonien “nach” Beethoven kom­poniert, son­dern einen Weg “neben” dem großen Meis­ter entwick­elt — vor­sichtig tas­tend, exper­i­men­tierend und aus­pro­bierend (und damit die Grund­lage für die spätere Sym­phonik des 19. Jahrhun­derts wesentlich bee­in­flusst):

Die großen Instru­men­tal­w­erke aus Schu­berts Spätzeit stellen — als einzige ihrer Epoche — plan­voll angelegte Alter­na­tiv­en zu Beethovens Konzept instru­men­tal­musikalis­ch­er Zusam­men­hang­bil­dung dar; sie ver­danken sich aus­nahm­s­los ein­er reflek­tierten Phase des Kom­ponierens “neben”, nicht “nach” Beethoven und sind von späteren Kom­pon­is­ten, die das zu erken­nen ver­mocht­en, bei ihrer eige­nen pro­duk­tiv­en Beethoven-Rezep­tion dankbar als Mod­el­lkonzep­tio­nen von nicht gerin­ger­er Bedeu­tung angenom­men wor­den. (51)

Eben­falls große Bedeu­tung legt Hin­rich­sen auf das ja unge­heuer reich­haltige musik­the­atralis­che Schaf­fen, das heute zwar nicht mehr ganz vergessen ist, aber doch sehr an den Rand gedrängt und nur mar­gin­al wahrgenom­men wird. Er zeigt, wie Schu­bert ver­sucht, in die speziellen Kreise der Wiener Oper einzu­drin­gen — dabei geht es ja nicht nur um “das Werk”, son­dern um Beziehun­gen (zu den Inten­dan­ten, Sängern, Förderen und so weit­er) — und Hin­rich­sen weist darauf hin, dass Schu­bert da ziem­lich weit vor­dringt: mit Hil­fe sein­er Fre­unde. Und erst in dem Moment, in dem diese Unter­stützung aus anderen Grün­den wegfällt, zer­schla­gen sich auch seine Chan­cen, an der Oper wirk­lich zu reüssieren. Was bei Hin­rich­sen dann ins­ge­samt lei­der doch etwas kurz kommt, sind die Lieder — da set­zt er eine gewisse Ken­nt­nis viel mehr voraus als bei den anderen Gat­tun­gen, die Schu­bert bear­beit­et hat.

Aber es bleibt auf diesem knap­pen Raum eine beein­druck­end detail­lierte, tiefge­hende Analyse und ver­ständliche, konzise Darstel­lung — so wün­scht man/ich sich das!

Hans-Joachim Hin­rich­sen: Franz Schu­bert. München: Beck 2011. 128 Seit­en. 8,95 Euro ISBN 978–3‑406–62135‑2.